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Landauer und die Revolution
From http://ourworld.compuserve.com/homepages/Rudolf_Hart/landauer.htm
Es hat in Deutschland in der Zeit seiner größten Gottferne einen Mann gegeben, der wie kein andrer Mensch dieses Landes und dieser Stunde zur Umkehr aufrief. Um einer kommenden Menschheit willen, die seine Seele schaute und begehrte, stritt er gegen die Unmenschheit, in der er leben mußte. Aber sein echtes Kämpfertum verschmähte den Scheinkampf der Politik. Er schloß sich keiner der Parteien an, die gegen das Bestehende anrannten, um sich des Bestehenden zu bemächtigen. Das Parteiwesen, das mit seinem fiktiven Zusammenschluß das natürliche Zueinanderkommen und Miteinanderwirken, die natürlichen Verbände der Menschen verdrängt, erschien ihm als des verrotteten Staatswesens verrottetster Teil. Staatsbürokratie und Parteibürokratie, Regierungsdemagogie und Parlamentsdemagogie gehörten vor seinen Augen zusammen. Den Staat erkannte er als ein Gebilde des Zwangs und der Gewalt, an dessen Erhaltung alle Parteien interessiert waren, auch die ihn zu bekämpfen vorgaben; auch die Partei, die sich die sozialistische nannte und die in Wahrheit nur aus den Proletariern des kapitalistischen Betriebs Staatsproletarier, aus allen Menschen Wirtschaftsbeamte des Staates machen wollte. Gustav Landauer verwarf diesen Staat, weil er nach einem wahren Gemeinwesen, nach einem Bund wahrer Gemeinden, Verlangen trug; er verwarf diesen zentralistischen, mechanistischen Scheinsozialismus, weil er einen föderalistischen, organischen Gemeinschaftssozialismus in seiner Sehnsucht trug. So mußte er in einer Gesellschaft, in der alles öffentliche Leben zur Politik verengert und aller umgestaltende Wille zur Parteiung erstarrt war, ohne Verbündete bleiben. Und er hatte es schwer, für seine Wahrheit zu werben. So mächtig und feuerbeseelt seine Rede war, sie erschütterte immer nur einzelne: die wenigen, die innerlich offen und bereit waren. Forderte er doch ein Unerhörtes: daß man sich nicht damit begnüge, eine Idee anzuerkennen und sich zu ihr zu bekennen, sondern daß man mit ihr Ernst mache und sie zu verwirklichen beginne; daß Sozialismus nicht eine Sache von dann und dort, sondern von jetzt und hier sein Solch einer Forderung standen Proletarier und Intellektuelle gleich stumpf und unzugänglich gegenüber: die Proletarier, weil sie in der Lehre aufgewachsen waren, der Sozialismus sei der unausweichliche Endzustand einer unabänderlichen, wissenschaftlich zu errechnenden Entwicklung, und weil diese Lehre in ihnen den unbefangenen Wagemut, das Urprinzip alles verwirklichenden Beginnens, erstickt hatte; die Intellektuellen, weil sie dem gesellschaftlichen Geschehen und den elementaren Beziehungen zwischen den Menschen entweder völlig entfremdet waren oder sie mit politischen Schlagworten meistern zu können vermeinten. In diese Wüste der stumpfen und unzulänglichen Seelen rief Gustav Landauer sein Metanoeite.
Er sagte dieser Welt des Ungeistes, in der wir leben, dieser haltlosen, mittelpunktlosen Welt der kapitalistischen Zivilisation den Untergang an. Aber nicht einen, hinter dem ablösungsbereit eine inzwischen fertiggewordene sozialistische Welt wartet. Er wußte, daß hinter dem Kapitalismus nichts anderes wartet als seine eigene Fäulnis und Verdammnis. An dieser Fäulnis und Verdammnis muß, das wußte Landauer, die abendländische Kultur, muß das, was einstmals abendländische Kultur war und heute ohne deren Geist, aber mit deren Angesicht und Gebärde fortlebt, zugrunde gehen. Wenn in früheren Epochen der Geschichte der Tod über die Kultur eines Volkes oder einer Völkergruppe kam, erschien er in der Gestalt ausgeruhter Völker, die in die Zersetzung einbrachen, und die wandernde Wolke entlud sich erst in zerschmetterndem Blitz, dann in befruchtendem Gewitterregen. Heute aber, das wußte und verkündete Landauer, ist die Anähnlichung der Völker in Zivilisation und Dekadenz so weit gediehen, daß solche Hoffnung uns nicht mehr zusteht. Es muß, wenn dieses Ende nicht das der Erdmenschheit sein, wenn sich diesem Untergang ein Aufgang gesellen soll, ein Urneues geschehen, eine neue Art der Erneuerung, »eine Erneuerung, wie sie in der uns bekannten Menschenwelt noch nicht war«. Die Rettung kann in dieser entscheidenden Weltstunde nirgendwo anders mehr herkommen als aus uns selber, aus unserm innersten Entschluß und unserer innersten Verwandlung. Von keinem Außen mehr winkt uns das Heil, nur noch aus der eigenen Wiedergeburt, der Wiedergeburt der Völker aus dem Geist der Gemeinde. Wird sie sich vollziehen? Wir wissen es nicht, antwortet Landauer, wir können es nicht wissen »wir wissen es nicht und wissen darum, daß der Versuch unsre Aufgabe ist«. »Wir haben nichts vor uns und alles nur in uns.« So müssen wir beginnen, müssen wahre Gemeinschaft stiften, Gemeinschaft aus Gemeinden, neuen Bund, ein neues Volk. »Sozialismus ist Umkehr und Neubeginn.« Wo immer sich eine echte, lebendige Gemeinschaftszelle bildet, ist sie ein Anfang des neuen Lebens.
So lehrte Gustav Landauer, so rief er auf. Und langsam, mit jener herben, bedeutungsvollen Langsamkeit, wie sie im Gegensatz zu den Parteien und Organisationen den echten Bewegungen des Geistes eigen ist, sammelten sich Menschen um ihn. Richtige und unrichtige Menschen, verstehende und mißverstehende, zum vollkommenen Opfer bereite und Mitläufer; immerhin, der wachsende Kern einer Gemeinschaft. Der »Sozialistische Bund« entstand, ein Geringes erst, aber doch eine Stätte, wo wie nirgendwo anders im deutschen Land der Klassenunfug im Feuer des Miteinander schmolz und ein einiges Menschtum geschmiedet wurde. Die Zeitschrift »Der Sozialist« entstand, von Mitgliedern des Bundes verfaßt, gedruckt und verlegt, die sechs Jahre hindurch, von 1909 bis 1914, das charaktervollste, also das beste Blatt Deutschlands war. All dies in Stille und Echtheit, jenseits der Politik, jenseits der Parteien, jenseits des Kapitals, jenseits des Getriebes, in wahrhaft aufbauender Arbeit. Ein Anfang war da.
Da kam der Krieg.
Landauer hatte von 1909 an diesen Krieg vorhergesagt. Er hatte gezeigt, daß der Gewaltstaat nach außen hin nichts anderes sein kann als »eine Kampforganisation zur Behauptung und Eroberung gegen die anderen Staaten«. Er hatte gezeigt, daß das aus diesem Wesen des Staates hervorgegangene System des bewaffneten Friedens zum Krieg der großen Staaten gegeneinander führen muß; er hatte in zwanzig denkwürdigen Aufsätzen und Flugschriften die nahende Katastrophe beschrieben. Er hatte unablässig gewarnt und gemahnt; aber nicht zur Erhaltung des Friedens gemahnt: er wußte, daß es zwischen den Staaten keinen Frieden geben kann; nicht zu internationalen Vereinbarungen: er wußte, daß sie nur durch Phrasen und Gesten die öffentliche Lüge verdecken können; er mahnte zu dem einzig wahren Kampf gegen den Krieg, zum Kampf gegen den Staat; er mahnte zu einem Generalstreik der Arbeiter, der aber nicht ein Nein, sondern den Anfang eines neuen Ja bedeuten würde. Aber sein Wort hatte die in der Parteidogmatik und Parteitaktik befangenen Massen nicht ergriffen. Was er angesagt hatte, traf ein. Und damit fiel zusammen, was er in Jahren stiller Arbeit aufgerichtet hatte. Denn unter der Militärdespotie konnte es keine wahrhaft sozialistische Sache mehr geben, keinen sozialistischen Bund, keine sozialistische Schrift, keine sozialistische Rede.
Im Anfang des Krieges, ehe Landauer seiner Sache verstummte, sprach er noch als erster das wesenhafte Wort, das in späteren Jahren viele nachgesprochen haben, das damals aber unempfangen und unerwidert blieb: »Keiner ist schuldig, alle sind schuldig. Alle - auch wir sind schuldig.« Fortan trug er durch die Jahre des Krieges in schweigsamem Herzen »das unstillbare Verlangen nach der Stunde, wo dieser Riese, der Krieg der andern, rasselnd zu Boden bricht und, nach einem Augenblick zauberhafter Verwandlung und Erneuerung, aufsteht als mein Krieg um die Durchsetzung und den Umschwung«. Diesem Augenblick entgegenharrend, schwieg er fortan von seiner Sache. Er redete nur noch von Dingen der gedanklichen und künstlerischen Schaffung. Und doch, wovon immer er sprach, er sprach in Wahrheit nur von seiner Sache. Wenn er den Lear deutete, schilderte er den Zusammenbruch einer Scheinwelt der Macht und Willkür, und wenn er Hamlet deutete, »den geistigen Menschen der neuen Tat, der in dieser unsrer Welt der Vereinsamte, der Aufrührer, der Höhnische und der Dichter ist, der Worte ballen muß, weil man ihn nicht Menschengesellschaften zu formen gönnt«. Seiner Ausgabe von Briefen aus der französischen Revolution schickte er im Juni 1918 den Wunsch voraus, »die intime Kenntnis des Geistes und der Tragik der Revolution möchte uns in den ernsten Zeiten, die vor uns stehen, eine Hilfe sein«.
Und wieder traf es ein: der Augenblick, dem er entgegengeharrt hatte, kam. Der Krieg endete, wie er enden mußte, und in dem besiegten Deutschland brach die Revolution aus, oder ein Etwas, das sich Revolution nannte. Um Gustav Landauers Stellung in dieser deutschen Revolution recht zu erfassen, muß man zuvor erfassen, welche Stellung die Revolution in seinem Weltbild einnahm.
Es gibt nach Landauers Einsicht, wenn man unter Revolution einen gewaltsamen Umsturz versteht, ausschließlich politische Revolutionen; denn eine sozialistische Umgestaltung ist etwas völlig anderes: »ein friedlicher Aufbau, ein Organisieren aus neuem Geiste und zu neuem Geist«. Wohl kann diese Umgestaltung »ohne vielerlei politische Revolutionen nicht lebendig werden und bleiben«, aber nur, weil die Revolution den Boden erschüttert und auflockert, aus dem das Neue wachsen soll. Die Kraft der Revolution liegt in der Rebellion und Negation, sie ist ihrem Wesen nach »ein Aufschwung und ein Traumdasein und ein Taumel«, ihrem Wesen nach ein Provisorium, unfähig sozialistische Probleme mit ihren eigenen, politischen Mitteln zu lösen; und »ihre Auskunftsmittel, damit die Gemeinschaft von Tag zu Tag weiter existiert«, sind »kümmerlicher, alltäglichhergebrachter und gemeiner Natur«. »Wenn eine Revolution aber gar«, so fährt Landauer, von der französischen sprechend, fort, »in die fürchterliche Lage kommt wie diese, daß ringsum Feinde sind, innen und außen, dann müssen die noch lebendigen Kräfte der Negation und Destruktion sich nach innen, gegen sich selbst schlagen.« So geschah es (das schrieb Landauer zehn Jahre später über die gleiche Revolution aus der gleichen Erkenntnis), »daß die innigsten Vertreter der Revolution in ihren reinen Stunden, gleichviel in welches Lager sie schließlich von den tobenden Wogen geworfen wurden, glaubten und wollten, sie solle die Menschheit zu einer Wiedergeburt führen; daß es aber nicht dazu kam und sie zugleich sich gegenseitig daran hemmten und einander die Schuld beimaßen, weil die Revolution sich mit dem Krieg, mit der Gewalttat, mit der Befehlsorganisation und autoritären Unterdrückung, mit der Politik verband«. Solange eben Politik und nicht Gemeingeist, Machtspiel und nicht Liebeswerk, der Staat und nicht die Gemeinde, das Getümmel und nicht die Stille waltet, so lange muß sich aller Umschwung in den Ungeist verstricken. Er hebt Herrschaftsformen auf (meist nur damit sie nach einer Weile unter anderm Namen wiederkehren), aber er verwandelt die menschlichen Beziehungen nicht, und so wird er immer wieder zuletzt dem Alten und Verrotteten dienstbar. »Geben wir uns keinem Zweifel hin«, schrieb Landauer im Juli 1914, »es steht heutigentags in allen Ländern so, daß die revolutionären Erregungen schließlich, wenn es zu den Ergebnissen kommt, nur der nationalkapitalistischen Machterweiterung gedient haben, die Imperialismus heißt; daß die revolutionären Erregungen, auch wenn sie ursprünglich sozialistisch gefärbt waren, doch mit Leichtigkeit von irgendeinem Napoleon, Cavour oder Bismarck in den Strom der Politik geleitet werden, weil alle diese Insurrektionen tatsächlich nur Mittel politischer Revolutionen oder nationalen Krieges, aber gar nicht Mittel des sozialistischen Umschwungs sein können, weil die Sozialisten sich in Wahrheit als Romantiker der Mittel ihrer Feinde bedienen, und Mittel zur Verwirklichung des neuen Volkes und der neuen Menschheit nicht üben und nicht kennen. So erleben wir es immer wieder, daß sie einer großen Volksbewegung die Stoßkraft geben, daß sie wie im roten Rausch sich halb von der Woge tragen lassen, halb die Woge lenken, - und daß, wenn es zum Ergebnis kommt, der graue Katzenjammer da ist: nationalistischer Kapitalismus ist mächtiger geworden oder hat sein Gebiet erweitert; von Sozialismus ist weit und breit keine Spur zu sehen.« Wohl schließt jede echte Revolution eine Regeneration ein, »und ohne diese vorübergehende Regeneration könnten wir nicht weiterleben und müßten versinken«; aber neuer Gestaltung wird sie erst dann den Boden freimachen, wenn »die Institutionen bereitet sein werden, in denen der Bund der wirtschaftenden Gesellschaften leben kann, der dazu bestimmt ist, den Geist auszulösen, der hinter dem Staate gefangen sitzt«. Und weil sie noch nicht bereitet sind, rief Landauer wieder und wieder den Völkern zu: »Käme heute euch Völkern allesamt der große Moment der Revolution auf einmal, wo wolltet ihr Hand anlegen? ... Und gar, wenn die Revolution in einem einzelnen Land ausbräche? Was könnte sie nutzen? wohin könnte sie zielen?«
So ganz erfüllt von der Tragik aller bisherigen Revolutionen - von der Tragik, die darin begründet ist, daß es noch nirgends einen Sozialismus als Wirklichkeit gibt - war Gustav Landauer, als die Reihe von Revolten ausbrach, die man die deutsche Revolution genannt hat. So war denn das Gefühl, mit dem er in sie eintrat, dem der geläufigen Hoffnung durchaus unähnlich; es war nicht Hoffnung, sondern ingrimmige Entschlossenheit, in dieser Krisis zu tun, was ihm, nicht als einem geistigen Führer und Bahnbrecher, sondern als einem aus der kleinen Schar der rechtschaffenen deutschen Revolutionäre, zu tun oblag: am Segen der Revolution zu wirken, was er wirken konnte, vom Fluch der Revolution zu verhüten, was er verhüten konnten Es war nicht seine Schuld, daß der Fluch, wie er vorausgesagt hatte, auch diesmal, und diesmal erst recht, den Segen erdrückt hat.
Man hat behauptet, es hätte für Landauer in München gegolten, »sein Leben durch die Tat zu rechtfertigen, den Beweis zu erbringen, daß er mit dem, was ihn jahrzehntelang erfüllt hatte, auf dem rechten Wege war, kurz gesagt: die Probe aufs Exempel zu machen«. Unter all dem ungeheuerlich Falschen, das über Gustav Landauer nach seinem Tode verbreitet wurde, ist diese Behauptung mit das Falscheste. Das Leben eines reinen, schöpferischen Menschen bedarf keiner »Rechtfertigung«, und gar Landauers Leben, in dem Jahre stiller, getreuer, aufbauender Tat sich an Jahre reihten. Wer unter den heutigen Literaten, die richtende Worte im Munde führen, dürfte sich vermessen, vor solcher Tat zu bestehen ? Den Beweis aber, daß Landauer auf dem rechten Wege war, konnte - das habe ich mit seinen Worten gezeigt keine Revolution erbringen. Nein, diese Revolution war nicht seine Sache und konnte sie nicht werden; noch kurz vor dem Tode Kurt Eisners sagte mir Landauer, er sehe den Tag seiner Sache noch fern. Nein, es galt für Landauer nicht, die Probe aufs Exempel zu machen; es galt ihm, sich einzustellen, sich in Reih und Glied zu stellen, die Pflicht des Augenblicks, die Pflicht der Solidarität zu erfüllen, kurz gesagt: sich zum Opfer zu bringen. Als ein sich zu opfern Entschlossener trat Landauer in die deutsche Revolution ein. Er wußte, was er damit, wenn es aufs letzte kam, zum Opfer brachte: mehr als sein Leben - seine Sache, insofern sie auf seine Person gestellt war.
Ob er damit recht getan hat, ist nach höheren Maßen zu entscheiden, als die die Zeitungsrichter anwenden. Ich habe zu bekennen, daß ich meine, er habe damit unrecht getan. Meiner Einsicht nach gab es am 7. November für Gustav Landauer eine höhere Pflicht und eine größere Verantwortung: eben die seiner Sache und damit der Sache der wahren Umgestaltung gegenüber. Denn was der revolutionierten Menge fehlte, wessen Fehlen sie zerriß und richtungslos machte, das war ein Bild, ein ganzes, echtes, zulängliches Bild, das verwirklicht werden sollte und konnte: ein Bild von Einrichtungen, von Beziehungen, von Zuständen, das Bild einer neuen Gesellschaft; ein nicht willkürliches, nicht aus dem Intellekt konstruiertes, sondern rechtmäßiges, aus der Anschauung der geschichtlichen Zusammenhänge und der in der Tiefe des natürlichen Volkslebens erhaltenen Gemeinschaftskeime gewordenes Bild. In Rußland mit seiner Folge revolutionärer Geschlechter und der unmittelbaren Überlieferung ihres Werkes, konnte in Ermanglung eines solchen Bildes doch zumindest das Marxsche System mit echten Farben übermalt werden. In Deutschland, das ohne revolutionäre Tradition und ohne revolutionäres Leben war, blieb es ein bildloses Schema. Landauer hatte Bruchstücke eines Bildes geschaffen ; jetzt war es an ihm, sie zur Einheit zu ergänzen. Er wußte es, er dachte daran, er arbeitete daran, er hat es während der Revolution angekündigt. Aber er beschloß nicht am 7. November, sich abzusondern und auf sein Werk zu sammeln, oder auch, wenn er es sogleich vermochte, sein Wort zu sprechen und den neuen vervielfachten Widerhall zu erwarten, oder auch die wahren Sozialisten zu vereinigen und aus ihnen nunmehr wahrhaft den Kern der neuen Gemeinschaft aufzubauen; sondern er beschloß, sich in die Bresche zu werfen, die eines Menschenleibes zur Ausfüllung bedurfte. Stärker als die Verantwortung vor der Zukunft, bedrängte ihn die furchtbare Not und Problematik des Augenblicks; er erlag ihr. Ich glaube, daß er gefehlt hat; aber ich glaube auch, daß kein Mensch je aus reinerem Grunde gefehlt hat.
Was er in der Revolution wollte, war - ich habe es gesagt beides: wirken und verhüten; aber weit mehr verhüten als wirken. Seiner Anschauung von der Revolution gemäß dachte er nicht daran, seine positiven Ideen in diesem ihrem Stadium zur Geltung zu bringen. Ja, er hat sie Kurt Eisner, seinem Freund, erst kurz vor dessem Tode eingehend dargelegt. Er arbeitete vor allem daran, den Gefahren der Revolution, die er wie kein anderer klar erkannte, die Gegenkräfte des Geistes und der sittlichen Autorität entgegenzuwerfen. Zwei Grundgefahren waren es, die er erkannte: die der Versumpfung im Parteigetriebe und die der Selbstvernichtung in der Gewalttat und Gewaltgebärde. Die erste galt es zu bekämpfen in dem ersten, längeren Abschnitt der Revolution, von dem Augenblick an, da Landauer, wenige Tage nach ihrem Ausbruch, unmittelbar vom Krankenlager nach München kam und sich Eisner zur Verfügung stellte, bis zu dessen Tode; die zweite in dem letzten, kürzeren Abschnitt, der die wenigen Tage seiner Teilnahme an einer Regierungsverantwortung einschloß.
Die erste dieser zwei Gefahren hat Landauer am 18n Dezember in einer Rede im provisorischen Nationalrat des Volksstaates Bayern mit den Worten gekennzeichnet: »Es kam das Schauspiel, daß die, die maßlos überrascht worden waren, die auch erschreckt waren, auf einmal sich wieder erholten, und sich sagten, nicht bloß sagten, sondern sofort in die Welt schrien: Es ist noch nichts geschehen.« Und weitern: »Das Schmachvollste an all dem, was jetzt so schnell, so fingerfertig, so mundfertig vor sich gegangen ist, ist gerade das, daß die alten Parteien, die toten Parteien sich eingerichtet haben in dem, was die Revolution ihnen als Raum, als Sprungbrett zur Verfügung gestellt hat, und daß sie glauben, da können sie nun auch ganz gut wirtschaften.«
Diese Gefahr, die seither der Revolution obgesiegt hat, schien es zeitweilig schon nach der Ermordung Kurt Eisners getan zu haben.Damals schrieb Landauer in einem Brief, die heroische Epoche sei zu Ende. Aber er wußte, daß die Revolution noch nicht zu Ende war.Wenige Tage danach schrieb er: »Es gilt, all die Gefahren der Revolution zu sehen und doch weiterzugehen: solange die Revolution lebendig ist.« Die Schwermut seiner Worte gibt die Seelenverfassung kund, in der Landauer sich bald danach zum zweiten Male opferte, indem er, an ihrer Zukunft fast völlig verzweifelnd, doch noch mit endgültiger Einsetzung seiner Person den Versuch machte, sie zu retten, sie vor allem vor ihr selbst, vor der Selbstvernichtung in der Gewalttat und Gewaltgebärde zu retten; er trat in die erste Räteregierung ein.
Der Eintritt Landauers in die Revolution war mir als eine Verfehlung gegen seine Aufgabe erschienen. Sein Eintritt in diese Regierung war gewiß eine Verfehlung gegen die Vernunft. Er verbündete sich mit Menschen, von denen er in früheren Tagen, in der Zeit der unberührbaren Überlegenheit seines Geistes auf den ersten Blick erkannt hätte, daß in einem Zusammenarbeiten mit ihnen kein Werk, und gar dieses allerschwerste, schier aussichtslose, geraten konnte. Aber die Qual um den Zerfall der Revolution hatte offenbar Landauers Überlegenheit versehrt. Die Tage, die nun folgten, waren - darüber liegen untrügliche Äußerungen vor - die schwersten in Landauers vielfältig schwerem Leben. Rings um ihn war Zersetzung und Auflösung, Widerspruch und Widersinn: in den Massen, unter den Führern, in seiner nächsten Umgebung; er trug das Haupt hoch durch das Chaos und tat das Seine. Über diese Tage Landauers ist von sogenannten Berichterstattern eine Flut der öffentlichen Lüge ausgegossen worden, daß uns, die wir infolge der bisherigen Leistungen der Presse während dieser deutschen Revolution nicht mehr erstaunen zu können meinten, der Schauder überkam. Ich glaube nicht an dieser Stelle die Niedertracht widerlegen zu müssen. Die wahre Geschichte dieser Tage wird noch geschrieben werden. Landauer tat, ich wiederhole es, inmitten der allgemeinen Auflösung das Seine; und das war vor allem, sowohl während er an der Regierung teilnahm, als auch danach bis ans Ende, der Kampf gegen die Gewalttat und Gewaltgebärde.
In diesem Kampf war sich Gustav Landauer, seit er selbständig zu denken begann, treu geblieben. 1901 hatte er geschrieben: »Ein Ziel läßt sich nur erreichen, wenn das Mittel schon in der Farbe dieses Zieles gefärbt ist. Nie kommt man durch Gewalt zur Gewaltlosigkeit.« 1914: »Jetzt kann es vielen klar werden, daß Freiheit und Frieden den Völkern nur kommen, wenn sie, wie Jesus und seine Nachfolger, in unserer Zeit vor allen Tolstoi, es raten, völlige Enthaltsamkeit von jeglicher Gewalt erwählen. Gewalt führt nur immer zu Gewalt.« Dieser Wahrheit diente er bis auf den Tod. Ich werde bis an meinen eigenen die Nacht nicht vergessen, in der ich, wenige Tage vor der Ermordung Eisners, unter der leidenschaftlichen Zustimmung Landauers einigen der Kommunisten, die später seine Nachfolger wurden, die zersetzende Rückwirkung der terroristischen Methode auf die mit ihrer Hilfe durchzusetzende Idee darzulegen versuchte. Wenn ich an jene leidenschaftlichen Blicke und Worte meines toten Freundes denke, weiß ich, mit welcher Seelengewalt er, als es galt, die Revolution vor sich selbst zu schützen, gegen die Gewalt gestritten hat.
Die zwei Mächte, denen der Kampf seines Lebens gegolten hatte, der Staat und die Partei, taten sich zusammen, das letzte irre Flackern der Revolution niederzutreten. Es ist ihnen, wie es nicht anders gehen konnte, geglückt. Ihr Sieg brachte es, wie es bei solchen Siegen zu gehen pflegt, mit sich, daß Gustav Landauer getötet wurde. Er starb aufrecht, wie er gelebt hatte.
Gustav Landauer war ein deutscher Jude. Er war, wie nur wenige und umfassende Menschen, wahrhaft Deutscher und wahrhaft Jude. So durfte er einmal von sich sagen: »Mein Deutschtum und mein Judentum tun einander nichts zuleid und vieles zulieb.«
Man hat nach seinem Tode, wie so vieles an ihm, so auch sein Deutschtum und sein Judentum fragwürdig zu machen gesucht.
Wie er zum Deutschtum stand, bekundet ein Brief, den er am In Oktober 1918 schrieb. Er weist darin auf die Legende hin, Karl der Große habe vom griechischen Kaiser die Dornenkrone zum Geschenk erhalten, und als der Behälter, der sie umschloß, geöffnet wurde, habe sie ein Tau vom Himmel befeuchtet, und sie habe Blüten getragen, von denen ein Duft ausging wie vom Paradiesen »Möge«, schrieb Landauer, »die Dornenkrone, die unser Reich sich nun verdient hat, uns und der Menschheit auch himmlische Blüten tragen.«
Wie er zum Judentum stand, bekunde ich nach vielen Reden und Gesprächen. Er kannte das Siechtum seines Stammes und begehrte für ihn nach der Heilung. Er fühlte in sich den urjüdischen Geist, der zur Verwirklichung drängt, leibhaft gegenwärtig; er fühlte sich seinen Ahnen, den jüdischen Propheten und den jüdischen Blutzeugen, verbunden.
Gustav Landauer hat als ein Prophet der kommenden Menschengemeinschaft gelebt und ist als ihr Blutzeuge gefallen.
Er ist den Weg gegangen, von dem das Wort des Maximus Tyrius, das Landauer vor sein Buch »Die Revolution« gesetzt hat, sagt: »Hier siehst du nun den Passionsweg, den du Untergang nennst, der du nach dem Wege derer urteilst, die schon auf ihm fortgegangen sind, ich aber Rettung, da ich nach der Folge derer urteile, die da kommen werden.«
In einer Kirche zu Brescia sah ich ein Wandbild, dessen Fläche von Gekreuzigten bedeckt war. Das Feld der Kreuze dehnte sich bis zum Horizont, und an allen hingen Männer mannigfachen Wuchses und Angesichts. Da erschien mir, dieses sei die wahre Gestalt Jesu Christi. An einem der Kreuze sehe ich Gustav Landauer hängen.
(Martin Buber, 1919)
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1893
Manchesterfreiheit - Staatshilfe - Anarchie. Politische Unfreiheit - politische Mitarbeit - Negation des Staats
Mit diesen beiden untereinanderstehenden Reihen möchte ich andeuten, daß der politische und der wirtschaftliche Kampf des Proletariats eine Entwicklung der gleichen Richtung genommen hat. Von der Scheinfreiheit über die Unfreiheit zur wahren Freiheit - so etwa könnte man diese Entwicklung ausdrücken.
Die Manchesterfreiheit, die »Freiheit« der Bourgeoisie, ist ein seltsames Ding. Handel und Wandel, das private Leben und das Verkehrsleben, sollen frei sein, d. h. unbehindert von staatlichen Einschränkungen; der Staat, der nach dieser Lehre die Aufgabe hat, für » Ruhe und Ordnung« zu sorgen, aber sonst für nichts, soll sich in die Produktion und in den Vertrieb der Waren nicht mischen. Was ergab sich daraus ? Die Lebensmittel wurden bei vollständigem Freihandel durch keinerlei Zölle belastet und das war das volkstümliche und bestechende an dieser Lehren Aber noch mehr. Der Staat, gegen den sich die Männer von Manchester wandten, war nicht ihre eigene Organisation, sondern war zum mindesten sehr stark durchsetzt von feudalen und absolutistischen Gewalten. Die bürgerliche Theorie bedeutete also eine Schwächung des despotischen Regimentes, eine Schwächung des Staates überhaupt.
Nun aber die ungeheure Schattenseite. Der Staat mischt sich nicht ein in Handel und Wandel (in jener Blütezeit der Bourgeoisie gab es auch keine Wuchergesetze), wohl aber sorgt er für »Ruhe und Ordnung«. Was bedeutet das ? Nichts anderes, als daß die Bürgerlichkeit in der Lage ist, ihre wirtschaftliche Macht schrankenlos auszugestalten und die Ausbeutung in einer durch nichts behinderten Schamlosigkeit zu betreiben. »Wie«, könnte da ein freier Mann von heute oder morgen einwenden, »wenn nach dieser Lehre der Staat sich in nichts einzumischen hat, warum lassen sich die Geknechteten und Gequälten die Ausbeutung gefallen? Warum schütteln sie das Joch nicht ab, das auf ihnen lastet? Warum lassen sie sich ihr Eigentum, das was sie selbst erarbeitet haben, von Prassern und Nichtstuern rauben ? Warum geben sie sich in den Sklavendienst der Fabrikherrn, des Landbesitzers, des Geld- und Häuserbesitzers?« Wer also voll Zorn solche Einwendungen macht, hat eine Kleinigkeit vergessen. Das Bürgertum negiert den Staat nicht, es schränkt ihn nur ein, da wo er ihm lästig fällt. Aber eine Aufgabe hat der Staat, er sorgt für »Ruhe und Ordnung«, d. h. vor allem er schützt das Privateigentum und die auf ihm beruhende Menschenaussaugung durch Gesetz, Gericht, Gefängnis, Militär, Kirche, Schule.
So verzweifelt lagen die Dinge, als die Lage des Proletariats immer unhaltbarer wurde, weil es in riesigem Maße anwuchs und jeder einzelne immer mehr herunterkam. Was hätte näher gelegen, als der einstimmige Ruf der unterdrückten Klasse: »Ihr habt den Staat, soweit er Euch behindert hat, zurückgedrängt; aber Ihr haltet ihn aufrecht, soweit er uns in Eurem Interesse unterdrückt. Wir stimmen ein in Euren Ruf: Freiheit! Aber nicht bloß Ausbeuterfreiheit, nein menschliche Freiheit! Der unterdrückte Mensch erhebt sich und nimmt sich das Recht, das man ihm vorenthält! Fort mit dem staatlichen Schutz Eurer Privilegien! Fort mit der Staatsknechtschaft!«
Dieser Ruf aber erklang nicht, und soweit er vereinzelt laut wurde, verhallte er ungehört, übertönt von einem vielstimmigen Geschrei, das von der entgegengesetzten Seite herüberdrang. Da hörte man: »Mehr Staat, mehr Staat! Der Staat ist alles, der Staat kann alles, der Staat soll alles! Da erklang es: Bisher hat man Euch Bourgeois die Freiheit gelassen, und man sieht, wie Ihr sie benutzt habt. Ihr habt Greise, Frauen und Kinder aufs Blut ausgebeutet. Ihr habt zu lange arbeiten lassen, Ihr habt die Arbeiter nicht geschützt gegen durch die Maschinen verursachten Unfälle, überhaupt, Ihr habt durch Eure Ausbeuterfreiheit eine Klasse von Menschen geschaffen, deren Leben kaum mehr ein Leben zu nennen ist. Ein großer Teil geht leiblich und geistig zurück, das sehen wir Männer vom Staat bei der Musterung für unsere Armee, und das kann im Staatsinteresse nicht geduldet werden. Der Arbeiter muß geschützt werden, dem Arbeiter muß geholfen werden, der Staat muß eingreifen! Eure Freiheit muß beschränkt werden!«
So wurde der Arbeiter der Pflegebefohlene des Staates, der Staat war nicht mehr bloß Nachtwächter, er war das Mädchen für alles.
Und nun, um nicht mißverstanden zu werden: Wovon rede ich? Ich rede nicht nur von Bismarck und Lothar Bucher, ich meine damit auch Lasalle und Marx. Lasalle ging von der demokratischen Fortschrittspartei weg, nicht weiter nach links, zur Negation des Staates, zur ganzen Freiheit, sondern weiter zu Bismarck, zur Stärkung des Staates; er wollte einen gesättigten Magen auf Kosten der Freiheit. Seine Produktivassoziationen mit Staatskredit waren der Anfang, und am Ende wäre der Lohnarbeiter preußisch-deutscher Beamter mit Pensionsberechtigung geworden.
Und auch Marx gehört hierher. Ich will nicht davon reden, wie ausführlich und mit welcher Sympathie er die gesetzliche Regelung der Arbeitszeit in England in seinem Kapital behandelt; ich will nur von seiner bedeutendsten Schrift, vom Kommunistischen Manifeste, sprechen. Eine persönliche Bemerkung sei mir erlaubt. Ich habe es oft gelesen, und es hat mich immer hingerissen. Nun habe ich Marx ein paar Monate beiseite liegen lassen. Und gestern nahm ich das Kommunistische Manifest zur Hand mit dem bestimmten Vorsatz, mir nicht wieder imponieren zu lassen. Ich wollte es beherrschen, kritisieren. Nun, offen gestanden, ich bin unterlegen. Es hat mir wieder imponiert, mich wieder hingerissen. Das Kommunistische Manifest ist und bleibt ein genialer Wurf, eine großartige Konstruktion. Aber ich bewundere es nur noch als Kunstwerk, als die einheitliche, mächtige Durchführung eines Gedankens, zu einer Zeit (im Jahre 1847), wo man nur im allgemeinen konstruieren, aber kein Detail übersehen konnten Ich behaupte aber, dieser Gedanke, den Marx großartig beleuchtete und meisterhaft zeichnete, dieser Gedanke war falsch. Der erste Hauptteil des Manifestes schließt folgendermaßen: An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Dieses Ziel ist das Ziel aller freien Sozialisten und Anarchisten, und es ist kaum jemals kürzer und schöner in Worte gefaßt worden. Aber der Weg? Der Weg zu dieser Herrschaftslosigkeit ist bei Marx die Herrschaft, der Weg zu dieser Staatslosigkeit ist bei Marx der Staat. Darüber heißt es im Manifest:
»Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benützen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren, um die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.«
In jener Zeit dachte man freilich noch nicht an die positive parlamentarische Mitarbeit, an die langsame Sozialreform mit dem heutigen Staat; Marx dachte an eine baldige blutige Revolution, in deren Verlauf die Vertreter des Proletariats zur diktatorischen Herrschaft gelangen sollten. Dann sollten sie in möglichster Beschleunigung von oben herunter soziale Umgestaltungen radikalster Art vornehmen, so daß diese Herrschaft bald überflüssig sein würde, in sich selbst zerginge und der ganzen Freiheit und Herrschaftslosigkeit Platz machten Das war der Grundirrtum von Marx. Wo es Herrscher gibt, gibt es auch Beherrschte; und niemals haben Herrscher freiwillig auf ihre Gewalt verzichtet, und niemals werden sie es freiwillig tun. Was in dem Gedanken von Marx verborgen liegt, ohne daß er sich dessen bewußt ist, das ist eine zweite vollkommene, ganz und gar anders gestaltete Revolution, die nicht an die Stelle einer alten eine neue Herrschaft setzt, sondern die Herrschaft ausrottet und die ganze Freiheit ermöglicht.
Meine Ansicht ist aber die: Zwischenstufen sind vielleicht in Wirklichkeit nötig, weil das oder jenes in unvollkommener Weise ausgeführt wurde, aber sie sind nie am Platze in der Idee. Hat der Mensch ein Ziel, so geht er auf dieses Ziellos; und will ich die Herrschaftslosigkeit, die Freiheit von jedem menschlichen Drucke, so tue ich alles, um dieses Ziel mit einem Schlage zu erreichen. Ich mache mich vertraut mit der leidigen Möglichkeit, daß durch irgendwelche widrigen Umstände das Ziel nicht sofort in seiner ganzen Vollkommenheit erreicht wird; aber ich bescheide mich nicht schon vorher, etwas zu wollen, was ich nicht will. Der Mensch kann in einer Richtung nur eines wollen, nicht teils dieses, teils aber jenes. Will ich die Herrschaftslosigkeit, so kann ich nicht nach der Herrschaft streben. Ich strebe vielmehr danach, alle unterdrückenden Gewalten zu vernichten, und das Reich der ganzen Freiheit einzelner Menschen zu begründen. Habe ich dieses Ziel, so muß ich in der Gegenwart alles tun und vorbereiten, um dieses Ziel zu erreichen.
Marx will im Manifest die Herrschaft des Proletariats mit einem Schlage etablieren, seine Nachfolger, die marxistischen Sozialdemokraten, nehmen teil an den heute bestehenden staatlichen Gewalten. Ist dieser Unterschied so groß, daß wir, wenn wir's recht bedenken und den späteren Marx ins Auge fassen, das Recht haben, Marx gegen die heutige Sozialdemokratie auszuspielen? Ich denke, nein.
Und in diesem Zusammenhang komme ich nun auf die zweite Reihe der Überschrift: Politische Unfreiheit - politische Mitarbeit - Negation des Staates.
Zur Zeit, wo Marx das Manifest schrieb, ebenso wie teilweise heute noch in Österreich und Belgien, waren die Proletarier nicht im Besitz der politischen Rechte. Diese ungeheuer grell ins Auge stechende Ungerechtigkeit stachelt, wie die Dinge nun einmal liegen, durch die jahrhundertealte Tradition, daß die Revolutionen nur die Formen, aber nie die Sache berühren, ungeheuer zur Auflehnung und Empörung an. Wir haben jüngst erst in Belgien ein verpfuschtes Beispiel dafür erlebt. Nach Marx' Sinne nun hätte eine solche Revolution zur Herrschaft des Proletariats führen sollen.
Die Dinge sind aber allenthalben anders gekommen. Die politische Unfreiheit ist benommen worden, ohne daß sich die wirtschaftliche Lage der Arbeiterklasse im mindesten geändert hätte. Was hat das Proletariat, das Jahre und Jahrzehnte lang voll Zorn und leidenschaftlicher Glut für die Gleichberechtigung im Staatsleben gekämpft hatte? Man hatte ihm die politische Mitwirkung eingeräumt - kein Wunder, es wirkte mit. Aus der Herrschaft des Proletariats nach Marx ist eine Beteiligung an der heutigen Staatsherrschaft geworden, kraft deren das Proletariat hofft, allmählich und friedlich zur vollen Herrschaft zu gelangen. Was Marx 1847 nur in den Umrissen und unbestimmt gezeichnet hat, wird jetzt von der Sozialdemokratie bis in alle Einzelheiten ausgeführt. Ein prinzipieller Gegensatz aber besteht keineswegs. Aber durch diese ausführliche Detailmalerei hat sich nun auch unwiderleglich gezeigt, daß das Streben des Proletariats nach Herrschaft unmöglich die Freiheit bringen kann. Denn die Beteiligung am Staatsleben hat sich unlöslich verquickt mit der Staatshilfe auf sozialem Gebiet. Der Staat ist für die Sozialdemokratie der Schützer des Proletariats gegen die Manchesterfreiheit der Bourgeoisie geworden.
»Staatszwang gegen Ausbeuterfreiheit« - das ist die Parole der sozialdemokratischen Partei geworden.
Unsere Parole aber ist: Ganze Freiheit gegen halbe; menschliche Freiheit gegen bürgerliche. Der Staat hat sich nicht um Handel und Wandel zu kümmern, aber er hat auch nicht für »Ruhe und Ordnung« zu sorgen, was nichts anderes heißt, als daß er das Privateigentum und die Ausbeuterprivilegien mit bewaffneter Hand beschützt.
Der Staat, er falle! Ob er Monarchie,
Ob Republik, ob sozial sich nenne.
Denn nie ist es geschehn, nie sag ich, nie,
Daß je im Staat der Freiheit Fackel brenne!
Der Staat ist Zwang. Er kennt nur Herrn und Knechte.
Wir aber wollen keins von beiden sein.
Wir wollen unsere heiligen Menschenrechte,
Um sie zu deuteln, keinem zweiten leihn!
(Mackay)
Die Anarchie ist unser Ziel, die Staats- und Herrschaftslosigkeit, das Ende der Ausbeutung auf jedem Gebiet, auf dem wirtschaftlichen, dem geistigen und dem politischen, und alles müssen wir tun, damit nicht auf der Stätte der heutigen Gewalten neue Herrschaft sich breit mache. Eure bedrückende, haltende und beschattende Hand weg von der freien Erde, Ihr Herren, Sklaventreiber und Herrschaftslüsterne! Frei sei der Mensch auf freier Erde!
Befreien wir die Erde und das Menschengeschlecht. Schließe sich jeder seiner gewerkschaftlichen Organisation an und kämpfe in ihnen gegen seine speziellen Ausbeuter. Der Tag der Befreiung kommt so rascher und sichrer. Jeder Arbeiter und jeder freie und selbständige Mensch unser Freund; jeder Ausbeuter und jeder Staatsgehilfe und Herrenknecht unser Feind. Jedes Werk freier Wissenschaft und freier Kunst unser Bundesgenosse, jedes Pfaffengeschmier und Staatsgeschnatter ein Greuel unseren Sinnen. Jede kühne Tat, jedes freie Erleben steht uns nah, alles Bücken und Ducken, alles Fügen und Eindämmen ist uns gemein.
Agitieren wir, rütteln wir auf! Künden wir allen Menschen ihren Menschenwert! Kein Sklave so klein, daß er nicht groß genug werden könnte. Kein Herr so groß, daß wir ihn nicht klein kriegen könnten.
Alles für unser Ziel, Gut und Blut, Leib und Leben. Ein Ende der Knechtschaft, es lebe die Freiheit!
1893
Etwas über Moral
Was ist Moral?
Moral ist die Summe der menschlichen Pflichten.
Und was ist Pflicht?
Es gibt Pflichten gegen Gott, Pflichten gegen die Mitmenschen und Pflichten gegen sich selbst - das ist die Leier des Kinderkatechismus.
Diese Moral gründet sich aber auf das religiöse Vorurteil.
Es wird gedankenlos nach den Lehren der Vorväter angenommen, hinter der ewigen und unendlichen Welt, oder über ihr, oder in ihr wohne oder throne oder stecke ein vollkommenes Wesen, das sich selbst, oder dem der Mensch den Namen Gott beilegt. Legt er sich selbst den Namen bei, dann denkt er mit menschlichen Sprachbegriffen, ist also nicht vollkommen, weil menschlich. Hört er aber auf den von Menschen gemachten Namen und läßt sich sein Wille ausdrücken in der menschlichen Sprache, etwa in den zehn Geboten, dann ist er wiederum menschlich, also nicht vollkommen - also kein Gott.
Mit Gott also sind wir fertig und damit auch mit der Moral, die sich auf denselben zurückführt.
Nun sind seit mehr als hundert Jahren brave Menschen, die sich trotzdem Aufklärer nannten, gekommen und haben gelehrt: man braucht nicht an Gott glauben, oder wenigstens keiner bestimmten Konfession angehören und kann dennoch ein moralischer Mensch sein. Man braucht die fünf Bücher Moses nicht als göttliche Offenbarung betrachten, und kann darum doch an der Unverbrüchlichkeit der zehn Gebote festhalten.
Was ist nun in dem Munde dieser Moral? Phrase, Lüge oder Inkonsequenz.
Pflicht im absoluten Sinne, also etwas, was der Mensch unter allen Umständen tun soll, gilt nur für den, der eine absolute Macht anerkennt, die ohne Einschränkung gebieten kann. Was sollte es für eine Macht in diesem Sinne wohl geben, die nicht Gott zu benennen wäre?
Etwa der Staat? Es gibt wirklich Moralisten, die den Staat und seine Gebote an die Stelle Gottes setzen wollen. Sie glauben nicht mehr an Gott, sie glauben nicht, daß Gott vom Berge Sinai heruntergerufen hat: Du sollst nicht töten, aber sie erklären es für unmoralisch, wenn jemand sich gegen die grundlegenden Paragraphen des Strafgesetzes vergeht. Diese sind fast allesamt Lügner. Sie verdammen nämlich den gesetzlichen Diebstahl, Mord usw., das Verhältnis des Ausbeuters zum Arbeiter, den Krieg, die Prostitution keineswegs.
Andere erklären, Moral sei ein geheimnisvolles Etwas, das sich bei jedem Menschen in seinem Innern vorfinde und ihm sagt, was er tun dürfe und was nicht. Sie verlegen den Gott in die »unsterbliche Seele« des Menschen. Nur merkwürdig, daß vor der geschichtlichen Betrachtung ihre Anschauung nicht stichhaltig ist. Alles, was heute für moralisch gilt, war einmal in vergangenen Zeiten unmoralisch.
Die Aufklärer haben also unrecht, weil sie sich scheuten, einzugestehen: in der Tat, mit der Religion geben wir auch die Moral preis. Irreligiös sein, das heißt unmoralisch sein.
Seien wir also unmoralisch.
Was heißt das? Wenn man den Pfaffen glauben wollte, würde es nichts anderes bedeuten als: Tun wir das Gegenteil von dem, was die gegenwärtig herrschende Moral verlangt. Stehlen wir also, morden wir, huren wir usw.
Als ob das nicht erst recht wieder eine neue Moral wäre! Moral ist also, was anfängt: Du sollst.
Du sollst stehlen, ist in diesem Sinne ebenso moralisch zu nennen wie: Du sollst nicht stehlen.
Morallos sein heißt nichts anderes, als sich unter sein unverbrüchliches Gebot fügen. Es heißt auch nicht: Du sollst in jedem Falle anders handeln als andere Menschen. Ja, es heißt nicht einmal: Du sollst handeln, wie es dir gut dünkt. Denn ein solches moralloses Moralangebot könnte doch nur dazu führen, daß der einzelne sich von vornherein besinnt, was ihm für alle möglichen Einzelfälle gut dünkt; er wird sein freies Entschließen und Handeln damit selbst festlegen, er würde sich selbst damit eine individuelle Moral geben. Das Individuum ist aber nicht, was das Wort besagt. Individuum heißt wörtlich zu deutsch: das Ungeteilte, das Unteilbare, also das absolut Einfache.
Der Mensch ist nicht einfach, nicht beständig, keineswegs unteilbar. Der einzelne Mensch ist nur eine Summe von vielen Trieben, Willensregungen, Wahrnehmungen und Gedanken. Der Mensch sagt allerdings: »Ich« , aber das »Ich« von gestern ist nicht das von heute, und was ich morgen will, weiß, sehe, wünsche, glaube und genieße, gilt dem, der heute »ich« sagt und sich als denselben, wie morgen und gestern, empfiehlt, weiter nichts anderes. Der Mensch hat viele Gedanken, und einer davon, der am festesten gewurzelt ist, ist der »Ich«-Gedanke. Wer »ich« sagt und »ich« denkt, der spricht damit den Gedanken aus, daß all das Erleben, das in seinem Bewußtsein wohnt, im Gegensatz zu anderen Erlebnissen etwas Zusammengehöriges sei, das von einem Zentrum ausgehe.
Man muß die menschlichen Begriffe und Vorstellungen in zwei Kategorien teilen: in solche, mit denen der Mensch fertig werden kann, und in solche, mit denen er, solange er lebt, nicht fertig werden kann. Mit was für Dingen kann der Mensch fertig werden ? Nennen wir sie die Dinge zweiter Ordnung. Es sind die, die der Mensch selbst sich durch Verallgemeinerung zurechtgesponnen hat; es sind die Begriffe im engeren Sinne des Wortes. Dahin gehören: Gott, Gesetz, Staat, Recht, Ehre usw. Diese Dinge, die der Mensch selbst in sich hineingefressen hat, kann er, wenn er sie lange genug verdaut hat, auch wieder von sich geben.
Das ist nicht der Fall mit den Dingen erster Ordnung. Wenn ich einen bestimmten Eichbaum ansehe, kann ich es allerdings erreichen, daß ich ihn nicht mehr sehe: nämlich, indem ich die Augen schließe. Aber ich kann ihn nicht aus der Welt schaffen. Ich kann sagen: Gott - oder Ehre - oder Moral - das gibt es nicht; aber diesen Stuhl, der vor mir steht, oder das Tintenfaß kann ich nicht leugnen.
Die Welt ist übrigens eine außerordentlich verkehrte. Wer leugnet, daß dieser Federhalter in der Welt ist, macht sich eines Unsinns erster Ordnung schuldig; aber kein Mensch will ihm darob etwas anhaben. Aber wer leugnet, daß Gott weislich oder daß ein bestimmter Mensch von einem Heiligenschein oder von Majestät umflossen ist, der ist oft verbrannt oder sonstwie ums Leben gebracht worden.
Die menschlichen Begriffe sind schwächlich, in der Zeit vergänglich, hinfällig: darum sind sie herrschsüchtig, unterdrückungswütig, freiheitsfeindlich.
Die einfachen Dinge dagegen sind ewig, weil sie natürlich sind. Sie sind nicht in der Lage, eine menschliche Knechtschaft zu begründen. Zu diesen einfachen Dingen nun gehört auch das Ich. Es ist wie Stahl, Eichbaum, Sand und Meer durch keinerlei menschliche Begriffe und Gedanken aus der Welt zu schaffen.
Kehren wir nach dieser Abschweifung, die notwendig war, zur Moral zurück. Was setzen wir also, wir Morallosen, an die Stelle der Moral?
Wir setzen an die Stelle das Leben, das Ausleben unserer Individualität.
Wir betrachten uns als Teile der Welt, nicht mehr und nicht weniger; unserer Anlage und unseren Bedürfnissen wollen wir uns selbst und die Welt genießen.
Du sollst nicht töten?
Aber jeder Schritt auf dem Erdboden kostet andern Existenzen das Dasein, jede Befriedigung meines Hungers (mag ich Vegetarier sein oder nicht!) vernichtet andere Existenzen.
Du sollst nicht Menschen töten?
Aber wozu sollte ich denn einen Menschen umbringen ? Vorausgesetzt, daß sie mich nicht vergewaltigen oder bedrohen, habe ich meine Freude an den Menschen, liebe ich sie, brauche ich sie zu meinem Genuß.
Aber noch ein anderes Bild der Sache. Angenommen, heute oder auch in einer zukünftigen Gesellschaft, hat ein Mensch einen Menschen getötet. Er hat sich hinreißen lassen in der Leidenschaft, in der Eifersucht, in berechtigtem oder wahnsinnigem Zorn. Ich war vorher mit dem Mörder oft zusammen gewesen, wir haben Sympathie füreinander gefunden, wir haben uns besprochen über Philosophie, Dichtung, Kunst. Unsere Ansichten haben in vielem zusammengestimmt, immer war er ein Mensch, mit dem ich gern verkehrte. Nun hat er gelegentlich einem Menschen das Leben geraubt. Was soll ich nun mit meinem Freunde anfangen? Ich denke, das Beste ist, ich fange gar nichts mit ihm an. Ich verkehre ruhig weiter mit ihm, ich betrachte seine Tat als seine ureigene Privatsache.
Hat aber ein anderer getötet, ein Mann, mit dem ich aus diesen oder jenen Gründen nie Verkehr gehabt habe, dann kümmere ich mich erst recht nicht darum. Ich verkehre ja auch fernerhin nicht mit ihm. Und wenn ich später mit ihm zusammenkomme, dann frage ich nicht danach, was er früher einmal getan hat, sondern wie er mir jetzt vorkommt.
Ich kenne keine moralische Beurteilung; ich kenne lediglich die Frage: mit wem verkehre ich gerne? wer ist mir sympathisch? Und das richtet sich nach den Neigungen, Bestrebungen und Gedanken des Menschen!
Es gibt kein unverbrüchliches »Du sollst« für einen freien Menschen!
Und noch eines will ich sagen; ich habe es oft gesagt und es ist mir ein schöner und wichtiger Gedanke. Die Welt ist ewig, aber ich lebe nur einmal. Ich sehe eine Welt um mich, an der mir vieles, viel zu vieles verhaßt und abscheulich ist. Einer meiner Haupttriebe, der notwendig ist, um leben zu können nach meiner Natur, ist der, die Welt nach den Prinzipien, die ich als vernünftig liebgewonnen habe, umzugestalten. Da ich keinen Herrn und kein Gebot über mir anerkenne - sollte ich da nicht alles daransetzen, um für dies mein Ziel zu wirken? Der Mensch stirbt an Scharlach, an Diphtherie, an Trunksucht, an Cholera, an Altersschwäche. Gibt es einen schöneren Tod, als für ein Ideal zu sterben.
Ich lebe nur einmal, habe nur einmal die Zeit, auf die Welt zu wirken nach meinem Willen, und ich sterbe sehr bald. Warum sollte ich nicht mein alles einsetzen für die Befreiung der Menschheit?
1893
1895
Der Anarchismus in Deutschland
Warum nennen sich die Gegenwartsverächter und Rebellen, die Menschenfreunde und Zukunftsschwärmer, die sich als Anarchisten bezeichnen und zu denen ich mich rechne, mit diesem Namen ? Warum sind die Aufklärer, die eine neue Organisation des Menschengeistes und der Menschengesellschaft vorbereiten wollen, in innigster Verbindung mit der radikalsten Gruppe des im rücksichtslosen Klassenkampf stehenden Proletariats ? Welchen Charakter hat der Anarchismus in Deutschland ? Vor allem: hat er notwendigerweise einen rein proletarischen Charakter und wird er ihn wohl behalten ? Diese Fragen hauptsächlich habe ich mir vorgenommen, hier zu beantworten. Nicht, um Propaganda für den Anarchismus zu machen; der Herausgeber und der Leserkreis der Zukunft, die auf anderem Boden stehen, haben das unzweifelhafte Recht, sich das zu verbitten, und ich selbst fühle mich nicht berufen, weder den unerwünschten Eindringling zu spielen noch Kuckuckseier zu legen. Meine Absicht ist lediglich, falsche Vorstellungen zu beseitigen und ein richtiges Bild von den Ideen der deutschen Anarchisten - oder doch eines großen Teiles dieser Anarchisten - zu geben.
Die bewußte, gewollte, zweckmäßige Gestaltung des eigenen und des Geschickes kleinerer oder größerer Gemeinschaften ist ein Hauptmerkmal des Kulturmenschen. Diese Wirksamkeit charakterisiert sich als ein Kampf des Menschen einmal gegen die ihn beugenden und unterdrückenden Naturgewalten, dann auch gegen die aus irgendwelchem Grunde hindernden Eigenschaften, Handlungen und Unterlassungen anderer Menschen. Die bisherige Geschichte des Menschengeschlechtes ist zusammengesetzt aus den unzählbaren Einzelheiten einer unbewußten, dumpfen, naturnotwendigen Entwicklung, für die sich genau ebenso wie für den gesamten Bereich der übrigen Naturerscheinungen Zusammenfassungen, sogenannte Naturgesetze, abstrahieren und konstruieren lassen, und aus den bewußten Einwirkungen der einzelnen oder der Korporationen, deren Resultat freilich oft keineswegs mit der ursprünglichen Absicht übereinstimmten Kein Zweifel, daß sich auch hier wieder die Fülle der Erscheinungen sondern und in verschiedene Gewahrsame einschachteln läßt; also auch für die Erscheinungen des Wollens und der motivierten Handlungen lassen sich, wenn auch weniger untrüglich, Gesetze aufstellen.
Ich behaupte nun: die Kulturmenschheit ist an dem Punkte angelangt, wo es ihr gelingen kann, die hier zuerst erwähnten sogenannten Naturgesetze, deren Zustandekommen aus dem allmählichen Zusammenhäufen vieler kleiner Zufälligkeiten sie durchschaut hat, zu überwinden. Der Mensch ist dahin gekommen, frei und selbständig aus eigener Kraft sich ein eigenes Leben schaffen zu können. Der Kampf gegen die feindlichen Naturgewalten hat nicht aufgehört und kann nicht aufhören; wohl aber wird er jetzt mit Bewußtsein geführt, gegen den einzigen Feind, der des Menschen Gang zu höherem Glücksgefühl aufhält.
Bisher waren es zwei innig verbundene Faktoren, die das Menschengeschlecht auf diesem Wege nach oben behindert haben: erstens die Unbewußtheit, Dumpfheit und geistige Beschränktheit der großen Massen, im Gegensatz zu einer geringen Zahl, obwohl ein Unterschied in der natürlichen Veranlagung der beiden Teile nicht besteht; wohl gibt es von Natur Dumme und Kluge, Schwache und Kräftige; aber zu behaupten, in der zurückgebliebenen Masse seien die Dummen und Schwachen, bei den wenigen Bevorzugten die Klugen und Starken, wird keinem Ehrlichen einfallen. Und zweitens ist das Menschengeschlecht niedergehalten worden dadurch, daß nicht verbündete Menschen den Kampf gegen die feindliche Natur geführt haben, sondern daß von Urbeginn an die Menschen die Menschen bekämpften und unterdrückten; und zwar war es im großen und ganzen die kleine Zahl der Privilegierten, die mit allen physischen und geistigen Mitteln, unter Benutzung freilich gerade von großen Teilen der blöden Masse, eben diese Masse geknebelt und unterdrückt hat - bis auf den heutigen Tag.
Der Anarchismus nun hat keine andere Aufgabe als die: es zu erreichen, daß der Kampf des Menschen gegen den Menschen, möge er welche Gestalt immer haben, aufhöre, auf daß die Menschheit sich emporringen und auf daß im Verbande des Menschengeschlechtes jeder einzelne die Position einnehmen kann, die er kraft seiner natürlichen Anlage sich herzustellen vermag.
Homo homini lupus - der Mensch als Menschenfressern: das war in der Tat die Devise der bisherigen Menschengeschichte, einschließlich der 1800 Jahre, die vergangen sind seit den Worten Jesu: Liebe deinen Nächsten als dich selbst. Keine solche Forderung eines vorausgesetzten Gottes, kein unerbittliches Moralgebot will der Anarchismus, der jeden Zwang verpönt, aufstellen; er ruft nur, nachdem er die Erscheinungen der Geschichte und die Hilfsmittel der Technik geprüft und wieder geprüft hat: Vereinigt euch, wo ihr alle gemeinsame Interessen habt, wo es gilt, in hartem täglichen Kampfe der Natur eure Bedürfnisse abzuringen; und wo ihr getrennte Wege wandelt, überlaßt jeden einzelnen sich selbst und seinem Gutdünken; und gegen das schädigende übergreifen des einzelnen schützt euch wiederum durch Zusammenschluß derer, die das Gemeinsame zusammenführt, durch Interessenverbände der mannigfaltigsten Art. Aber lasset nie den Verband den einzelnen Verbündeten über den Kopf wachsen! Die das wollen, nennen sich demnach mit Grund Anarchisten, Anhänger der Herrschaftslosigkeit, da sie alle Gewalt verabscheuen, die die großen Massen der Menschen von den Quellen der Kultur, des Genusses und der Selbstbestimmung abhält.
Wir verwerfen vor allem die zum Teil in ihrer Art kolossalen Gebilde, die mit dem blendenden Stempel der Autorität gezeichnet und zur willenlosen Verehrung aufgestellt sind. So namentlich die festen, auf geschichtlichem Grunde ruhenden Organisationen, in die der Mensch hineingeboren wird und denen er sich zu fügen hat, mag er sie für vernünftig und zuträglich halten oder nicht. Vor allem die staatliche Zwangsorganisation, der gegenüber der Geborene im Laufe seines Lebens nur die Wahl hat, sich ihr zu fügen, aus dem einzigen Grunde, weil seine Vorfahren und seine Zeitgenossen sich ihr fügten, oder sich gewaltsam von der Erde und ihrem Leben zu scheiden; denn kaum ein Plätzchen auf der weiten Welt gibt es mehr, auf das nicht der Staat seine gebietende Hand gelegt hätten Die Macht der Kirche, so ungeheuer sie noch ist, ist doch tatsächlich bereits im Zerbröckeln; in weiten Gebieten ist es dem Menschen, wenn auch nur mit Schwierigkeit, bereits möglich, sich ihr zu entziehen. Der Staat, so wahr er auf demselben Grunde beruht wie seine Schwester, die Kirche, auf dem blinden Autoritätsglauben der Massen, wird ebenso sicher einst zerfallen wie die religiösen Organisationen, weil das wahre Heil der Menschengeschlechter nicht der Zwang und die geistige Bevormundung, und wäre es selbst der Zwang Wohlmeinender, sondern nur die Freiheit bringen kann.
Hauptsächlich auf der knechtenden Staatsorganisation, daneben aber auch auf der blinden Verehrung, die die Masse von jeher dem Althergebrachten und überlieferten, vor allem dem Familienmäßigen und Patriarchalischen, gewidmet hat, beruht die unterdrückende Organisation der privilegierten Privateigentümer n Keine Tradition der Welt, und wäre sie Jahrhunderttausende alt, kann für uns Anarchisten den Brauch heiligen, daß wenige Menschen das Recht in Anspruch nehmen, Erde zu besitzen und Erzeugnisse der Erde, nicht von ihnen erzeugt, den arbeitsamen Mitmenschen vorzuenthalten. Keine Macht und kein Vorurteil der Welt wird nach der Überzeugung der Anarchisten die Beraubten und Entblößten davon abhalten, das ihr eigen zu nennen, was dem letzten und erbärmlichsten gebührt: Boden zum Stehen, zum Gehen, zum Ruhen und zum Arbeiten. Wer, fußend auf ererbten »Rechten « und Gewahrsamen (und oft vergitterten Gewahrsamen) und auf dem Geldsacke sitzend, ungeheuren Massen von Menschen, die mit denselben Anlagen und Bedürfnissen ausgestattet sind wie er, die Bedingungen vorschreiben kann, unter denen sie sich das Notwendigste, um ihre und ihrer Lieben Blöße zu decken, erarbeiten dürfen, der verdankt seine angenehme Lebenslage einzig und allein der niederdrückenden Organisation des gegen den »inneren Feind « - Gewehr bei Fuß stehenden Staates und der stumpfen Geduld und Bedürfnislosigkeit der Massen.
Die Anarchisten behaupten noch nicht einmal, daß die Mehrheit der unterdrückten Proletarier heute ihre Lage und das Unrecht, das man ihnen tut, empfindet. Es ist auch vielleicht bei vielen unter uns durchaus nicht das rechte Wort, wenn man sagt, daß das Mitleid und die Liebe ihre Triebfeder seien. Bei mir wenigstens ist es vor allem der Ekel über die Menschheit, die mich umgibt, der Zorn über die Bequemlichkeit der Privilegierten, die es aushalten, ihr Glück auf die Trümmer verunglückter Existenzen und verkümmerter Wesen gebaut zu sehen, und der nicht geringere Zorn auf die Herabgekommenheit der Unterdrückten, die, als sie aus dem Mutterleibe kamen, jenen Erhabenen oft glichen wie ein Ei dem anderen und die am Ende ihres erbärmlichen Lebens kaum so viel in heißer Arbeit erworben haben, daß die paar Knochen, die sie als die Trümmer unermüdlichen Lebenskampfes hinterlassen, anständig verscharrt werden können.
Dieser Beurteilung der Gegenwart, ja auch unserem Zukunftsideal des freien Auslebens und der freien Vereinigungen, stimmen sehr viele unter den Gebildeten, und besonders gerade unter den Gebildeten Deutschlands, bei, die doch sehr weit davon entfernt sind, sich mit uns Anarchisten solidarisch zu fühlen. Dies beruht im wesentlichen auf zweierlei Gründen: erstens auf der falschen, wenn auch erklärlichen Verurteilung der sogenannten anarchistischen Partei (es gibt keine anarchistische Partei) und ihrer Taktik (es gibt keine Taktik, die man so allgemein anarchistisch nennen kann); zweitens aber und besonders auf der allgemeinen Verzweiflung und dem Skeptizismus, auf dem Glauben, daß nie und nimmer aus der Gegenwart eine solche Zukunft erwachsen können Schopenhauer ist diesen Männern oft der Trost ihrer schlaflosen Nächte, und die Arbeit ihrer Tage ist Linderung des Elends, das ihnen momentan in die Augen fällt, und hoffnungslose Sozialreform ein Tropfen im Meer. Diese Skeptiker, wenn sie konsequent sind, behaupten durchaus nicht, daß sie und die gleich ihnen Bevorzugten wirklich in geistiger oder moralischer Hinsicht besser beanlagt seien; höchstens gestehen sie zu - und dem schließen wir uns völlig an -, daß es heute schon so weit gekommen ist, daß in gewissen Bezirken gewisse Elende schon von Geburt an minderwertig sind. Dies ist aber eine heute glücklicherweise noch wenig in Betracht kommende Ausnahme; im großen und ganzen ist, was heute in der Kulturwelt zum Proletariat gehört, von Natur aus, der Anlage nach, kraftvoll und integer. Wohl aber meinen wir, daß es höchste, allerhöchste Zeit ist, daran zu erinnern, daß die Herabgekommenheit einerseits und andererseits die Nervosität und Verzärtelung angefangen hat, der Kulturmenschheit in Fleisch und Blut überzugehen, in denjenigen Bereich der körperlich-geistigen Organisation, der seine Eigenschaften auf die kommende Generation vererbt. Wir meinen, keine Sprache kann laut und entschieden genug sein, um die Mitlebenden zum Aufraffen aus dem alten Schlendrian anzufeuern, anzuspornen zur Neubelebung unserer ganzen gesellschaftlichen Organisation, zur Erhebung aus der Geistesträgheit, zu energischer Tat, um Schranken zu brechen und neuen Boden für neue Saat zu bereiten. Das ist die Propaganda der Tat, wie ich sie verstehe; alles andere ist Leidenschaft oder Verzweiflung oder toller Unverstand. Nicht darum handelt es sich, Menschen zu töten, sondern es handelt sich im Gegenteil um die Wiedergeburt des Menschengeistes, um die Neuerzeugung des Menschenwillens und der produktiven Energie großer Gemeinschaften.
Großer Gemeinschaften, sage ich; denn es ist ein sehr starker Irrtum, den auch der sonst so einsichtige Professor Stammler, der die Theorie des Anarchismus auf Grund der Schriften Proudhons und Stirners in diesen Heften entwickelte, noch nicht ganz überwunden hat, zu meinen, der Anarchismus bedeute die Vereinzelung und stehe, wenn er recht verstanden werde, im Gegensatz zum Sozialismus. Allerdings bedeutet für uns der Sozialismus etwas wesentlich anderes als das »rechtliche Verbot des Privateigentums an Produktionsmitteln.« Nicht einmal vom Gemeineigentum redet unser Sozialismus, weil dahinter nichts steckt als die verschleierte Herrschaft einer Beamtensippen Wir sprechen vielmehr, um mich des sehr glücklichen Ausdrucks Benedikt Friedländers zu bedienen, von der Herrenlosigkeit der natürlichen Güter; wir reden davon, daß die zur Einsicht in ihre wahren Interessen gekommene Menschheit in starken Vereinen Vorsorge treffen wird, daß die Güter der Erde zu jedermanns Verfügung stehen und daß, wenn einzelne oder Gruppen Produktionsmittel für sich allein in Anspruch nehmen, die übrigen gebührende Entschädigung beanspruchen. Ich bemerke, daß Bruno Wille diese Gedanken in seiner Philosophie der Befreiung weiter ausführt; einer der ersten, der im Gegensatz zu den Unklarheiten der früheren und mancher jetzigen kommunistischen Anarchisten mit Nüchternheit die Ideen des Anarchismus erörterte, war Benedikt Friedländer in seiner sehr anregenden Broschüre Der freiheitliche Sozialismus im Gegensatz zum Staatsknechtstum der Marxisten. Dieser nüchterne Zug, der auch schon in der früher erschienenen Broschüre von Paul Kampffmeyer, Die Bedeutung der Gewerkschaften, bemerkbar ist, ist meines Erachtens ein Hauptkennzeichen der jung-anarchistischen Richtung nicht nur in Deutschland, auf die Eugen Dühring und Henry George besonders starken Einfluß ausgeübt haben; ich lege vor allem der Friedländerschen Broschüre - obwohl sie ganz bescheiden und ohne die geringste Anmaßung auftritt - weit mehr Bedeutung bei als z. B. dem vom Professor Stammler erwähnten Buche von Mackay, das sehr stark an Unklarheiten, dagegen nicht an Bescheidenheit leidet. Übrigens hat auch der Kommunist Kropotkin das Verdienst, den Anarchismus von der Phrase befreit und ein detailliertes Bild der freien Gesellschaft geliefert zu haben.
Es ist mir gar kein Zweifel, daß auch in der anarchistischen Gesellschaft sehr starke Organisationen bestehen werden; und ebenso ist es mir sicher, daß Vereinigungen, die schon heute bestehen, in den Anarchismus »hineinwachsen« werden; hier ist der Ausdruck durchaus am Platze. Ich meine die Organisationen aller wahrhaften Produzenten, nämlich der Arbeitern Ich weise beiläufig auf den überaus kennzeichnenden Umstand hin, der in unserer Sprache zwischen den Worten Produzent und Arbeiter besteht. Der Arbeiter ist kein Produzent - denn wo bleibt der Ertrag seiner Produkte ? Und der Produzent ist sehr oft kein Arbeiter, denn - wo bleibt die Arbeit ? Wohl aber rechne ich durchaus und ohne jede Einschränkung zu den Arbeitern, deren Vereinigungen die Grundlage zur freien Gesellschaft abgeben sollen, die wissenschaftlichen Leiter, die im Güteraustausch Erfahrenen usw., mögen sie heute Ingenieure, Direktoren, Kaufleute, Eisenbahnbeamte oder wie immer genannt werden.
Es fällt uns nämlich durchaus nicht ein, künstlich eine geschichtliche Entwicklung zu konstruieren, wonach - mit Naturnotwendigkeit natürlich - die proletarische Klasse gewissermaßen von der Vorsehung berufen sei, die Stelle der heute herrschenden Klassen einzunehmen, oder gar eine Diktatur des Proletariates zu begründen. Ich nehme keinen Anstand, zu erklären, daß der Klassenkampf für mich eine solche Bedeutung nicht hat. Ich bin keineswegs der Meinung, daß bei einer bestimmten Vermögensziffer der Mensch anfange, in den Schweinehund überzugehen, der für die künftige Gesellschaft untauglich sei. Es ist - selbstverständlich - ebensowenig eine Schande, als Bourgeois geboren zu sein wie als Proletarier, und uns Anarchisten ist jeder, welcher Gesellschaftsklasse er auch angehören mag, als Genosse recht, der unsere Ansichten für richtig hält und nach Kräften die Konsequenzen seines Denkens im Leben zieht.
Der Proletarier, der die Wahrheit des Anarchismus erkannt hat, wird allerdings nicht einzig und allein in Konventikeln und Diskutierklubs darüber streiten, wie in Zukunft das Geschirr zu spülen und die Stiefel zu reinigen sind, sondern er wird, soweit es ihm persönlicher Mut und seine Lebenslage erlauben, ohne Zweifel mit zäher Energie Schritt für Schritt mit allen Mitteln, die ihm seine Weltanschauung gestattet, für die Verbesserung seiner Lebenslage eintreten. Und seine Erkenntnis sagt ihm vor allem, daß er, wie die Dinge heute liegen, nur innig verbündet mit dem gesamten Proletariat der Welt durch starke Massenaktionen eine Verbesserung seiner wirtschaftlichen Lage erreichen kann. Solange daher die Besitzenden und Machthabenden mit allen Mitteln, die sie sich selbst erlauben, die heutigen ungerechten und unseligen Zustände aufrechterhalten, so lange kämpfen die vereinigten Proletarier mit allen ihnen erlaubten Mitteln für die Verbesserung ihrer Lage auf allen Gebieten. Wir predigen nicht den Klassenkampf, aber wir sehen ein, daß er dem Proletariat aufgezwungen ist, wenn es sich in die Höhe bringen will. Nicht um die Zerstörung der modernen Kultur handelt es sich, sondern um ein gewaltiges Heer von bisher Ausgeschlossenen, dessen Appetit nun angeregt worden ist und das die Lust verspürt, sich an die gedeckten Tische zu setzen und mitzugenießen.
Mit Reden von Revolution und von künftiger Herrlichkeit ist den heute nach höherer Lebenshaltung Schmachtenden, gar den Arbeitslosen und Heruntergekommenen, nicht gedient: darum versteht sich rücksichtsloser Klassenkampf von selbst für die, die der heutigen Gesellschaft gegenüber nur durch solidarische Geschlossenheit und Energie des Auftretens Verbesserungen ihrer Lebenslage erzwingen können. Dabei erkläre ich, um gar nicht mißverstanden zu werden, daß ich der großen Menge der heute vermögenden Klassen durchaus keinen Vorwurf mache. So gut wie Herr von Egidy ausrufen konnte: Wir, wir alle sind die Schuldigen, ebensowohl können wir Bourgeois, die wir die Erbschaft von Jahrtausenden angetreten haben, ausrufen: Keiner ist schuldig! Aber nicht mehr lange ist dies wahr. Wir haben dieser erschreckenden Erbschaft gegenüber das Recht des Inventars; und immer gebieterischer wird das Verlangen ertönen, mit dem alten Plunder aufzuräumen und das Brauchbare aus dem Wust des Verrotteten zu retten. Mit dieser Aufforderung geht der Anarchismus an alle heran, und die unteren Volksschichten werden niemals, am wenigsten durch neue Beweise von Ungerechtigkeit, dazu gebracht werden, daß sie aufhören, nach einer Organisation der menschlichen Gesellschaft zu rufen, die jedem gerecht werden kann und die darum gerecht ist.
Die Anarchisten sind keine politische Partei, denn sie stehen nicht auf dem Boden des heutigen Staatswesens und verschmähen es, zu feilschen und zu markten. Wir Anarchisten wollen Prediger sein, und um die Revolutionierung der Geister ist es uns vor allem zu tun. Zu welchen Verwicklungen die Hartnäckigkeit der heute maßgebenden Kreise im Gegensatz zu den Wünschen und Bestrebungen der großen Masse der Bewohner der Kulturwelt später einmal - heute ist noch keine Rede davon - führen mag, wir weisen die Verantwortung nicht ab, wir nehmen sie ruhig auf uns, in dem sicheren Glauben, daß ein zukünftiges Menschengeschlecht es uns danken wird, daß wir ihm geholfen haben, sich selbst wieder achten zu können. Das Bewußtsein, daß wir selbst den Sieg unserer Sache gewiß nicht erleben werden, daß wir im Gegenteil neuen Enttäuschungen und Rückfällen entgegengehen - von Verfolgungen gar nicht zu reden -, kann uns nicht abhalten, uns mit Begeisterung unserer Lebensarbeit, der Verbreitung der Aufklärung in allen Bevölkerungsschichten, zu widmen. Wir mögen mit Schopenhauer denken: »Das Leben ist kurz und die Wahrheit wirkt ferne und lebt lange: sagen wir die Wahrheit!« Natürlich jeder die Wahrheit, die er nach ehrlicher und tapferer Untersuchung sein eigen nennen kann. Wer aber glaubt, es sei in der Ordnung, »seine Wahrheit« dadurch zu fördern, daß fremde Meinungen mit Gewalt unterdrückt werden, der möge eben diese Straße wandeln. Die Anarchisten werden die ihrige gehen.
1895
Anarchismus – Sozialismus
»Organ für Anarchismus-Sozialismus«, so steht es an der Spitze unseres Blattes. Der Anarchismus ist vorangestellt als das Ziel, das erreicht werden soll: die Herrschaftslosigkeit, die Staatslosigkeit, das freie Ausleben der einzelnen Individuen. Und dann wird angegeben, durch welches Mittel wir diese Freiheit der Menschen erreichen und sicherstellen wollen: durch den Sozialismus, durch das solidarische Zusammenhalten der Menschen in allem, was ihnen gemeinsam ist, und durch die genossenschaftliche Arbeit.
Man könnte einwenden, wenn der Anarchismus unser Ziel, der Sozialismus das Mittel, es zu ermöglichen, sei, so sei das eine ganz verkehrte Welt; denn An-Archie sei etwas Negatives, die Abwesenheit bestimmter Herrschaftseinrichtungen, während der Sozialismus eine positive Gesellschaftsform darstelle; gemeiniglich aber sei das Positive das Ziel, auf das man losgehe, das Negative, die Zertrümmerung der entgegenstehenden Hindernisse, sei der Weg zur Erreichung jenes Positiven. Man vergißt bei diesem Einwand, daß Anarchie nicht allein die leere Freiheit bedeutet, sondern daß unsere Vorstellung vom freien Leben und Wirken mit gar vielem und reichem positiven Gehalt erfüllt ist. Uns soll in der Tat die möglichst zweckmäßige, unter gleichen Bedingungen vor sich gehende Arbeit nur das Mittel sein, unsere reichen natürlichen Kräfte entfalten und weiterentwickeln zu können, auf unsere Mitmenschen, die Natur und die Kultur einzuwirken und den gesellschaftlichen Reichtum nach Kräften zu genießen.
Diese wenigen Worte schon sagen jedem, der nicht von den Parteidogmen befangen gemacht worden ist, daß Anarchismus und Sozialismus nicht im geringsten Gegensätze sind, sondern vielmehr sich gegenseitig bedingen. Wahre genossenschaftliche Arbeit, wahre Gemeinsamkeit kann es nur in der Freiheit geben; und Freiheit der Personen hinwiederum ist nicht möglich, wenn nicht die Lebensbedürfnisse durch brüderliches Zusammenhalten hergestellt werden. Trotzdem ist es immer und immer wieder notwendig, sich der unwahren Behauptungen der Sozialdemokratie zu erwehren, Sozialismus und Anarchismus ständen sich feindlich gegenüber »wie Feuer und Wasser«.
Die das behaupten, argumentieren ungefähr folgendermaßen:
Sozialismus bedeutet »Vergesellschaftung«, d. h. die Gesellschaft (unter welch vagem Begriff gewöhnlich die Gesamtheit aller auf Erden lebenden Menschen verstanden wird) wird vereinheitlicht, unter einen Hut gebracht, zentralisiert; das Interesse der Gesellschaft ist das oberste Gesetz, und ihm haben sich die Sonderinteressen der Gruppen und der einzelnen unterzuordnen. Anarchismus dagegen, so sagen sie, bedeute Individualismus, d. h. das Bestreben des einzelnen, seine Macht schrankenlos zu behaupten, d. h. die Vereinzelung und den Egoismus. Vergesellschaftung und Aufopferung auf der einen Seite, Vereinzelung und Selbstsucht auf der andern Seite, das seien unvereinbare Gegensätze.
Ich glaube durch ein einfaches Gleichnis darlegen zu können, wie die entgegenstehenden Erklärungen zu deuten sind. Man denke sich eine Stadt, in der ab und zu die Sonne scheint und hin und wieder Regen fällt. Wenn nun einer aufträte und sagte: gegen den Regen können wir uns nicht anders schützen, als dadurch, daß wir einen ungeheuren Schirm über die ganze Stadt aufspannen, unter dem jedermann jederzeit, auch wenn es gar nicht regnet, sich zu bewegen hat, dann wäre das ein »Sozialist« nach der Erklärung der Sozialdemokraten. Wenn dagegen ein anderer spräche: sowie es regnet, nehme jeder von den Schirmen, die gerade in der Stadt vorhanden sind, einen für sich, und wer keinen mehr kriegt, soll selbst sehen, wo er bleibt - dann wäre das der »Anarchist«, wie ihn die Sozialdemokratie als Schreckgespenst an die Wand malt. Wir Anarchisten-Sozialisten dagegen wollen nicht alle Einzelnen unter den großen Gesellschaftsschirm zwingen, und sind ebenso wenig so töricht, um den Besitz der Schirme eine Keilerei zu beginnen, sondern wo es zweckmäßig ist, benutzen kleinere und größere Gesellschaften einen gemeinsamen Schirm, den man aber jederzeit entfernen kann; wer allein gehen will, habe seinen Schirm für sich, sofern er sich allein behaupten kann, und wer naß werden will, den zwingen wir nicht zur Trockenheit. Ohne Bild gesprochen: Menschheitsvereinigung in Menschheitsinteressen, Volksvereinigung in Volksangelegenheiten, Gruppengemeinschaft in Sachen der Gruppen, Vereinigung von zweien, wo zwei für sich gehn, Vereinzelung in allem, was nur das Individuum angeht.
An Stelle des heutigen Staates und an Stelle des Weltstaates und der Weltherrschaft, wie sie die Sozialdemokratie erträumt, wollen wir Anarchisten ein freies Gefüge der mannigfachsten, einander durchdringenden, in tausend Farben spielenden Interessenvereinigungen und Gruppen setzen. Bei diesen freien Gruppen wird das Wort gelten, daß ich selbst mir der nächste bin, und das Hemd mir näher ist als der Rock. Um unsre Angelegenheit vernünftig und gerecht zu ordnen, werden wir nur selten die ganze Menschheit bemühen müssen, wir bedürfen keines Menschenparlaments und keiner Weltbehörde. Wohl aber werden sich alle die verschiedenen Gruppen über Dinge, die sie in Wahrheit alle angehen, so vor allem über die Ordnung des Verkehrswesens, zu einigen verstehen, wie denn z. B. die äußerst kunstvolle Herstellung der Eisenbahnfahrpläne und der internationalen Anschlüsse heute schon ein Gebiet ist, auf dem die Herren Staatsmänner ohne Oberbehörde, einzig und allein vermöge des Zwanges der natürlichen Notwendigkeit sich zu einigen verstehen. Daher ist mir auch die Lektüre des Reichskursbuches so ziemlich der einzige Genuß, den mir die behördliche Weisheit bisher verschafft hat, und mit diesem einen Buch wird unsere autoritäre Zwangsgesellschaft vor der Zukunft mehr Ehre einlegen als mit dem ganzen Berg sämtlicher Gesetzbücher aller Nationen. Von sonstigen Interessen, die der ganzen Menschheit ohne weiteres gemeinsam sind, wüßte ich außer gemeinsamem Maß und Gewicht und gemeinsamen wissenschaftlichen und technischen Bezeichnungen nur noch die Statistik zu nennen, die eine große wissenschaftliche und volkswirtschaftliche Bedeutung hat, wenn auch lange nicht die ungeheure, die ihr die Sozialdemokratie zugedacht hat, wo bekanntlich die Statistik der Thron sein soll, auf dem die Menschenherrschaft sich breit macht. Unter Menschen, die nicht durch den Zwang der Verhältnisse und der Machthaber zur Umbildung und zur Verständnislosigkeit den einfachsten Dingen gegenüber verdammt sind, werden die Zwecke der Statistik ohne jede Herrschaftseinrichtung mit Leichtigkeit erreicht werden, und die Organisation, die die letzten Ergebnisse der Statistik schließlich zusammenzustellen hat, wird, obwohl sie in der Tat für die ganze Menschheit arbeitet, doch eine sehr untergeordnete Rolle spielen und sich zu keiner Weltmacht aufschwingen können.
Gemeinsame Interessen einer Nation? Es wird solche geben; sie eint die Sprache, die Literatur, auch die nationale Kunst hat ihre Besonderheiten, ebenso wie es uralt überlieferte Volkssitten und Gebräuche gibt. Aber da es keine Herrschaft mehr gibt, gibt es auch keine annektierten Provinzen und keinen »nationalen Boden« mehr, der zu verteidigen oder - zu vergrößern ist. Es gibt auch keine »nationale Arbeit« mehr, denn die Arbeit wird sich nach ganz andern Prinzipien gruppieren als nach denen der Sprache und der Ethnographie. Die geographische und auch die geologische Lage, das Klima, die Bodenbeschaffenheit werden eine gewichtige Rolle spielen bei den Gruppen der Arbeit; aber was haben unsere Nationalstaaten viel mit der Geographie zu tun? Die Unterschiede der Sprache dagegen werden die Organisation nur in ganz unbedeutendem Maße berühren.
Über die Fragen, die sich hinsichtlich der Organisation der Arbeit erheben, gibt es im gemeinsamen Lager des Anarchismus verschiedene Richtungen. Die einen, die Anhänger des freien Genußrechtes, sind der Meinung, jeder produziere nach seinen Kräften und konsumiere nach seinen Bedürfnissen, wobei ihm natürlich über die Kräfte, die er anzuwenden willens ist, ebenso wie über seine Bedürfnisse, allein die Entscheidung zusteht. Man nimmt also an, daß die Bedürfnisartikel aus Lagern, die zweckmäßig nach Bedarf überall vorhanden sind, entnommen werden; und daß diese Lager gefüllt werden durch die Arbeit freier Menschen, von denen jeder einzelne kraft seiner Vernunft die Notwendigkeit produktiver Arbeit einsieht. Wieviel auf jedem einzelnen Gebiet jeweils zu produzieren ist, wieviel also bei einem bestimmten Stand der Technik und einer bestimmten Anzahl Mitarbeiter jeder einzelne zu arbeiten hat, das ergibt sich aus den durch die Statistik sowohl als auch durch die Mitteilungen der einzelnen Gruppen bekannten tatsächlichen Verhältnisse. Ebenso wird das Bedürfnis von Arbeitskräften durch öffentliche Bekanntmachungen allen Interessenten mitgeteilt. Wer sich, trotzdem er im Besitz ungebrochener Kraft sich befindet, der produktiven Arbeit entzieht, oder weniger leistet als er könnte und als seine Genossen leisten, der fällt der öffentlichen Verachtung anheim.
Ich glaube, mit diesen kurzen Worten die Tendenzen der Kommunisten wahrheitsgemäß und ohne Voreingenommenheit vorgeführt zu haben. Ich finde indessen diese Organisation der Arbeit nicht genügend und nicht gerecht.
Nicht für richtig halte ich es, sie in solcher oder ähnlicher Form für unmög1ich zu erklären. Ich halte den Kommunismus und den freien Genuß, so wie ich ihn geschildert, für möglich. Ich glaube aber, daß eine sehr beträchtliche Anzahl von Menschen sich der produktiven Arbeit gern oder zum größten Teile entziehen würde, trotz der öffentlichen Verachtung, aus der sie sich wenig machen würden, weil sie selbst ihrer gegenseitigen Hochachtung gewiß wären. Ferner aber bekämpfe ich allen Ernstes das freie Genußrecht aus dem Grunde, weil durch dasselbe eine neue autoritäre Moral mit Bestimmtheit über dem Menschengeschlecht lasten würden »Wer am meisten arbeitet, wer sich mit Vorliebe den schwierigen und den schmierigen Arbeiten unterzieht, wer Opfer bringt für die Schwachen, die Trägen und die Nichtstuer, der ist der beste Mensch!« Das ist der Grundsatz des neuen Moralsystems, das auf dem Grunde des freien Genusses lauert, und der Zwang dieser Moral und die gesellschaftlichen Ehren, die in ihrem Gefolge auftauchten, wäre eine weit schlimmere und gefährlichere Last für das Menschengeschlecht, wäre vor allem auch viel einseitiger und ungerechter als der Zwang, den ich für den befriedigendsten halte, und zwar nach reiflicher Prüfung: ich meine den Zwang des Egoismus.
Die Anarchisten, die nichts vom freien Genusse wissen wollen, die vielmehr zwischen der Arbeit des einzelnen und dem Genusse dieses einzelnen ein gewisses Verhältnis hergestellt wissen wollen, sind bestrebt, die Organisation der Arbeit auf den Boden des natürlichen Egoismus zu stellen. Wer arbeitet, arbeitet für sich, d. h. wer sich einer bestimmten Produktionsgruppe anschließt, verspricht sich davon bestimmte Vorteile. Arbeitet er länger als der Durchschnitt der übrigen, so tut er es, weil er mehr Bedürfnisse befriedigen will: unterzieht er sich den schwierigen und schmierigen Arbeiten, die es auch in aller Zukunft noch geben wird, wenn auch natürlich nicht in der grauenvollen Art wie heute, so deshalb, weil diese Arbeit - im Gegensatz zu heute, wo sie nur von den Elendesten ausgeübt wird und darum am schlechtesten bezahlt ist - einen besonders hohen Wert hat und sich am reichlichsten lohnt. Die Einwände, die gegen diese Art der Arbeitsorganisation gemacht werden, sind im wesentlichen drei: erstens findet man darin eine Ungerechtigkeit gegen die körperlich oder geistig Schwachen, zweitens scheut man die Möglichkeit zu neuer Ausbeutung durch die Ansammlung von individuellem Reichtum, drittens fürchtet man, daß eine bestimmte Produktionsgruppe sich Vorteile verschaffen könnte, indem sie nur eine bestimmte Zahl Teilnehmer aufnimmt und die übrigen ausschließt. Ich halte alle drei Einwände für hinfällig.
Wohl wird in aller Zukunft die Verteilung der menschlichen Kraft mannigfach abgestuft und verschieden sein. Aber bei der allseitigen Ausbildung und Förderung der natürlichen Anlagen eines jeden einzelnen und bei der umfassenden Arbeitsteilung wird es jedem leicht möglich sein, die Stelle zu finden, auf die ihn seine Eigenschaften hinweisen; wer nicht für grobe Arbeit taugt, ist für feine geeignet usw. Und für die gänzlich zur Arbeit Untauglichen, die Invaliden, Greise usw. wird ebenso wie für die Kinder in der allermannigfachsten Weise gesorgt sein, wobei ich glaube, daß das Prinzip der gegenseitigen Versicherung eine sehr große Rolle spielen dürfte.
Die Ansammlung des individuellen Reichtums könnte unmöglich auch im geringsten zur Ausbeutung führen, da die Menschen in der Anarchie im eigenen Interesse stets darauf halten, daß der Grund und Boden und die Arbeitsmittel jedem frei zur Verfügung stehen. Wer also mehr oder anstrengender arbeitet als andere, kann sich lediglich für seinen persönlichen Bedarf Vorteile schaffen; Mittel zur Ausbeutung gewinnt er keine.
Drittens endlich würde es einer Produktionsgruppe übel aufstoßen, wenn sie sich gegen die Mitmenschen abschließen wollte, um besonderen Nutzen aus ihrer Produktion zu ziehen. Sie würde von sämtlichen übrigen Gruppen boykottiert werden und müßte sofort ihre Tore wieder öffnen. Im Gegenteil: wo zu einer bestimmten Zeit die Arbeitsbedingungen besonders vorteilhaft sind, da werden bald so viel neue Mitglieder zuströmen, daß nach ganz kurzer Zeit die Ungleichheit wieder entfernt ist und die Arbeitsbedingungen ungefähr denen der übrigen Gruppen entsprechen. Das freie Ab- und Zuströmen der Arbeiter, die wirklich freie ungehinderte Konkurrenz gleichgestellter Menschen wird keine dauernde Ungleichheit der Existenzbedingungen aufkommen lassen.
Übrigens will ich schließlich nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß die beiden hier skizzierten Wirtschaftsformen in verschiedenen Gegenden und auf verschiedenen Gebieten sehr wohl eine geraume Zeit nebeneinander existieren können. Die praktische Erfahrung wird bald ohne jeden Zweifel feststellen, welche Form die einfachste und die gerechteste ist. Das Ziel der beiden Richtungen ist ja dasselbe: die Freiheit des Einzelmenschen auf dem Grunde der wirtschaftlichen Solidarität. Allzusehr und allzu hitzig wollen wir uns nicht über dieses Zukunftsdetail ereifern; wir wollen durch gemeinsame Anstrengung aus all unserer Kraft vielmehr dafür sorgen, daß wir bald in Freiheit Erfahrungen gewinnen können! Die Anarchie ist kein fertiges und totes Gedankensystem; die Anarchie ist das Leben der Menschen, die dem Joche entronnen sind.
1895
1900
Börne und der Anarchismus
Wenn man jeden als Anarchisten mit Beschlag belegen wollte, der einmal aus einem Gefühl heraus, das in den meisten Menschen schlummert, Worte der Empörung gegen Staat und Gesetz, des Enthusiasmus für schrankenlose Freiheit gefunden hat, würde man mit gutem Recht belächelt werden. »Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gemacht, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus.« So anarchistisch diese Tirade auch klingt, so war der junge Schiller, der sie sprach, doch noch lange kein Anarchist.
Auch der Börne, den wir heute noch kennen, der Börne der Pariser Briefe war, so glühende und rebellische Sätze er auch geprägt hat, kein Anarchist. Die Erinnerung, die ich heute geben will, knüpft an eine sehr wenig bekannte Äußerung aus Börnes früheren Jahren an und scheint mir als Beitrag zur Bibliographie des Anarchismus ziemlich interessant, zumal da Nettlaus wertvolle Bibliographie de l'Anarchie Börnes Namen gar nicht erwähnt und aus so früher Zeit überhaupt kein Dokument des Anarchismus in Deutschland kennt.
Es handelt sich um eine Kritik Börnes aus den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts über ein 1825 in Paris erschienenes Buch, betitelt: Nouvelles lettres provinciales, ou lettres écrites par un provincial à un de ses amis, sur les affaires du temps. Das Buch selbst scheint ohne Interesse und soll uns hier nicht weiter beschäftigen; Börnes ausführliche Rezension sieht in ihren Hauptteilen auch völlig von ihm ab und ergeht sich in selbständigen, sehr interessanten Betrachtungen.
Börne erklärt, es handle sich in den Kämpfen der Zeit nicht um die Unbeschränktheit der Herrschaft, nicht um die Form der Regierung, nicht um die Herrschaft der Gesetze an Stelle der Menschen, nicht um die Gleichheit und nicht um die Volkssouveränität. Er führt das Wort Montesquieus an: »Il ne faut pas trop régner«, und fährt dann fort: »Als Ludwig XIV. sagte: L'Etat c'est moi!, war nicht sein größter und gefährlichster Wahn, daß er sich für den Staat angesehen - es war sein größter und gefährlichster, daß er den Staat für das Höchste angesehen. Aber diesen Wahn teilte der König mit seinen Untertanen, seine Zeit teilte ihn mit einer langen Vergangenheit, sie teilte ihn mit dem kommenden Jahrhundert, und die meisten unserer Zeitgenossen teilen ihn noch. Der Staat ist das Bett des Prokrustes, worin man den Menschen ausreckt oder verstümmelt, bis er hineinpaßt. Der Staat, die Wiege der Menschlichkeit, ist ihr Sarg geworden. Der Staat ist zugleich Gott und Priester, und für den Gott werden scheinheilig alle Opfer gefordert, nach welchen den Priester gelüstet ...«
Börne setzt dann weiter auseinander, daß Lykurg, dessen Verfassung man die Schulknaben bewundern lehre, ein schlimmerer Tyrann gewesen sei als Robespierre: »Robespierre opferte die Menschen, Lykurg die Menschlichkeit.« Er ergeht sich dann in Betrachtungen über die Gesetze, die die Fähigkeit haben müßten, sich überflüssig zu machen, und es überkommt ihm bei diesem Gedanken etwas wie das Gefühl, ein sehr früher Vorläufer zu sein, sich auf verwegenem Gebiet zu bewegen, wo die Zeitgenossen ihm kaum folgen könnten, denn er fügt hinzu: »[...] hier müssen wir nur froh sein, wenn einige Verständige unsere Unverständlichkeit verstehen.« »Auch das britische Volk«, so ruft er aus, »hat nur Freiheiten, aber keine Freiheit. Freiheiten aber sind die gültigsten Beweise für die Herrschaft. Darum hört man auch überall die Macht nur von Freiheiten sprechen und sieht sie das Wort Freiheit ängstlich meiden. Sie spricht von freien Institutionen: die Freiheit wird eine Einrichtung genannt, und doch ist nur die Herrschaft eine.« Das ist mehr als ein gelegentlicher Ausbruch des Freiheitsdranges ; das ist wirklich mit Gründen belegte anarchistische Auffassung der Gesellschaft. Und so fehlt denn auch das Wort Anarchie nicht; Börne spricht es an besonderer Stelle und mit besonders betonten Worten sehr deutlich aus: »Nicht darauf kommt es an, daß die Macht in dieser oder jener Hand sich befinde: die Macht selbst muß vermindert werden, in welcher Hand sie sich auch befinden Aber noch kein Herrscher hat sich die Macht, die er besaß, und wenn er sie auch noch so edel gebrauchte, freiwillig schwächen lassen. Die Herrschaft kann nur beschränkt werden, wenn sie herrenlos - Freiheit geht nur aus Anarchie hervor. Von dieser Notwendigkeit der Revolutionen dürfen wir das Gesicht nicht abwenden, weil sie so traurig ist. Wir müssen als Männer der Gefahr fest in das Auge blicken und dürfen nicht zittern vor dem Messer des Wundarztes. Freiheit geht nur aus Anarchie hervor - das ist unsere Meinung, so haben wir die Lehren der Geschichte verstanden. Möge jeder andere seine andere Meinung sagen. Doch wir alle, so gut wir auch gesinnt, so klar auch unser Blick sein möge: wir müssen immer der Möglichkeit eignen Irrens eingedenk bleiben und müssen uns die Empfänglichkeit für jede bessere Belehrung bewahren, diese mag von Menschen oder von der Geschichte kommen.«
Die betonten Worte sind nicht von mir, sondern von Börne selbst hervorgehoben. Es ist kein Zweifel nach den ganzen vorhergehenden Ausführungen, daß Börne unter Anarchie wirklich die Herrschafts- und Staatslosigkeit verstanden hat; allerdings hat er daneben auch an das Chaos und die elementare Auflösung einer Übergangszeit gedacht- Aber ich darf wohl darauf hinweisen, daß er sich darin von den heutigen Anarchisten mitnichten unterscheidet. Der Anarchismus hat seine konstruktive, aber auch seine destruktive Seite; welche bei den einzelnen überwiegt, ist Temperamentssache.
Börne ist, dünkt mich, auf diese Gedankengänge, bei denen ihm selbst etwas unheimlich geworden zu sein scheint, in seinen späteren Schriften nicht mehr zurückgekommen. Aber sollte ich sehr irregehen, wenn ich annehme, daß seine Vehemenz ihre besten Kräfte sog aus diesen unterirdischen Klüften, aus solchen Anschauungen, die er im Kampf um die Ereignisse des Tages nicht mehr hochkommen ließ? Seine berühmte Rede über die Macht, die er in die Pariser Briefe einlegte, deutet darauf hin, daß seine Anschauungen über den Staat als solchen die gleichen geblieben waren.
Eine andere Frage ist, wie Börne zu diesen Anschauungen und dieser Formulierung derselben gekommen ist. So sehr auch die Art, wie er diese entlegenen Gedanken vorbringt, darauf schließen läßt, daß viel eigen Erarbeitetes darin liegt, so glaube ich doch mit Bestimmtheit, daß sich literarische Zusammenhänge und Einflüsse nachweisen lassen müssen. Ich bin durchaus nicht im Stande, ihnen zur Zeit nachzugehen; vielleicht fühlt sich jemand zu Forschungen darüber veranlaßt. Ich für mein Teil glaube, so seltsam es manchem auch klingen mag, daß der Meister Börnes auch bei diesen Ideen zumindest Patendienste geleistet hat: der große Gefühlsanarchist Jean Paul. Wer schon einmal darüber nachgedacht hat, aus welcher Region her wohl der Kreis von Sand, Follen u. a. befruchtet worden ist, wird meine Vermutung eher begreiflich finden.
1900
1907
Dreißig sozialistische Thesen
1. Mit dem Wort Sozialismus, das (wie übrigens alle Begriffe) nicht abstrakt zu definieren, sondern nur aus seiner historischen Bedingtheit mehr oder weniger scharf zu umgrenzen ist, faßt man Willensrichtungen zusammen, die auf eine bestimmte, noch näher zu beschreibende Umwandlung der gesellschaftlichen Zustände, der Gewinnung, Herstellung und Verteilung der Lebens und Kulturgüter abzielen.
2. Alle Umwandlungtendenzen müssen sich richten (gleichviel, wie weit die Wollenden sich dessen bewußt sind) erstens nach dem, was entweder auf Grund von Erkenntnissen oder auf Grund der Lebenslage und des von beidem geförderten oder gehemmten Trieblebens oder auf Grund von Kulturidealen mannigfacher Herkunft als Notwendigkeit für die Zukunft empfunden wird; und zweitens nach den Möglichkeiten, die auf dem Grunde der Vergangenheit in den äußeren und inneren Zuständen der Menschen vorhanden sind.
3. Wer bedenkt, wieviel in diesen abgekürzten und komprimierten Worten an Mannigfaltigkeit, Nuancierung und Unvereinbarkeit steckt, wird begreifen und selbstverständlich finden, daß eine so ins Allgemeine und Weite und eben so ins einzelne und überallhin gehende Tendenz wie der Sozialismus nicht einheitlich sein kann, sondern vielfach verzweigt, zersplittert und differenziert sein muß.
4. Der Sozialismus richtet sich gegen die in der heutigen Organisation der Gesellschaft ohne Zweifel vorhandene und überall zur Wirklichkeit gewordene Möglichkeit, daß man trotz wirtschaftlich nützlicher Arbeit arm sein, bleiben oder werden kann und daß man trotz wirtschaftlich unnützer Arbeit oder völliger Arbeitslosigkeit reich sein, bleiben oder werden kann; ferner gegen die Möglichkeit und Wirklichkeit, daß man trotz dem Willen zur Arbeit nicht zur Arbeit zugelassen wird. Der Sozialismus will also Zustände schaffen, in denen jeder durch seine Arbeit sich und den zu seiner Obhut gehörigen Kindern oder Greisen oder sonst Schwachen und Hilflosen nicht nur ein erträgliches, nicht nur ein genußreiches, sondern ein erfülltes Leben schaffen kann.
5. Jeder Versuch, den Sozialismus in schärferen, bestimmteren, festeren Worten zu erklären, führt dahin, daß nicht das Wesen des Sozialismus, sondern einer bestimmten sozialistischen Richtung erklärt wird. Dies soll im weiteren geschehen, da die Absicht dieser Sätze natürlich ist, eine ganz bestimmte Richtung der Auffassung und des Willens, eben meine, zum Ausdruck zu bringen.
6. Noch einmal wiederholt: Der Sozialist will, daß alle nützlich arbeitenden Menschen innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft (samt den dieser Gemeinschaft Angehörigen, die zur Arbeit unfähig oder aus besonderen Gründen von ihr befreit sind) die Möglichkeit zur vollen Teilnahme am Kulturleben haben.
7. Bevor wir nach den Wegen und Mitteln sehen, dieses Ziel zu erreichen, muß gesagt werden, was unter nützlicher Arbeit, was unter einer Gemeinschaft und was unter Kultur zu verstehen ist.
8. Nützlich oder produktiv nennen wir die Arbeit, die solche Güter gewinnt, durch Veränderung herstellt, transportiert oder verteilt, die für Lebenshaltung und Kultur der Menschen einer Gemeinschaft notwendig sind. Nützlich ist auch die Arbeit, die mit dem geringsten Kraftaufwand die eben bezeichnete Arbeit organisiert. Nützlich ist jegliche Arbeit, die Hilfsmittel für die produktive Arbeit herstellt oder Hindernisse entfernt. Nützlich ist die Arbeit all derer, die den Geist und den Körper ziehen und heilen. Nützlich ist die Arbeit forschender Menschen, die darauf abzielt, Gewinnung, Veränderung, Transport und Verteilung der Lebensgüter zu erleichtern oder zu verbessern. Nützlich ist es, den erarbeiteten Dingen oder den Formen der Arbeit Schönheit zu geben. Nützlich ist es, den arbeitenden Menschen Freudigkeit, Erhobenheit und tiefe Gefühle zu schenken.
9. Doch sind die zuletzt Genannten, die Forscher, die Künstler und die Dichter, schon auf der Grenze. Ihre Tätigkeit und die besondere Anlage ihres Geistes drängen dahin, sich aus dem Bereich produktiver Arbeit zu entfernen. Die Wissenschaft wird zur Weisheit; die Kunst wird ein Handwerk für sich, das nicht mehr den anderen Gewerken dient, sondern den tiefsten Nöten und Trieben der Menschlichkeit; die Dichtung löst sich von Schlacht, Jagd, Feld und Weinbau und aller übrigen Arbeit: sie wird Kunst.
10. Nützlich ist nur zu nennen, was dem Leben dient, nicht das Leben selbst. Niemand wird je das Essen, das Gehen und Stehen, das Schlafen oder den Stuhlgang, das Zeugen und das Gebären eine nützliche Arbeit genannt haben. Arbeit ist eine Lebensbetätigung zweiter, künstlicher Ordnung, die im Zustand, in der Bevölkerungsdichtigkeit und dem Klima der Kultur zur Lebensbetätigung der ersten oder natürlichen Ordnung nötig ist. Die Weisheit, die Kunst und das Dichten nun sind eine Lebensbetätigung dritter Ordnung, deren Namen wir gleich nennen wollen: Religion. Sie ist die zu neuer Natur gewordene Künstlichkeit, die nicht mehr dem Leben dient, sondern selbst Leben ist, wie die natürlichen Tätigkeiten, Empfindungen und Triebe unserer Natur, aus denen sie ihren Stoff nimmt. Nimmt sie ihren Stoff nicht aus dem Leben, der Schönheit seiner Stille und seiner Leidenschaften, sondern aus dem Reich zweiter Ordnung, den Mitteln zum Leben, aus der Sphäre des Nutzens und der Arbeit: dann ist das ein Zeichen, daß die Arbeit gehemmt und desorganisiert ist, daß die Konflikte, Wildheiten und Qualen, die allein dem natürlichen Leben vorbehalten bleiben, in ein Reich eingedrungen sind, wohin sie nicht gehören: in den Bereich der Arbeit, die dem Leben dienen soll.
11. Denker, Dichter und Künstler dienen nicht dem Nutzen, sondern dem Luxus oder der Religion. Die Frage ist heute nicht zu beantworten, was ratsam ist: ob in sozialistischer Gemeinschaft diese erhöhten Menschen, deren es immer nur wenige gibt, gut tun, sich produktiver Arbeit zu widmen und für die Religion oder den Luxus die vielen und langen Feierstunden zu erwarten; oder ob die Gemeinschaft sie königlich erhalten und pflegen wird, wie es einst mit den Priestern geschah. Vielleicht auch so: daß sie in jungen Jahren selbstverständlich der Arbeitgemeinschaft angehören, bis ihre Größe so siegreich durch dringt, daß sie nur noch dem Geist und der Einsamkeit oder dem Fest leben können.
12. Es ist nicht wichtig, heute zu sagen, wie dieses Besondere kommen wird; denn gewiß ist hier nicht die Rede von Professoren, Journalisten, Dichterdilettanten und Denkmalmachern, sondern von wenigen, die man vielleicht immer, auch in den Zeiten sozialistischer Organisation der Arbeit, daran erkennen wird, daß sie verkannt werden. Mögen sie sich schließlich quälen und leiden: wer Luxus schafft, weil sein Leben luxuriert, muß auch im Schmerzerleiden üppig sein.
13. Zur Kultur eines Volkes oder einer Gemeinschaft gehören dem Klima entsprechende Ernährung, Körperpflege, Kleidung und Wohnung, reichliche Muße und, um sie zu ermöglichen, Anwendung aller den Volks oder Gemeinschaftskräften erreichbaren Technik und, um die Muße schön zu erfüllen, die Mittel zu vielerlei Luxus der Sinne und Triebe, des Leibes und Geistes. Auch darüber ist nichts Bestimmteres in dieser Allgemeinheit zu sagen: Klima, geschichtlich gewordene Bedürfnisstufe, Technik und Luxusgewohnheit bedingen einander und schreiben einander das Maß vor.
14. Jetzt aber, wo wir darangehen, zu sagen, was ein Volk oder eine Gemeinschaft ist, können wir uns nicht mehr, wie es bisher noch einigermaßen möglich war, mit den üblichen Ausdrücken einig halten. Es ist uns bisher gelungen, viele Besonderheiten durch sehr allgemeine Bemerkungen zu umfassen. Volk aber ist etwas, das es nicht gibt; und hier läßt sich nur sagen, daß Volk das Gefühl einer Zusammengehörigkeit vieler Menschen im Gegensatz zu anderen solchen Zusammengehörigkeitgefühlen ist, daß aber Natur und Grundlage solcher Gefühle in jedem Fall ihre besonderen historischen Bedingungen haben, die nicht nur keine gemeinsame Wurzel, nicht nur keinen gemeinsamen Gattungsbegriff haben, sondern einander nicht einmal ähnlich sind.
15. Volk nämlich, wie man es heute meint, ist ein Mischgebilde aus Nationalität, staatlichen Grenzen und Wirtschaft oder Kultureinheit. Der Staat und seine Grenzen sind elende Zufallsprodukte der erbärmlichsten Erscheinungsformen sogenannter Geschichten Nationalität, Rasse, Stammesqualitäten sind tiefgewurzelte und verbindende Individualeigenschaften. Die französische Nation ist ein Sprachverein und darum ein Geistverband und eine Religiongemeinschaft: Rabelais, Molière, Voltaire sind ihr Fürsten und Könige. Ebenso die deutsche Nation: das Volkslied ist die Magna Charta dieses glorreichen Bundes, und Goethe ist der König darin. Und so haben die Juden ihre Einheit und ihren Jesaias und Jesus und Spinoza. Es gab einmal einen anderen Geistverein, der nicht dem Geist der Sprache unterworfen war und vor den Grenzen des Staates noch viel weniger halt machte als die Sprache: die Christenheit mit ihrem Dante und ihrer Gotik, die von Moskau bis nach Sizilien und Spanien reichte. Ihr Ursprung war wie der Ursprung allen Geistes: aus den Köpfen, Sehnsüchten, Herzen der Wenigen und aus den dumpf empfundenen Nöten und Begierden der Völker; ihr Sinn aber, als sie vollendet auf ihrer Höhe stand, war: Ausdruck, Zeichen und Verklärung, Kunst also einer Kulturgemeinschaft zu sein. Die Christenheit mit ihren gotischen Türmen und Zinnen, mit ihrer Symmetrie des Unsymmetrischen, mit ihrer Freiheit in schöner und strenger Gebundenheit, mit ihren Innungen und Brüderschaften war ein Volk im höchsten und gewaltigsten Sinn: innigste Durchdringung der Wirtschaft und Kulturgemeinschaft mit dem Geistesbund.
16. Dies aber ist vorbei; und wann der göttliche Überwältiger kommt, der über unserer Kultur die Fahne des Geistes spannt und den Sturm des Wahnes wehen läßt, wissen wir nicht. Es gilt, uns einzurichten und klar zu sehen. Die große Einheit ist zerrissen; eine Unzahl kleiner Geistgemeinschaften ist da und will leben und hat keine notwendige Verbindung mit irgendeiner Gesamtkultur. Man begreife doch: das Spinnen und Weben, das Schmieden und Zimmern war einst durchdrungen von einem Geist. Mit unserer Fabrikation und mit unserem Ackerbau, mit unserem Handel und Wandel hat kein Geist und kein Wahn zu tun. Chemiker, Techniker, sogar die Juristen, soweit sie Organisatoren sind (ach Gott!), haben damit zu tun, als nützliche Menschen. Aber der Streit um Darwinismus oder Teleologie, um Willensfreiheit, um Materialismus und Spiritualismus steht auf einem ganz anderen Feld: dieser Geist hat keinen Körper als den Geist selber.
17. Friedrich Nietzsche hat den denkwürdigen und, wenn schöne Anspannung aller Kräfte so genannt werden darf, gewaltigen Versuch gemacht, dem Geiste diesen Körper, diese Beziehung zum Leben, diese Nützlichkeit zu geben. Wenn ich ihn recht verstehe, war der Antrieb seiner heftigen Gedanken wie seiner zartesten Stimmungen dieses Bedürfnis: die verstiegensten Phantasien und Konstruktionen des Geistes, die abgründlichsten Versunkenheiten der Seelen hinab und hinauf zu holen zu den lebendigen Beziehungen der Menschen untereinander: allen Geist aus moralischen Bedürfnissen und Kräften zu erklären, alle Religionen und Geistgespinste auf die Bedürftigkeit oder die Machtfülle, jedenfalls also auf das Zusammenleben der Menschen, auf Ethos und Ethnos zurückzuführen. So einfach aber liegen die Dinge nicht: das Christentum war der Geist der Völker des Mittelalters, nicht, weil es der Ausdruck ihres Lebens und Mitlebens war, nicht, weil es irdische und körperhafte, moralische, Menschen verkettende Bedeutung hatte, sondern im Gegenteil: weil es dem Leben und Mitleben der Menschen einen überirdischen, einen geisthaften Sinn gab; weil es alle Zwecke der arbeitenden oder einander bekriegenden Menschen aufhob, hinaufhob zu einem Zweck der Verklärung und Erlösung. Solchen Sinn der Welt aber gibt der Geist der jetzt lebenden Menschen nicht her; solcher Zweck des Lebens geht in unseren Geist nicht hinein. Und so ist schließlich der Versuch Nietzsches, dessen Geist nicht genug Dunkelheit hatte, dessen Kopf zu hell war, nicht mehr gewaltig, sondern gewalttätig zu nennen: sein großes Sehnen hat ihn endlich mit kleiner Aushilfe zufrieden sein lassen. Er ertrug es nicht, vor geschlossenem Tor zu stehen. Aber wir müssen es ertragen. Es ist geschlossen.
18. Mit dem Sprachverein, den man Nation nennt, steht es aber genau ebenso. Die Nationalität ist eine schöne und liebenswürdige Wahrheit; ihre Verbindung mit dem Wirtschaftsleben ist eine Lüge. Es gibt deutsche Sprache und im Zusammenhang damit deutsche Sitten, deutsche Kunst, deutsche Dichtung. Aber es gibt nicht: deutsche Kohle und deutsches Eisen, deutsche Nähmaschinen und deutsche Chemikalien. Man komme nicht mit gewissen Erzeugnissen, die noch heimatlichen Charakter bewahrt haben: Nürnberger Lebkuchen, Westfälischen Schinken und dergleichen. Traurig und elend genug, daß man nicht mehr viel finden kann, wenn man Heimaterzeugnisse aufzählen will. Es wird die Zeit kommen, wo die Arbeit wieder mit der Heimat, mit der Gemeinde und der Landschaft zusammengewachsen ist. Aber nicht mit der Sprache: Heimat und Sprache haben zwar einiges, aber nichts Entscheidendes miteinander zu tun. Die Heimat ist die Verbindung des Menschen mit der Erde, dem Klima, der Landschaft, vor allem den geologischen Bedingungen ; die Heimat ist der Körper; die Sprache aber ist der Geist. Verbunden sind Heimat und Sprache durch die Sitten und Bräuche: im engsten also. Die Sprache aber ist beflügelt und weht über die Heimat weit hinaus. Die Arbeit dagegen, die auch Heimat und Erdreich verlassen hat, ist nicht die Wege der Nation oder Sprachgemeinschaft gegangen und kann sie nicht gehen, so wenig, wie man mit einem Brotmesser Geige spielen kann. Die Verwirrung im Denken dieser getrennten Dinge ist so unsinnig, daß man grob und dumm reden muß. Die Sprache ist mit der Landschaft verwachsen im Idiom, im Sprachgebrauch, im Dialekt; sie wächst darüber hinaus durch die Buch-, Schul- und Kanzelsprache, durch die Prosa der Denkenden und Belehrenden und die Dichtungen der großen Poeten. Da haben wir die Nation. Die Arbeit nun hat, ganz anderen Bedingungen folgend, die Heimat auf dem Lande und die Zünfte in den Städten verlassen und hat größere Märkte des Austausches aufgesucht. Daß der Schein entstand, diese ganz getrennten Dinge hätten etwas miteinander zu tun, kommt nur daher, daß die beiden Erscheinungen mit dem Staat verquickt und umschlossen wurden. Der Staat hat Bräuche, Sitten und Sprachgewohnheit der Heimat nicht hindern können, zu großer Kunst und umfassendem Sprachgeist zu wachsen; aber die Entwicklung der großen Wirtschafts- und Kulturgemeinschaften, wie sie dem Prozeß der Produktion, der Technik, dem Austausch entsprechen, hat er verfälscht, gehindert und, wo sie werden wollten, zurückgedrängt und vernichtet.
19. Da also der Sozialismus mit den Fragen des Geistes gar nichts zu tun hat, nur so viel zu tun hat, daß er solche geistige Tendenzen, die sich ihm in den Weg stellen, besiegen muß, da er keinerlei Berührung mit Sprachvereinen hat, es sei denn, daß die falsche Auffassung der Nationalität sich ihm wiederum in den Weg stellt, da es ihm nur um die Kultur geht und um die Möglichkeit, daß alle daran teil haben: deshalb ist zu sagen, daß das Volk, innerhalb dessen der Sozialismus walten kann, daß das Volk mit sozialistischen Einrichtungen nicht irgend ein Staat und nicht eine Nation ist. Volk ist vielmehr etwas, das es seit Jahrhunderten nicht mehr gibt, das erst wieder geschaffen werden muß. Volk ist eine Wirtschaftsgemeinschaft. Volk ist ein Kulturverband. Wir haben keinen einenden und bannenden Geist; wir alle zusammen haben ihn nicht. Wir haben Einzelgeist, Sprachgeist, Gruppengeist ; aber der Gott des Volkes ist dahingegangen. Ein Volk von Materialisten, wirtschaftlich gesprochen, gilt es also; um der Kultur, um der Muße, um der Geister willen muß an die Stelle des Staates die Wirtschaftgemeinschaft, das Kulturvolk treten. Das Volk also, von dem wir von nun an sprechen, hat mit Staatsgrenzen und Nationalität gar nichts zu tun. Es ist eine Verbindung zwischen den Menschen, die tatsächlich da ist, die aber noch nicht Verband und Bund, noch nicht höherer Organismus geworden ist. Und da denn doch jeder solcher höhere Organismus, wenn auch in noch beschränktem Maß, wiederum Geist und sogar Wahn ist, sagen wir: Zunächst muß dieser neue Volksgeist, muß dieses neue Volk da sein, ehe der Sozialismus anderswo leben kann als im Geist und im Wunsch einzelner, atomisierter Menschen. Der Sozialismus kann leben, wirklich leben, als Wirklichkeit leben nur in einem Gefüge zweiter, höherer Ordnung : in dem neu werdenden Organismus des Volkes. Das sozialistische Organisieren ist ganz etwas anderes, als heute die Oberflächlichkeit meint. Auf dem Grunde des Produktion- und Zirkulationsprozesses müssen sich die Menschen zusammenfinden, zusammenwachsen zu einem Gebilde, zu einer Zusammengehörigkeit, zu einem Organismus mit unzähligen Organen und Gliederungen. Nicht im Staat wird der Sozialismus Wirklichkeit werden, sondern draußen, außerhalb des Staates, zunächst, solange diese überaltete Albernheit, dieser organisierte Übergriff, dieser Riesentölpel noch besteht, neben dem Staat.
20. Betrachtet man sich die seltsam zitternde, zuckende, krause und verrückte Linie, die die Grenzen eines Staates, wie etwa des Deutschen Reiches, ausmacht, so gewahrt man sofort, daß in diesem Gebilde eines kindisch gewordenen oder gebliebenen Entwerfers nur ein Strich Wirklichkeitsinn hat: die Küste. Man könnte, von einem erhöhten Standpunkt aus, freilich sagen: die Küstenlinie sei auch wirr und wahnsinnig genug, und der Geist, der die Staaten geschaffen, sei eben darum dem schöpferischen Naturgeist ähnlich, weil keine Vernunft darin sei, sondern nur die zwecklose Notwendigkeit der Natur. Das wäre so eine echte, rechte Pfaffen-, Sophisten- und Feiglingsrede. Denn ob die Natur Zwecke hat oder nicht, kann hier völlig außer Betracht bleiben, Menschenzwecke hat sie jedenfalls nicht. Der Staat aber will doch eben offenbar ein Gebilde sein, das den Zwecken der Menschengemeinschaft dient. Ich weiß, daß um diese Bemerkung herum die dürren und klappernden Gespenster des Naturrechtes, Vernunftrechtes und der historischen Rechtsschule spuken; auch die Darwinisten möchten sich wohl gern zu Wort melden. All dies Gelehrtengespräch sei unbeachtet gelassen; wir kommen darüber hinweg, wenn wir ohne weiteres zugeben, nicht zugeben vielmehr, sondern als eine Unterstützung unserer Thesen aufstellen, daß die Geschichte der Menschen und die Entstehung der Staaten in der Tat trostlose Ähnlichkeit mit dem Wachsen geologischer Schichten und ähnlichen Naturprozessen hat. Die Häufung vieler kleiner Unbewußtheiten, veränderlicher Anpassungen und Unterwerfungen in Verbindung mit gelegentlichen Katastrophen hat wirklich die Staaten aufgebaut und die Geschichte gemacht. Trotzdem ist es das Kennzeichen des Menschen, daß er nach seiner Erinnerung und seinem Wissen, seiner Vergleichung und seinem Denken, der Bewußtheit seiner Triebe und seinem notwendigen und darum mächtigen Willen sein Leben und sein Zusammenleben bestimmt. Der Mensch setzt sich Zwecke und benutzt historisch überkommene Einrichtungen und Gebilde, benutzt die Möglichkeiten der Wirklichkeit, nicht, wie sie dumpf, aus ihrer Schwerkraft heraus weiterdrängen oder in ihrer Trägheit beharren wollen, sondern wie er will. Dieser Wille ist notwendig; ein dummer Schulausdruck sagt dafür: unfrei. Die Lehre von der Unfreiheit des Willens leugnet nicht, daß ein Wille sei, leugnet nur, daß irgendein Wille anders sein könne, als er ist. Das ist selbstverständlich. Der Wille, das heißt: das äußerst komplexe Gemenge aus Trieben, Lustgefühlen, Ahnungen und Ideenassoziationen, das sich als Ouvertüre, begleitende Musik und Finale um die Handlung schmiegt (wo es nicht in willensreichen, aber tatarmen Neurasthenikern Musik ohne Handlung bleibt), der Wille ist durch Notwendigkeit ein Wille, ist kein Kohlkopf und keine Haselnuß, sondern muß Wille sein; und kann nicht Erdäpfel wollen, wenn er Burgunderwein will. Eben darum ist er Wille; und man möchte fast sagen: Je gezwungener ein Wille ist, um so zwingender ist er. Doch ist dies so nur in rhetorischer Knappheit gesagt und müßte anders lauten, wenn hier für eine längere nuancierende Auseinandersetzung Zeit wäre. Denn freilich gibt es in keiner Notwendigkeit, also auch nicht in der des Willens, Steigerungunterschiede; alles ist gleich notwendig, wie es ja dasselbe ist, ob ich sage: Etwas ist notwendig, oder einfach: Es ist. Wohl aber gibt es Unterschiede in der Herkunft dieser Notwendigkeit. Es ist etwas anderes, ob der Wille aus dem Willen geboren ist oder aus dem Unterleib. Ob der Mensch wollen muß, weil es ihn mächtig ins Verstiegene und Prachtvolle treibt, oder weil die Peitsche des Elends oder der Roheit über ihm klatscht. Ob der Staat weiterwächst, weil viele kleine Erbärmlichkeiten möchten und nicht möchten, oder ob er überwunden wird, weil gewaltige Sehnsüchte und Leidenschaften, Einsichten und Formtriebe sich ans Gestalten machen. Es ist ein Unterschied, ob ein wilder Irrsinn aus der Vergangenheit her den Griffel führt oder ob künstlerischer Sinn und die Intuition des Genies nach dem Werdenden hin klare Konturen ziehen.
21. Der Wahnsinn des Staates ist, daß er ein Zweckgebilde ist, daß er aber Formen und Grenzen des Raumgebildes hat.
22. Es gibt im Gemeinschaftleben der Menschen unserer Zeit nur ein zweckmäßiges Raumgebilde, von dem später zu reden sein wird: die Gemeinde und den Gemeindeverband.
23. Die Grenzen der Gemeinde sind durchaus sinnvoll (was natürlich nur den Wahnsinn, aber im Einzelfall nicht den Unsinn und die Zweckwidrigkeit ausschließt): sie umschließen eine Örtlichkeit, die natürlich da aufhört, wo sie aufhört.
24. Der Staat aber ist durchaus nicht eine ausgedehnte Örtlichkeit, wie die Gemeinde eine beschränkte ist. Was die Menschen im Staat vereinigt, ist nicht das Zusammen wohnen, sondern ein wirrer Haufe von Zwecken, die durch Geschichte, Herkommen und Gewalt ineinander genestelt sind.
25. Daß der Staat durch Wanderung und Niederlassung von Stämmen entstanden ist, wissen wir. Da war ein Volk, das besetzte und besaß dann ein Land. Staat und Land waren eins: der Staat war eine Örtlichkeit, die besiedelt, bestellt und verteidigt werden mußten Es war das Stammesland, das Land der Väter, das Vaterland. Die Erde, die bestellt wurde, die Menschen, die darauf zusammenlebten, und die Einrichtungen, die sie sich für ihre Zwecke gaben: diese drei waren eins; und Einrichtungen und Gesetze waren verbunden mit den Ahnen und dem Ahnden der Menschen. Sie wurzelten im Boden und schwebten doch wie eine Wolke als Geist der Berge über dem Volk. Es war die echte Dreieinigkeit: Gott Vater der Boden, darauf sein Sohn, das Menschenkind, und darüber der Heilige Geist.
26. Jetzt aber gibt es keinen Stammesstaat mehr und kein Vaterland und nur geheiligte Geistlosigkeit. Der Geist unserer Zeiten, ihre Sprache und Kunst, hängt nicht über dem Staat; die Wirklichkeit, von der diese Gebilde aufgestiegen sind, ist eine Wirklichkeit und ein Volk, die erst kommen sollen. Wir müssen den Knäuel Staat auflösen, wir müssen scheiden und trennen und destruktiv sein. Die Gemeinde des Geistes ist nicht an die Örtlichkeit gebunden, und sofern sie es noch manchmal ist, ist sie doch nicht an den Staat gebunden. Das Deutschtum ist nicht das Zusammenwohnen, Zusammengedrängtsein eines Stammes, dem noch die Erinnerung an Unbehaustheit, Wanderzeit und Urbarmachung des Bodens im Blut sitzt, ist nicht ein karrékampfbereiter Eroberer, die zwischen sich ein besiegtes Volk niederhalten und zum Schutz des Landes nach außen hin stets in Wehr und Waffen sein müssen (die Aufrechterhaltung und Auffrischung all dieser Dinge sind glatte Lügen und Geschichtsnarrheiten) : Deutschtum ist Geist, ist verbindende Eigenschaft, ist Sprache. Wären wirklich der Sprachgeist und das Deutschtum die Grundlage des sogenannten deutschen Staates oder Reiches, dann müßten die Kriege dieses Staates zusammenhängen etwa mit dem Krieg, den Lessing gegen Corneille führte, und die inneren Einrichtungen des Deutschen Reiches hätten eine Verwandtschaft mit dem Rhythmus und dem Geist goethischen Gedichtes. Kaum Gymnasialprofessoren glauben daran.
27. Es ist ein großes, weitreichendes Ding, wenn es erst einmal so weit ist, daß der Geist der Menschen in den öffentlichen Angelegenheiten ebenso vom Aberglauben gereinigt ist, wie in den privaten Dingen des Wissens und der Moral einige (wenige) durch die Jahrhunderte lange Arbeit weiser Menschen heute schon davon befreit sind. Darum kann gar nicht oft genug gesagt werden: Der Staat ist kein Land. Land ist Boden, nichts anderes; die andere, die übertragene und lügnerische Bedeutung ist erst entstanden und geglaubt worden, als die Landesherren keine Landesherren mehr waren, aber immer noch Landesherren sein wollten. Mit dem Boden zu tun haben die Landwirte und ihre Vereine, die Hausbauer und Bewohner, die Grundbuchvereine (wenn es welche gäbe; aber um des Grundbuches willen braucht man wahrhaftig keinen Territorialstaat) und die Gemeinden. Alle diese Einzelwesen sind vereinigt in dem, was man in gutem Deutsch ein Amt nennt. Amt oder Amtsbezirk ist ein Gemeindeverband. Der Staat ist nicht zur Verteidigung des Landes da; vielmehr muß umgekehrt immer noch ab und zu das Land und der heimische Herd verteidigt werden, weil Staaten da sind
28. Wir nähern uns jetzt der Erkenntnis, was Staat eigentlich ist. Staat ist ein Wahn oder eine Illusion. Damit ist nichts Schlimmes von ihm gesagt; Wahn oder Illusion ist nur ein anderer Name für Geist; Wahn oder Illusion ist alles, was die Menschen über Fressen, Saufen und Begatten hinaus haben; Wahn ist auch in unser Essen, Trinken und Lieben hineingekommen. Wahn ist nicht nur jedes Ziel, jedes Ideal, jeder Glaube an Sinn und Zweck des Lebens und der Welt: Wahn ist jedes Banner, dem die Menschen folgen; jeder Trommelschlag, der die Menschen in Gefahren führt; jeder Bund, der die Menschen vereint und aus einer Summe von Einzelwesen ein neues Gebilde, einen Organismus schafft. Wahn ist das höchste, was der Mensch hat; immer ist etwas von Liebe in ihm; Liebe ist Geist und der Geist ist die Liebe: und Liebe und Geist sind Wahn. Man glaube ja nicht, der Staat sei alter Wahn, der umgestoßen oder erneuert oder ersetzt werden müsse. Es gibt nichts der Verehrung Würdigeres als alten Wahn, selbst wenn er im Hin schwinden ist oder im Wege steht; es gibt nichts Mächtigeres als alten Wahn, der noch lebendig ist und von Geschlecht zu Geschlecht geht; und es ist immer etwas Häßliches um neuen Wahn, der trüb, übergreifend und unsicher ist wie junge Hunde oder junger Wein. Der Staat ist nicht so ein alter Wahn und ist nicht so ein wunderlich unheiliger junger Wahn. Der Staat ist nie jung gewesen und kann nie heilig werden. Er ist infam, ganz anders als das, was Voltaire infam genannt hat. Es gibt aber echten Wahn und falschen Wahn. Es gibt lebendigen und notwendigen Wahn, und es gibt hergestellten und auferlegten Wahn Der echte Wahn sitzt im Innern des Individuums, und es schafft die Gleichheit des Wahnes in den Mehreren das äußere Gebilde. Der echte Wahn ist verbindende Eigenschaft. Die Liebe ist eine Bereitschaft und Wirklichkeit, die im Menschen drinsitzt; sie hat die Familie gegründet; sie und ihre dionysische Hingabe hat die Tragödie und die Götterbilder geschaffen; so auch war das Wesen des Christentumes, als es im Mittelalter lebendig war: Liebe und menschenverbindender, allverbindender Geist. So wäre der Sprachverband der Nation, wenn der Staat ihn nicht bedrängte und beengte; so ist die Rasse der Juden trotz allem Staat; so ist es überall, wo eine Wirklichkeit: Klima oder Geblüt oder Geschichte oder zusammenschweißende Not, irgendwo in den Seelen eine Gleichheit und aus den Personen einen Bund, eine nicht juristische, sondern geistige Person, einen Organismus höherer Ordnung geschaffen hat. So war der Stammesstaat, von dem wir gesprochen haben; so war die Stadtrepublik. Aber so ist nicht der Staat. Der sitzt nicht in den Herzen und Seelen der ihm Angehörigen. Der Staat ist nie zur Individualeigenschaft, nie zur Wahrheit, nie zum echten Wahn geworden. Vergeblich hat es seit dem Ausgang des Mittelalters der Staat versucht, an die Stelle der verfallenden Städterepubliken, Stammesbünde, Gilden und Brüderschaften, Dorfgemeinden, Stiftungen und Korporationen zu treten. Der echte Wahn trägt den Geist in alles hinein, was er berührt; er hat den alten Städten, den Häusern, den toten Dingen des Gebrauches Form und Schönheit und Leben gegeben; der Staat aber hat keinen Geist, hat nie einem Dinge Schönheit geschenkt, hat es kalt und tot gelassen oder gemacht. Form an toten Dingen ist Notwendigkeit mit dem Schein der Freiheit; die Form, in der lebendige Wesen sich zum Bunde gestalten, zu einem höheren Organismus vereinen, ist Notwendigkeit mit dem Gefühl der Freiwilligkeit. Die Form und Unform des Staates aber ist der Zwang und die Gewalt.
29. Darum ist der Staat ein falscher Wahn, weil er Zwecke, die nicht durch Örtlichkeit, die überhaupt nicht miteinander verbunden sind, die nur in kleinem Kreis oder umfassenden, für sich bestehenden Verbänden zu erreichen sind, an die Örtlichkeit, das Territorium, das Raumgebiet anklebt. Darum ist der Staat, obwohl er kein Nationalstaat ist, immer wieder genötigt, sich in den wundervollen echten Wahn der Nationalität wie in einen Lügenmantel einzuhüllen: so aber wird die Sache nur schlimmer, die abscheulichen und schmutzigen Nationalitätenkämpfe innerhalb des Staates entstehen daraus, wo doch die Angelegenheiten jeder Nation von ihr selbst (das heißt: vom Sprachverein) zu erledigen sind, und die Staatskriege werden durch nationale Überhitzungen lügnerisch motiviert, wo doch nie in Wahrheit ein Krieg um der Sprache und Sitten willen geführt worden ist. Die Nationalität ist Echtheit und Liebesbund und Geist genug und braucht keinen Staat, um als Zweck in den Menschen zu wohnen und aus ihnen heraus ein Gebilde der Schönheit zu schaffen. Die anderen Zwecke aber, die noch in den Staat eingesperrt sind, werden nur dann frei werden und Vereine der Menschen gründen, wenn sie vom Wahn echt und ganz durchtränkt, durchgeistigt sind. Wenn die Verbindung der Menschen nützlicher Arbeit Liebe sein wird, Liebe zum Gleichen nämlich, Liebe zur Sache, denn für Menschen untereinander ist Gerechtigkeit gegen alle besser als Liebe zu etlichen, und wenn dann in Gemeinden und Bünden jeder nach Wunsch und Geist an den Tisch der Kultur geht: dann wird kein Staat mehr sein, es sei denn im Verein der Staatsfreunde, die dann nach Herzensdummheit unter sich Staat spielen mögen, so wie sie heute Staat spielen, die anderen aber in Ruhe zu lassen haben.
30. Da den Menschen der verbindende Geist, der Gruppengeist und der Gesamtgeist, der Geist der Verständigung in den Dingen der Selbstverständlichkeit und der Geist der Freiheit und des Charakters in den Dingen der Selbständigkeit abhanden gekommen oder traurig geschwächt worden sind, müssen sie in anderer Weise dirigiert, befehligt und in Schranken gehalten werden: der Geist wurde ersetzt durch die Geistlosigkeit oder den Staat. Der Staat oder die an Gesetze gebundene und mit den Wassern der Gewalt ausgerüstete Bürokratie ist die letzte Instanz in all den menschlichen Angelegenheiten, für die er jeweilig Geltung hat, und den Umfang seiner Gewalt bestimmt eine Abwechslung von tollem Interesse und abgespannter Gleichgültigkeit, die man fast Mode nennen möchte. Es gibt kein Gebiet des Individuallebens und Gruppenlebens, das nicht schon staatlich geregelt worden wäre, und es sind zu den verschiedenen Zeiten stets verschiedene Gebiete, die gerade staatsfrei sind. Früher kümmerte er sich um Rauchen und Kaffeetrinken, aber nicht um die Eheschließung; jetzt hat er dafür eine Bedürfnisanstalt errichtet und läßt die anderen Genüsse frei. Ich kann nicht ins einzelne gehen, will auch die Ruhe bewahren und von den Missetaten nicht weiter reden. Ich stelle nur ein paar Thesen auf. Erstens: es ist unzweckmäßig und undurchführbar, die verschiedensten Zwecke durch die Zentralgewalt des Staates zu regeln. Jeder Zweck braucht seinen besonderen Zweckverein; und wo sich die Zwecke berühren, bedarf es der Zweckverbände, und wo sich die Zwecke durchkreuzen, bedarf es der Schiedsämter. Zweitens: es ist kulturhemmend und kulturbedrohend, daß der Staat die Tendenz hat und haben muß, nicht nur die Zwecke vereinigter Menschen zu erreichen, sondern Selbstzweck zu sein. Selbstzweck sein sollte nur der echte und edle Wahn. Die Menschen verehren im Staat eine unsichtbare und heilige Macht, der sie sich unterwerfen. Die Menschen sollen unsichtbare und heilige Macht verehren und sich ihr unterwerfen. Über allen Zwecken des Lebens soll ein Sinn, eine Heiligung, ein Wahn, ein Etwas wohnen, um dessentwillen gelebt und mitgelebt wird. Der Staat aber, wenn man ihm die Zwecke nimmt, die Zwecke, die er nicht erreichen kann und die er verpfuscht, ist überdies nichts, ist ein vollendetes Nichts. Es stellt sich also heraus, daß der Staat um der Menschen willen da ist, daß er aber den Menschen nicht halten kann; daß die Menschen um des Staates willen da sind, daß er aber dem Menschen nichts bedeuten kann. Wir finden es nicht, das Dunkle und Überwältigende, was uns, was uns allen miteinander etwas bedeuten kann; die Bedeutung des Lebens und der Welt finden wir nicht; Suchende sind wir. Das aber können wir finden, das uns zum Leben helfen und dienen kann: die zweckmäßige Art der Menschenvereinigung um des Nutzens und der Kultur willen. Wer weiß, ob nicht, wenn wir endlich den Zwecken des Lebens, die eigentlich völlig klar vor uns liegen, stark und charaktervoll nachgehen, ob dann nicht auch das Rätsel des Lebens, der große, hinreißende Wahn in der neuen Menschenkultur wieder aufsteigt? Das mag sein oder nicht sein: der Staat jedenfalls ist in den irdischen Dingen ein Tropf und für himmlische Sehnsucht ein Nichts.
1907
1908
Das erste Flugblatt: Was will der Sozialistische Bund?
Der Sozialistische Bund will all die Menschen zusammenfassen, die mit dem Sozialismus Ernst machen wollen.
Man hat euch gesagt, die sozialistische Gesellschaft könne erst in einem unbestimmten, fernliegenden Zeitpunkt an die Stelle der Ausbeutung, der Proletarisierung, des Kapitalismus treten. Man hat euch auf die Entwicklung verwiesen.
Wir sagen: der Sozialismus kommt gar nicht, wenn ihr ihn nicht schafft.
Es leben welche unter euch, die sagen: erst muß die Revolution kommen, dann kann der Sozialismus beginnen.
Aber wie? Von oben her eingeführt? Staatssozialismus? Wo sind die Organisationen, die Anfänge, die Keime zu sozialistischer Arbeit und gerechtem Austausch unter sozialistischen Arbeitsgemeinden ? Nirgends sind auch nur Spuren, auch nur Gedanken daran, auch nur Erwägungen der Notwendigkeit zu sehen.
Sollen wir in jenem Zeitpunkt auf die Advokaten, die Politikanten, die Vormünder des Volkes angewiesen sein?
Die Völker haben von jeher üble Erfahrungen mit ihnen gemacht.
Wir sagen: umgekehrt wird ein Schuh daraus! Wir warten nicht auf die Revolution, damit dann Sozialismus beginne; sondern wir fangen an, den Sozialismus zur Wirklichkeit zu machen, damit dadurch der große Umschwung komme!
Alle Organisationen, die sich das arbeitende Volk bisher geschaffen hat, sind Organisationen zum Kampf ums Leben innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Sie sind notwendig, damit die einzelnen Individuen und Branchen weiterexistieren können und kleine Vorteile erringen; aber aus dem Kreis des Kapitalismus führen sie nicht heraus; in den Sozialismus führen sie nicht hinein.
Der Marxismus, der eine so große und verhängnisvolle Rolle in der Arbeiterbewegung spielt, hat vorausgesagt: die Proletarisierung wird immer mehr um sich greifen, die wirtschaftlichen Krisen werden immer stärker werden, der Konkurrenzkampf der Unternehmer wird immer strenger, die Zahl der Unternehmungen immer kleiner: der Zusammenbruch des Kapitalismus müsse so kommen.
Wie ist es in Wahrheit gekommen ? Wie kommt es immer mehr?
Was tut der Staat?
Er schleift dem Elend, wenn es gar zu groß wird, die Ecken ab; er sorgt durch Versicherungs-, Schutz- und Gewerbegesetze aller Art, daß der Kapitalismus nicht an seinen schlimmsten Konsequenzen zugrunde gehe; daß es mit unserm System der Ungerechtigkeit und der sinnlosen Produktion und Verteilung der Güter weitergehen kann.
Es geht weiter mit dem Kapitalismus, das ist der Erfolg dieser gesetzgeberischen Arbeit. Es geht weiter mit dem Kapitalismus - das ist der Erfolg auch der gesetzgeberischen Arbeit der Arbeiterklasse und ihrer Vertreter. Was tun die Unternehmer?
Sie sorgen durch Truste, Syndikate, gegenseitige Versicherungen und Verträge aller Art dafür, daß die Prophezeiung der marxistischen Stubengelehrten zuschanden wird; sie machen sich keine unnötige Konkurrenz, sie helfen einander, sie machen sich nicht durchweg einander tot, sie halten sich vielfach einander am Leben und sie schränken die Krisen ein, wie sie die Produktion einschränken. Das alles vielfach auf Kosten der Arbeiter; ganz gewiß aber auf Kosten des Sozialismus. Es geht weiter mit dem Kapitalismus.
Was tun die Arbeiter in ihren wirtschaftlichen Organisationen und Kämpfen? In ihren Gewerkschaften?
In ihren Gewerkschaften sind sie innerhalb des Kapitalismus organisiert; je nach den Branchen und Proletariergruppen, die der Kapitalismus braucht. Durch ihre Versicherungen und Kassen, durch die Verbesserung ihrer Verhältnisse, ihrer Lebenslage sorgt bald da, bald dort eine Branche, daß die schlimmsten Schrecken gemildert werden, daß es weitergeht - womit? Mit dem Kapitalismus!
Denn was die Einzelnen in ihrer Rolle als Produzenten gewinnen, das verliert die Gesamtheit des Volkes und vor allem des arbeitenden Volkes als Konsumenten. Wer zahlt alles, was der Unternehmer seinen Arbeitern zahlt? Der, der die Waren braucht: der Arbeiter als Konsument.
Das alles ist nötig, solange wir im Kapitalismus tief darin sind. Aber es führt uns nicht heraus; es hält uns nur immer fester und fester darin.
Was führt uns zum Sozialismus?
Der Generalstreik!
Aber ein Generalstreik ganz andrer Art, als er gewöhnlich im Mund der Agitatoren und im Herzen der schnell hingerissenen Masse wohnt - die abends Beifall klatscht und morgens wieder zur Fabrik trottet.
Der Generalstreik, der gewöhnlich gepredigt wird, heißt: mit verschränkten Armen abwarten, wer stärker ist und es länger aushalten kann: die Arbeiter oder die Kapitalisten.
Wir aber sagen offen: mehr und mehr kommt es durch die Organisationen der Unternehmer dahin, daß die Kapitalisten es aushalten können, die Arbeiter aber nicht. In den kleinen Streiks geht es so, in den großen geht es erst recht so und im passiven Generalstreik würde es nicht anders gehen. Überlege sich's jeder mit offenen Augen! Es tut weh, die Augen weit aufzumachen und die Wahrheit zu sehen, wenn man sich an die Dämmerung und die schlechte Beleuchtung gewöhnt hat, aber es tut verdammt not!
Wir künden euch, ihr Arbeiter, den aktiven Generalstreik! Nicht von der Aktion ist hier die Rede, die wohl viele als notwendige Konsequenz des Generalstreiks gleich hinter oder neben ihm sehen. Wir fangen nicht mit dem Ende an, sondern mit dem Anfang. Es ist ja noch gar nichts für den Sozialismus geschehen, es ist noch gar nicht das Geringste von ihm getan worden: wofür wollt ihr denn kämpfen und euch umbringen lassen? Für die Herrschaft irgendwelcher Führer, die dann wohl wissen werden, was sie wollen? was sie tun? wie sie eure Arbeit und die Verteilung der Güter, die ihr braucht, anordnen?
Wäre es nicht besser, das alles wüßtet und tätet ihr selber?
Die Aktion der arbeitenden Menschen heißt Arbeit!
Im aktiven Generalstreik sind die Arbeiter so weit, daß sie die Kapitalisten aushungern, weil sie nicht mehr für den Kapitalisten arbeiten, sondern für die eigenen Bedürfnisse.
Ihr Kapitalisten, ihr habt Geld? Ihr habt Papiere? Ihr habt Maschinen, die leer stehen?
Eßt sie auf, tauscht sie untereinander, verkauft sie euch gegenseitig, - macht, was ihr wollt! Oder - arbeitet! Arbeitet wie wir. Denn Arbeit könnt ihr von uns nicht mehr bekommen. Die brauchen wir für uns selbst. Wir haben sie nicht mehr im Rahmen eurer unsinnigen Wirtschaft, wir verwenden sie für die Organisationen und Gemeinden des Sozialismus.
So wird es einmal heißen. Dies und nichts andres kann der Anfang des Sozialismus sein.
»Oh weh! das ist ein weiter Weg. Jetzt sollen wir erst anfangen? Und wir dachten, wir seien schon nahe am Ziel!«
Wie könnt ihr nahe am Ziel sein, da ihr noch keinen einzigen Schritt getan habt?
Begebt euch nur auf den Weg: und gleich sehet ihr das Ziel leibhaft vor euch.
Der allererste Schritt ist: daß ihr die Wahrheit hört. Sie schmeckt bitter, wie manche Wurzel, aber wenn sie wächst, wird sie süße Früchte tragen.
Dies ist unser erstes Wort an euch, aber ihr sollt mehr hören. Ganz genau soll euch gesagt werden, wie man aus dem Kapitalismus austritt, wie man ihm den Dienst verweigert, wie man den Sozialismus beginnt, wie man ihn fortführt, bis der Kapitalismus - aus innerer Einsicht oder aber aus äußerer Notwendigkeit - zur Kapitulation gezwungen ist.
1908
Das zweite Flugblatt: Was ist zunächst zu tun?
Wir wollen mit dem Sozialismus Ernst machen. Was also ist zunächst zu tun?
Dem deutschen Volke fehlt jeder Mut, jede Initiative, jeder Glaube an die freie Tat. Auch die Besten unter ihnen haben sich ans Warten gewöhnt; bei jedem Vorschlag zu selbständiger Handlung fragen sie gleich: »Aber was wird man uns in den Weg legen?« Die einen warten auf das, was sie die Revolution nennen; die andern auf die Entwicklung; die dritten auf die Dummheiten der Gegnern die vierten auf Parlament und Regierung.
Und eine heillose Angst haben sie fast alle vor dem, was sie das Experiment nennen, vor den Fehlschlägen und vor den Niederlagen.
Und vor lauter Angst vor den Niederlagen merken sie nicht, daß das, was sie in fünfzig Jahren getan und nicht getan haben, nichts ist als eine einzige große, fortgesetzte Niederlage.
Nur wer die Niederlagen nicht fürchtet und sich von vornherein vornimmt: sie sollen vorübergehend sein, sie sollen nicht zurückschrecken, nur wer fröhlich und zuversichtlich vorwärts marschiert, kann siegen.
Wo ist bei uns in Deutschland die Unternehmungslust, die freudige Erwartung des Großen, das man selber tun wird, die Zuversicht? Wo nur der Glaube an die eigene Sache?
Die Bewegung in Deutschland, die sich bisher die sozialistische genannt hat, hat längst keine Frische und keine Farbe mehr. Ihre Farbe sei rot, sagen sie und befestigen sie eifrig an Kränzen, die sie edeln Toten widmen. Rot mag ihre Erinnerung sein; ihr Leben ist grau.
Was also ist zunächst zu tun? Die mit dem Sozialismus Ernst machen wollen, aus tiefster innerer Not und aus schönstem inneren Reichtum heraus Ernst machen wollen, müssen sich sammeln zu Sozialistischem Bunde.
Wollen, wirklich wollen, ist dasselbe wie tun. Wir reden hier nicht von denen, die »Sympathien haben« oder die »gerne möchten« oder »freudig begrüßen« oder »anstreben« oder wie die aufschiebenden Redensarten alle heißen. Wir reden von der Sammlung derer, die wollen und also beginnen.
Wer also will mit uns sein? Wer fühlt, daß die Armut eine Schande sei für jeden von uns? Daß die Art, wie bei uns die Güter produziert werden, nicht um der Gemeinsamkeit des Bedarfs willen, sondern um der Einzelnen willen, die sich bereichern und Machthaber sein wollen, ein ruchloser Unsinn ist? Wer merkt, daß die Schuld aller, der vergangenen Geschlechter und derer, die jetzt lebendige Menschen sind, ihn aus der heulenden Stimme des Trunkenbolds anbrüllt, ihm aus den Augen der Dirne ins Gesicht sieht, ihn anstarrt aus den vergitterten Fensterhöhlen der Zuchthäuser? Wer geht durch all diese Zeit mit Ekel und Ingrimm? Und wem ist doch dabei im Herzen die Hoffnung, in den Händen der Wille, im Auge das lichte Wissen unzerstörbar? Wer merkt im tiefsten Innern, daß es uns not tut, und daß es uns gelingen muß, eine Gemeinsamkeit, ein Volk, ein Ganzes höherer Ordnung zu schaffen, das weitaus etwas andres ist, als was sich heute Deutsches Reich nennt?
Wer so einer ist, zögere keinen Augenblick. Er gehört zu uns, er komme zu uns, wandere mit uns; schaffe Freude mit uns ringsum und siege mit uns!
Was wir beute Sozialistischen Bund nennen, das soll einmal unser Volk, unser ganzes Volk sein.
Heute sind wir wenige; einst wollen wir alle sein.
Obwohl wir wenige sind, gilt es zu beginnen; weil wir wenige sind, muß klein begonnen werden. Haben wir aber erst begonnen, zeigen wir allen, die uns sehen können, was Sozialismus, was Freude, was Gemeinschaft ist, oh! das wissen wir: dann werden wir bald viele sein.
Wir beginnen mit dem Sozialismus, indem wir aufhören, Knechte des Kapitals zu sein. Wir beginnen mit dem Sozialismus, indem wir nicht mehr als Lohnarbeiter für den Warenmarkt produzieren.
Die eigene Arbeit um des schönen Lebens und der inneren Seligkeit willen zusammen mit arbeitenden und helfenden Menschenbrüdern und Schwestern in den Dienst des eigenen Verbrauchs stellen - das ist der Beginn des Sozialismus.
»Wie kann das geschehen ? Wie ist das möglich ? Wo nehmen wir die Menschen, die Fabriken, den Boden, das Geld her? « Hättet ihr seit fünfzig Jahren gewußt, daß der Sozialismus nur kommt, wenn man ihn tut, ihr würdet heute nicht mehr so fragen. Wir werden euch einmal die Geschichte des Verhältnisses zwischen Sozialdemokratie und den Genossenschaften erzählen, werden euch die Aktenstücke vorlegen und werden euch sagen: einst war die Sozialdemokratie auf Grund der unsinnigen Lehren von Karl Marx der Todfeind der Genossenschaften, heute werden die Genossenschaften in manchen Bezirken schon fast von Partei wegen gegründet, obwohl die Genossenschaftsbewegung immer noch das Stiefkind der Sozialdemokratie ist. Aber doch haben die Arbeiter, die ihren Konsum zusammengetan haben, schon eigene Fabriken, Großbäckereien, Schlächtereien, eine Großeinkaufsgesellschaft mit eigenen Dämpfern. Wo kam das Geld her? zu diesen vielen Grundstücken, Baulichkeiten, Fabriken und Maschinen? Sie haben ihre Kundschaft organisiert! Kundschaft ist Kredit; Kredit ist wirtschaftliche Macht. Die organisierte Kundschaft ist der Arbeitgeber im beginnenden Sozialismus; anders und besser ausgedrückt: im Sozialismus wird für den Konsum produziert; die Arbeitgeber sind die Konsumenten, die Arbeitnehmer die Produzenten; und beides sind dieselben Personen, und es gibt keine Arbeitgeber und Arbeitnehmer mehr. Heute wollen die Konsumenten billige Preise und die Produzenten hohe Löhne, und sie merken nicht, daß das so ist, wie wenn einer seinem Bild im Hohlspiegel eine Ohrfeige geben will und sich selber schlägt. Im beginnenden Sozialismus wird der verzerrende Spiegel des Zwischenwuchers zerschlagen und Konsument und Produzent erkennt sich als dieselbe Person. Den Bund der Konsumenten also gilt es zu schaffen, die für sich selber produzieren: dann habt ihr Grundstücke und Fabriken, Maschinen und »Geld«. Ihr gebt dem Fabrikanten eure Arbeitskraft, der gibt euch Lohn, und dem Kaufmann gebt ihr Geld für die Waren, die ihr braucht. Ist es nicht das einfachste Rechenexempel, daß, wenn ihr die Reihenfolge umkehrt und also damit beginnt, euch selbst das Geld für die Waren, die ihr braucht, zu geben, daß ihr dann euch selbst den Lohn geben könnt, und daß ihr euch selbst eure Arbeitskraft zur Verfügung stellen könnt? Und daß es dann keine Waren mehr gibt, weil es keinen Zwischenhändler und keinen kaufmännischen Gewinn mehr gibt und keinen Lohn und kein »Geld« und keine Arbeitnehmer und Arbeitgeber?
Nicht die Lohnkämpfe der für den Kapitalismus Produzierenden schaffen den Sozialismus. Der Sozialismus beginnt mit der Organisation des Konsums. Die Organisation des Konsums schafft den für ihre Gemeinsamkeit arbeitenden Menschen die wirtschaftliche Macht und ihren Sachausdruck: gegenseitigen Kredit, Grundstücke, Baulichkeiten, Fabriken, Maschinen und alles, was not tut. Die Organisation des Konsums nimmt den schmarotzenden und anhäufenden Machthabern die wirtschaftliche und damit jegliche Macht: das Kapital, den Wert ihres Geldes, die Arbeiter, die Möglichkeit, ohne produktive Arbeit zu leben.
Hätten die Sozialisten damals, als die Bewegung noch jugendlich war, als sie noch in Verbindung stand mit den politischen Revolutionen, welche Verhältnisse und Menschen zu schnellem Umschwung befähigten, gewußt, was wir heute wissen, eingesehen, was der größte Sozialist, Proudhon, ihnen damals so sagte, wie wir es heute endlich in später Stunde wiederholen: Sozialismus ist nicht eine Sache der Forderung und des Abwartens, sondern des Tuns, und wäre in diesen fünfzig Jahren fortgesetzt, tapfer und freudig im Anschluß an das, was die arbeitenden Menschen verbrauchen, erst der Austausch und dann die Produktion des Sozialismus organisiert worden: wahrlich! dann wäre in dieser Zeit längst die letzte große Frage des Sozialismus reif zur Lösung geworden, die Frage, die nicht durch den bloßen Zusammenschluß der Konsumenten-Produzenten zur Entscheidung gebracht werden kann. Der Zusammenschluß der Menschen durch Organisation ihres Konsums und damit ihres Kredits schafft die wirtschaftliche Macht, die das Kapital ersetzt und das feindliche Kapital zerstört. Alle Weiterverarbeitung der Rohprodukte ist so den Monopolisten aus der Hand zu nehmen. Bleibt aber der Kampf gegen die Monopolisten ersten Grades um die Gewinnung der Rohprodukte und der notwendigsten Lebensmittel. Bleibt der Kampf um die Natur, die nicht von Menschen geschaffen werden kann; um das, was allen Menschen von Natur wegen gehört: um den Grund und Boden. Längst, sagen wir, wäre diese eigentliche Kernfrage des Sozialismus reif zur Lösung geworden, und mit ihr wären auch die großen politischen Fragen gelöst worden, wäre Freiheit und Selbstbestimmung des Volkes gekommen. Volk und Land! Land und Freiheit! Erst wenn die Volksgemeinden den Boden haben, wie sie ihn in allen Ländern einmal gehabt haben, ist Volkstum und Freiheit geschaffen. Den heute bestehenden Genossenschaften fehlt vielfach der Geist des Sozialismus; es fehlt ihnen der Wille und das Ziel; und statt dessen haben sie etwas, das schlimmste Gift für Deutsche: den Geist der Bürokratie. Diese Genossenschaften sind sich Selbstzweck geworden, der Geist ist in ihnen erstickt in Kleinlichkeiten; in ihnen waltet die Beziehung von Herrn und Knechten, von Obrigkeit und Angestellten, von kaufmännischen Veranstaltern, die recht viel verkaufen wollen, und einer Masse von Mitgliedern, die recht viel kaufen sollen; und nur wenige wissen davon, daß diese Verbände alle Formen unsres äußeren Lebens zu erschüttern berufen sind, aber nur dann, wenn die Beteiligten allesamt aus innerer Erschütterung, aus großem, heiligem Willen heraus ans Werk gehen. Sie aber kommen nicht hinaus über das Verhältnis von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, sie haben ihre Knechtsgewohnheiten und Rachegefühle und ihre schnell erlernten Herrenmanieren mit in die Genossenschaft gebracht; und wer das Verhältnis der Konsumgenossenschaften zu den für sie und in ihnen produzierenden Arbeitern kennt, der weiß nicht, was schlimmer ist: das Verhalten der organisierten Arbeiter in ihrer Rolle als Arbeitgeber oder das Verhalten der in den Gewerkschaften organisierten Arbeitnehmer gegen die Genossenschaften.
Es ist nicht anders: was wirklich zum Ziele führen will, muß im Geiste beginnen und muß darum klein beginnen.
Wo der Zentralismus und die Bürokratie herrscht, ist keine Gemeinschaft, kein Zusammenwirken, keine Entfesselung freudiger Kräfte.
Aber doch, obwohl diesen Genossenschaften der rechte Geist, das rechte Ziel und die rechte Grundlage fehlt, obwohl in ihnen die große Masse der Mitglieder nur als Zahler und Käufer gelten, ist die Genossenschaft die einzige Organisationsform unsrer Zeit, in der - als Form - sozialistischer Beginn ruht. Zusammenschluß der Verzehrer, um für den eigenen Bedarf, statt für den kapitalistischen Markt zu arbeiten: wissen die Genossenschafter erst, daß sie das und nichts andres tun, dann werden sie die unsern sein. Einstweilen sind sie wie die Märchenprinzen, die ein schönes Land suchen und darin sind, ohne es zu wissen: weil sie vom Falschen umnebelt sind.
Soll ihnen und all den andern gezeigt werden, was ihnen fehlt, so darf es nicht bloß gesagt werden. Gesagt ist es schnell: ihnen fehlt der Boden und der Geist.
Viel mehr als in den bürokratischen Genossenschaften, die in Verwaltung und Mitgliedermassen zerfallen, ist der Sozialismus schon zu Hause in den kleineren Gruppen, die im Anschluß an Lohnbewegungen, Streiks oder auch bloß um des reineren Lebens und der Propaganda willen aus der kapitalistischen Produktion austreten und für den eigenen Bedarf oder die Arbeiterkundschaft arbeiten. In Deutschland gibt es bisher kaum Beispiele dafür; aber jetzt schon in der Schweiz, in Frankreich und all den andern Ländern, von denen wir, die am schlimmsten an dumpfe, knechtische Unternehmungslosigkeit gewohnt sind, viel lernen müssen.
Bei jeder wirtschaftlichen Bewegung in all den Branchen, die notwendige Bedürfnisse herstellen, sollten sich die Beteiligten fragen: ist nicht jetzt eine Gelegenheit, nicht bloß für Tage, sondern endgültig dem Kapitalismus Arbeit zu entziehen? Denn die Beteiligten sind nicht bloß die Produzenten, die in den Streik eingetreten sind, sondern ebenso die vielen Konsumenten, die sie auch heute schon manchmal durch den Boykott unterstützen. An den Boykott aber muß sich die Organisation des Konsums und die Eigenproduktion für die organisierten Konsumenten anschließen. Sonst ist das Resultat nur: eine vorübergehende Erhöhung der Löhne für die Produzenten und eine dauernde Verteuerung der Preise für die Konsumenten.
Und bei jeder wirtschaftlichen Bewegung, bei jedem Streik sollten sich die Beteiligten fragen: Können wir nicht in der Zeit des Stillstands etwas für uns selber, für unsre Gemeinsamkeit arbeiten und einrichten ? Können wir nicht Anstalten zu gemeinsamem Konsum treffen, und wenn's nur Suppenküchen für den Anfang wären, die wir aus eigenen Kräften besorgen und aufrechterhalten, auch wenn der Streik zu Ende ist?
Das alles sind kleine Anfänge, Keime, Zellen. Aber wieviel geschieht da, wenn erst der Geist der Initiative, des frohen Schaffens, der Unternehmungslust, der Hoffnung über das Volk, über die Massen kommt!
Freude, Hoffnung und Zuversicht lebt in uns vom Sozialistischen Bunde, und wir wollen sie um uns verbreiten. Genug des Zagens, genug und zuviel des Wartens auf andre. Voran mit allem, was zu neuem Leben hilft; dann folgen die andern, wenn sie uns am Werke sehen.
Die Zerstörung aller Hindernisse kommt, falls sie wirkliche Hindernisse sind, wenn wir nämlich ganz dicht, so daß nicht der kleinste Zwischenraum mehr ist, bis zu ihnen herangerückt sind. Jetzt sind sie nur Hindernisse der Voraussicht, der Phantasie, des Bangens. Wir sehen schon: das und das und das wird man uns, wenn's erst soweit ist, in den Weg legen, und - und? - und tun gar nichts, als höchstens bellen.
Wenn's erst soweit ist? Laßt's doch erst soweit sein!
Wer will dir denn Gewalt antun, du Volk, wenn du's nicht selber tust?
Die wenigen sollen doch vorangehen, damit sie die vielen werden. Dann kommen sie schließlich zur Mitte ihres Weges, und siehe da! ihre Feinde sind verschwunden oder wenigstens der nötigen Truppen entblößt.
Wo mögen die Truppen hingekommen sein? Sollten sie nicht darum verschwunden sein, weil wir mehr geworden sind? Sollten die früheren Feinde nicht jetzt in unsern Reihen sein?
Ist es nicht wie ein Echospiel? Was fürchtet das Volk ? Das Volk! Wer hindert die Massen ? Die Massen!
Ihr selbst seid eure Feinde! Bauet, wachset und sammelt euch! Jeder unter euch ist doppelt: wer zum Sozialismus geht, gibt ihm einen Freund und nimmt ihm einen Feind.
Längst solltet ihr wissen, daß all eure Knechtschaft eine freiwillige ist, und daß niemand euch wahrhaft hindert als ihr euch selbst.
Wer im rechten Geiste baut, zerstört im Bauen die stärksten Hindernisse.
Wenn alle, die den Sozialismus erstreben, ihn wirklich wollen, das heißt tun, sind wir unüberwindlich.
Einstweilen, bis wir alle haben, wollen wir viele gewinnen, wollen wir wenigen tun.
Der echte, ganze, lebendige, aus dem Geiste geborene und den Geist wiederum zeugende Sozialismus erwacht in der sozialistischen Siedlung; und von ihr aus leuchtet er weit hinaus ins Land und ins Volk.
1908
Die Geburt der Gesellschaft
In allen Revolutionen des sechzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts war es zwar der Geist der Republik, der die Führung hatte, aber der Kampf ging überall noch zu großem Teil zusammen mit dem Streit zwischen den Konfessionen, und oft überwog die Forderung der Gewissensfreiheit die der politischen Freiheit; wo es den Aufrührern nicht sowohl um Freiheit wie um Herrschaft ging, war immer ein Kampf zur Unterdrückung der einen oder der anderen religiösen Gemeinschaft dabei. Im Schlußjahr des konfessionell gefärbten dreißigjährigen Staatskrieges begannen in Frankreich die revolutionär kriegerischen Zeitläufte, die man gewöhnlich die Fronde nennt und die am Tag des Abschlusses des Westfälischen Friedens Frankreich die Proklamation der ersten Skizze einer Konstitution, einer Magna Charta der Bürgerrechte und der Unabhängigkeit des Parlaments brachte. Diese Revolution war zwar noch unlöslich mit Kämpfen der Feudalherren und Fürsten untereinander verquickt; aber die religiösen Dinge blieben zum ersten Mal völlig aus dem Spiel, und mehr noch als in England traten die Bourgeoisie, die Steuerpolitik und das Selbstgefühl der Städter hervor. In ihrem Beginn ist die Fronde gegen die Königin-Regentin und Mazarin gar sehr wiederum ein Vorspiel und fast eine Vorübung des Volkes und der führenden Kräfte zur Revolution des achtzehnten Jahrhunderts. Auch die Fronde richtet sich, wie wir es gleich als charakteristisch für die modernen Bewegungen sehen wollen, in ihrem Beginn weniger gegen die Person des Tyrannenkönigs als gegen die schlechte Staatsverwaltung und den Minister; und auch hier war es ein Erfolg der Monarchostultitia, der dummen und den Mund nicht zügelnden Königin, daß sie, wie der kluge Kardinal von Retz sagt, »levait le voile, qui doit toujours couvrir tout ce que l'on peut croire du droit des peuples et de celui des rois, qui ne s'accordent jamais si bien ensemble que dans le silence«. Bald vereinigten sich die verschiedenen Abteilungen des Pariser Parlaments zu einem Generalparlament und einer Art Constituante, die sich die Beratung »de la réformation de l'Etat, de la mauvaise administration des finances, de la dilapidation des courtisans« zur Aufgabe machte. Wir erleben es jetzt wieder an den Vorgängen in Rußland, wie lächerlich und wie tragisch die immer wiederkehrende Staatsrevolution, die kämpfenden und bekämpften Gewalten sich gleichbleiben. Auch einen Vorspuk des berühmten Schwurs im Ballhaus hat die Revolution von 1648 gehabt. Auf die wiederholten gröblichen Verbote der Königin an das Gesamtparlament, sich noch ferner in der Salle de Saint-Louis zusammenzufinden, antwortete es, »que cependant et nonobstant toutes défenses les assemblées de la Chambre de Saint-Louis seraient continuées«. Und so kam denn (am 26. August 1648) wieder der Tag der Barrikaden für Paris: hunderttausend Pariser standen bewaffnet auf nahezu zweitausend Barrikaden, die in unglaublich kurzer Zeit in hoher technischer Vollendung errichtet worden waren, und die Königlichen waren für die nächste Zeit völlig besiegt und eingeschüchtert; die Königin, Mazarin und der ganze Hof flohen. Es kam nun zum Krieg zwischen Paris und den Königlichen, aber im Lauf der Ereignisse, ähnlich wie es in England gewesen war, wie es auch das Ende der französischen Revolution des achtzehnten Jahrhunderts werden sollte, übernahm, statt des machtlos und uneinig werdenden Bürgertums, die Soldateska den Kampf, und es war bald nicht mehr der Kampf der Revolution und des Parlaments, sondern der Krieg des Prinzen von Condé. Auch zeigte sich hier schon der Gegensatz zwischen Bürgertum und Großstadtproletariat, und wie schnell der revolutionäre citoyen wieder zum friedliebenden bourgeois wird, sobald die Gegensätze des Besitzes auftauchen, und immer auch, wenn an die Stelle des improvisierten Begeisterungskampfes von Stunden die soldatisch handwerkmäßige Kriegführung von Monaten oder Jahren tritt. Wohl kam es noch einmal, gegen Ende der Kämpfe, zu einer Wiederbelebung der revolutionären Kraft: eine Bewegung entstand, die sich in gleicher Weise gegen Condé wie gegen die Königlichen wandte, die sämtlichen Parlamente und vor allem die Städte des Landes zu einem großen Bunde zusammenschließen wollte und ausgesprochen föderalistisch-republikanisch war. »L'union des grandes villes«, sagt der Kardinal von Retz, der selbst an ihr beteiligt war, »en l'humeur où elles étaient, pouvait avoir des suites fâcheuses et faisait courir des dangers à la monarchie. Beaucoup de gens à cette époque voulaient faire de la France une république et y éteindre l'autorité royale.« Aber die Kraft reichte nicht mehr, und dieses Vorspiel der modernen Staatsrevolution mündete durchaus nicht in die Republik, sondern in die Regierung Ludwigs XIV.
Unserer Übergangszeit ist eigen, daß sie mit nichts wirklich fertig wird, daß immer alles geistig Tote leiblich wiederaufersteht und daß dieselben Kämpfe immer wieder geführt werden müssen. Der Absolutismus ist wiederauferstanden und hat sich entweder in ziemlicher Reinheit erhalten oder seine Kompromisse mit der Demokratie geschlossen; und sogar der Kirchenstreit und der Kampf um die Gewissensfreiheit sind heute noch da. Es ist in dieser Zeit nicht möglich, etwas umzubringen oder für immer festzustellen; und wenn einer einen Kodex des Feststehenden etwa für die Philosophie und die Wissenschaften und die Praxis des Lebens verfassen und nur das darin aufnehmen wollte, worüber alle einig sind, auch wenn er sich auf das beschränken wollte, dessen Nichtexistenz und Nichtmöglichkeit feststeht, wenn er also gar nichts Positives behaupten wollte: sein Kodex wäre auch heute noch ein leeres Blatt Papier. Solche Einigkeit, solches Einverständnis herrscht aber in den Zeiten der Revolution; da bemächtigt sich der Menschen eine grenzenlose Verwunderung über das Durcheinander, über die Koexistenz des Heterogenen in der unmittelbar vorhergehenden Zeit, so wie sie etwa Chamfort im Anfang der Französischen Revolution im Hinblick auf die Zeiten nach dem Wirken der Enzyklopädisten, Rousseaus und Voltaires zum Ausdruck brachte ...Sonst erinnert die Revolution, wenn sie wieder ausbricht, sich all ihrer Vorfahren, der früheren Revolutionen, und macht sich zu ihrem Kinde. Nur die französische Revolution des sechzehnten Jahrhunderts ist im achtzehnten völlig vergessen und mußte erst wieder in unserer Zeit ausgegraben werden. Das kommt daher, daß inzwischen bei den Geistigen, vor allem in Frankreich, sich die Wendung vom Christentum weg vollzogen hatte und man die Formen, in denen man im sechzehnten Jahrhundert um Freiheit und Verfassung gekämpft hatte, nicht mehr verstand.
Die zweite Epoche der Staatsrevolution, die, von dem Vorspiel der Fronde abgesehen, aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der französischen Revolution des achtzehnten Jahrhunderts und dem, was sich im neunzehnten Jahrhundert in allen Ländern an sie anschloß, besteht, hat also immer noch den alten Kampf zu führen: gegen den Absolutismus und die Willkür, für den Verfassungsstaat und das Gesetz. Aber mancherlei Änderung ist doch zu bemerken. Der Kampf geht nicht mehr so ausschließlich gegen den König und weniger gegen Brutalität und Willkür als gegen die Unfähigkeit und Kleinheit seiner Diener. Der Monarch wird lange, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts und ebenso wieder um die Mitte des neunzehnten, wie etwas mehr Gleichgültiges, minder Wichtiges oder Hinzunehmendes aus dem Spiel gelassen; man kämpft mehr um die Sachen als um die Formen oder Personen; das zu Bekämpfende ist nicht mehr in der Einheit eines Hauptes, das Erstrebte nicht mehr in der Einheit eines Begriffes gesammelt; an die Stelle der Einfachheit ist die vielfache Verzweigtheit und Kompliziertheit getreten; auch die Revolution hat sich spezialisiert. Der König muß schon ganz besonders schwere Fehler begehen, um das Interesse auf seine Person zu konzentrieren und den Republikanismus zu entfachen. Es handelt sich in diesen Revolutionen, so wuchtig ihr Geist in die Erscheinung tritt, doch nur um eine Zwischenrevolution: nicht mehr so ausschließlich gegen den absoluten König und noch nicht gegen die neue Einheit und Zusammenfassung: den absoluten Staat. Es handelt sich vielmehr um einen Kampf für den absoluten Staat, seine Weiterausbildung und Demokratisierung. Mehr als gegen den König geht der Kampf gegen die Stände, auf die sich das Königtum stützt: den Klerus und den Adel, und damit gegen die Ständeverfassung, die in den früheren Revolutionen gerade oft die Grundlage der Republik sein sollte. Die Entwicklung des Handels und der Manufakturen hat inzwischen das Bürgertum stark gemacht; der dritte Stand will die Atomisierung und den Individualismus vervollständigen; es sind Reste aus der Zeit der Schichtung und der Bünde da, die zu Privilegien ausgeartet oder sonstwie schädlich und im Wege sind: die Ständeverfassung wird zersprengt, die Zünfte werden aufgehoben, die Gemeindeländereien, wohlerhaltene Reste alten Gemeinbesitzes, verteilt, die Berufsassoziationen aufgelöst und verboten. Denn nicht nur im Gewissen soll der Bürger frei und unbehindert sein, nicht nur am Staate soll jeder in gleicher Weise mitwirken und vom Staate in gleicher Weise behandelt werden; es gibt in diesen Zeiten neben der Losung »Freiheit und Gleichheit« auch die Losung, die diesen Menschen fast wie dasselbe klingt: Freiheit und Eigentum. Der Staat soll durch seine Gesetze, durch die Rechtsgarantien und Sicherungen, die Trennung von Legislative und Exekutive die absolute Freiheit des Handelns und der Unternehmungen sichern; es soll nur Bürger geben und Staat; aber keinerlei Vereinigungen außerhalb des Staates sollen geduldet werden; und auch der Staat hat sich in die Freiheit des Eigentumes nicht einzumischen. So glaubte man das Wohlergehen der Bürger, der selbständigen wie der abhängigen, und das Nationalvermögen zu heben.
Inzwischen war nämlich, wie früher im Anschluß an die republikanische Bewegung sich die neuen Disziplinen des Staatsrechtes und Völkerrechtes entwickelt hatten, mit der Konsolidierung der Nationalstaaten nach außen und innen eine neue Wissenschaft (besser zu sagen: ein neuer Zweig der Publizistik) entstanden: die politische oder Nationalökonomie. Ursprünglich glaubte man, nur eine weitere Ausbildung der Staatslehre zu betreiben; wie der ordentliche Privatmann sich Rechenschaft über Einnahmen und Ausgaben gibt, wie der Kaufmann Buch führt, so sollte auch der Staat Ordnung in seiner Wirtschaft haben. Die ökonomische Bewegung ist zunächst in ihrer Entstehung eine Fortführung des republikanischen Kampfes gegen den am Luthertum erstarkten fürstlichen Absolutismus auf einem besonderen Gebiet. Für den absoluten Fürsten gab es kein Auseinanderhalten von Staatsvermögen und Privatbesitz; alles war des Königs, und auch die Privatvermögen und Liegenschaften betrachtete der rechte König theoretisch und im Fall des Streites praktisch als sein eigen; er war der Landesherr. Die späteren Republikaner und Ökonomisten haben erst den modernen Begriff des Staates eingeführt; war der Staat für die ersten Republikaner noch identisch mit den états, das heißt: den Ständen, so war er jetzt der État: eine geordnete Verwaltung eines unpersönlichen Wesens mit Einnahmen und Ausgaben. Bald aber merkte man, daß es nicht nur eine Steuer- und Ausgabenbilanz, sondern auch eine Handelsbilanz, eine Statistik der Einfuhr und Ausfuhr, daß es außer dem Staatsvermögen auch ein Nationalvermögen gebe. Da war zum ersten Mal wieder eine Nation, ein Volk, eine Zusammengehörigkeit entdeckt, die nicht Staat war und doch keineswegs bloß eine Summe von Individuen und individuellen Errungenschaften. Denn man entdeckte, daß die Entstehung und der Verbleib der Güter, von der Gewinnung der Rohprodukte bis zum Verbrauch der fertigen Waren, und ihr Austausch gegen Geld und Kredit und die mannigfachen Formen der Schuldverhältnisse, Kauf- und Gründungsgeschäfte etwas seien, das sich der Beschreibung und Ordnung in allgemeinen Sätzen und zusammenfassenden Begriffen zugänglich zeigte. Ohne es zu wissen (man weiß es heute noch nicht), hatte man die zweite große Entdeckung dieser Zeiten gemacht. Die erste stammt von La Boëtie; wahrscheinlich nicht er selbst, sondern die ersten revolutionären Herausgeber der Schrift haben dafür den glücklichen Namen »le Contr'un« gefunden. »Le Contr'un«, der Nichteine, ist das Volk von einzelnen mit souveränem Individualgefühl, die dem einen die Gefolgschaft kündigen und sich so aus der Verknechtung erheben. Diese zweite Entdeckung nenne man: den Nichtstaat, »le Contr'État«. Man hatte angefangen, zu finden, daß es neben dem Staat eine Gemeinschaft gibt, nicht eine Summe isolierter Individualatome, sondern eine organische Zusammengehörigkeit, die sich aus vielfachen Gruppen wie zu einer Wölbung dehnen will. Man weiß noch immer nichts oder nicht viel von diesem überindividuellen Gebilde, das mit dem Geist schwanger geht: aber eines Tages wird man wissen, daß der Sozialismus nicht eine Erfindung von Neuem, sondern eine Entdeckung von Vorhandenem und Gewachsenem ist. Und wenn man die rechten Bausteine entdeckt hat, werden auch die Baumeister da sein.
Mit der weiteren Ausbildung dieser neuen Kenntnisse und dieser neuen Erkenntnis entwickeln sich zwei Strömungen : die eine geht dahin, diese Gebiete des Wirtschaftslebens, die man bis dahin hatte laufen lassen, wie sie wollten, mit in den Staat einzubeziehen. Für die andere war diese Erkenntnis: die Entdeckung der Gesellschaft. Es gab neben dem Staat und den einzelnen Individuen noch ein Drittes: die Gesellschaft, die ihre eigenen Formen des Mitlebens hat. Verbindender Geist nämlich kommt erst, wenn die Gebilde da sind, aus denen heraus er leben und die er erfüllen und gestalten kann; früher aber als dieser verbindende Geist und sogar als die Gestalten des Bundes ist der intuitive, theoretisch gestaltende Geist der Wissenschaft da, der die zerstreuten und auseinandergefallenen Dinge zueinandersieht und zusammenbringt. So hatte die Theorie der politischen Ökonomie, auch sie eine Wissenschaft, die, wenn sie Theoreme des Geistes bauen will, Mächte der Praxis schafft, zunächst die sogenannten Gesetze der sinn- und planlosen Individualwirtschaft aufzustellen geglaubt; in Wahrheit hat sie keine gültigen Begriffe hergestellt, sondern Einungen der Wirklichkeit: je mehr sie hinter den Gesetzen des Kapitalismus her waren, um so mehr haben sie in leibhafter Wirklichkeit eine soziale Ökonomie schaffen helfen. Sie haben Abstraktionen gesucht, die im besten Fall brauchbare Namen sind, und sie werden statt dessen Einungen und Geist gefunden haben, die Realitäten sind.
Wäre ich nicht verdammt, im Jahr 1907 zu schreiben, oder hätte ich die Macht, mit meinem Wirken die Dinge so zu gestalten, wie ich sie möchte, oder wäre es hier dem Autor erlaubt, sich utopischer Sprache zu bedienen, so könnte ich sagen: Diese beiden Richtungen, die schon vor dem Ausbruch der Staatsrevolutionen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts entstanden waren, gaben den Revolutionen und Aufbauversuchen des zwanzigsten Jahrhunderts ihr Gepräge: an die Männer der einen Richtung, die sich die Politiker nannten, schlossen sich mehr und mehr alle Parteien an; sie gingen darauf aus, das Wirtschaftsleben in den Staat einzuordnen und den absoluten demokratischen Verfassungsstaat nicht nur zur Sicherung der Bürger gegen einander, sondern auch zur Sicherung gegen Armut, Preisgebung und Verlassenheit einzurichten; die der zweiten Richtung, die sich die Sozialisten nannten, erklärten: nach der Entdeckung der Gesellschaft, des freien und freiwilligen Durcheinanderwirkens der Kräfte des Mitlebens, habe der Staat nur noch eine Aufgabe: Vorkehrungen zu seiner eigenen Auflösung zu treffen und Raum zu geben für die unendlichfache Schichtung von Bünden, Organisationen und Gesellschaften, die an seine Stelle und an die Stelle des sinn- und plan- und geistlosen Individualismus der Wirtschaft, der Produktion und Zirkulation, zu treten sich anschickten. Es gab endlich auch noch einige Vereinzelte einer dritten Richtung, die beiseite standen und mit einem bitteren Lächeln und einem Funken guter Freude und Hoffnung mehr dachten als sagten, der Weg zur völligen Auflösung und Unmöglichmachung des Staates gehe eben gerade über den absoluten demokratischen Wirtschaftsstaat. Da es aber ein positives Absolutes gar nie gegeben hat, werden die wohl nicht so ganz recht haben; sie haben nur den unsäglich langsamen Weitergang in diesen unseren Zeiten zum Ausdruck gebracht.
So, glaube ich, könnte ich reden, wenn ich nicht jetzt schriebe. Da ich aber jetzt schreibe, kann ich auch von den Revolutionen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, die noch in unsere Zeiten fortlaufen, kein anderes als ein utopisches Bild geben; denn ist auch unsere Zwischenzeit gerade in diesen Jahrzehnten weit weg von diesen Bewegungen, so bin ich doch, ich muß es gestehen, ganz untergetaucht in die Revolution; ich entscheide nicht, ob noch oder schon wieder. Entweder kommt bald der Geist über uns, der nicht Revolution, sondern Regeneration heißt; oder wir müssen noch einmal und noch mehr als einmal ins Bad der Revolution steigenn Denn das ist in unseren Jahrhunderten des Überganges die Bestimmung der Revolution: den Menschen ein Bad des Geistes zu sein. In dem Feuer, der Hingerissenheit, der Brüderlichkeit dieser aggressiven Bewegungen erwachen immer wieder das Bild und das Gefühl der positiven Einung durch verbindende Eigenschaft, durch Liebe, die Kraft ist; und ohne diese vorübergehende Regeneration könnten wir nicht weiterleben und müßten versinken.
Daß es aber trotz dem überaus vernehmlichen Schwächezustand unserer letzten Generationen, der sich auch bei großen Talenten in modischen Geckereien und fast völliger Abkehr von den öffentlichen Dingen äußert, noch nicht Zeit ist, ans Dahingehen zu denken: dessen ein Zeichen sei uns, was die Urgroßväter unserer jungen Leute erlebten: die größte all dieser Revolutionen, die französische Revolution vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Was in der Menschenwelt die neuen Wirklichkeiten schafft, ist immer das Unmögliche gewesen. Das Unmögliche war es, noch nicht oder selten in den Wegen und Zielen, aber in der Stimmung und dem Geist der Größe, was da über viele einzelne und das Volk gekommen ist. Es galt ja im Anfang nur, Frankreich vor dem Bankrott zu retten; und wie es immer war, wie es in der englischen Revolution, in der Fronde und ganz besonders im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gewesen war, geschah es auch hier: hätte die Regierung nicht kurz hintereinander die unglaublichsten Fehler und Dummheiten gemacht, es hätte in dem Zeitpunkt zu gar nichts zu kommen brauchen. Als der prachtvoll tolle Aventurier Thomas Payne den Amerikanern sein Pamphlet The Common Sense widmete, in dem er mit besonderer Anwendung auf die englische Regierung alle und jegliche Regierung für schandbar und unnütz erklärte, da war es ein Engländer, der das tat: und es wäre in Amerika sowenig wie in England aus solcher geistigen Rebellion und Überwindung heraus zur Revolution und nachher zur Einführung der freisten aller republikanischen Verfassungen gekommen, wenn nicht die englische Regierung und der größte Teil des im Gefolge der besonderen Form der englischen Revolution politisch gewordenen englischen Volkes so verblendet gegen die Kolonisten verfahren wären. Aber solche Dummheit oder Brutalität oder Schwächlichkeit der Regierenden ist immer nur der Funke; daß das Volk und die Denker und Dichter einem Pulverfaß gleichen, geladen mit Geist und schöpferisch-zerstörenden Kräften, zeigt sich dann jedesmal; und das gibt uns den Glauben an latente, aufgespeicherte Kräfte, auch wenn ein Volk in seinem Tiefstand ist. So war es auch in Frankreich. Als der Graf Mirabeau im Jahr 1788 den aufständischen Niederländern den Entwurf der Menschenrechte widmete, war das französische Volk, trotz allem hellen Geist der Aufklärung, des Witzes und der Freiheit und trotz seiner leidenschaftlichen Teilnahme am Freiheitskampf der Amerikaner, noch weit entfernt, sich auf seine eigenen Menschenrechte zu besinnen.
Was Mirabeau schon in seinem ersten Entwurf der Menschenrechte gesagt hatte, daß die Regierung für das Glück des Volkes vom Volke eingesetzt sei: das fühlte diese Revolution als ihre Aufgabe; und dieses Gefühl, für kommende Zeiten der Ruhe und Abgeebbtheit mit all ihren heroischen Kraftanstrengungen Gedeihen zu schaffen, war das Glück des Beglückens dieser Revolutionäre. Und hier sehen wir, was für alle Revolutionen gilt, aber für keine so wie für diese: es ist ein Geist der Freude, der in der Revolution über die Menschen kommt. Dieser Geist pflanzt sich von der Revolution her selbst in die grauen Zwischenzeiten hinein fort: und das Fest, das die Pariser mit ausgelassenen Straßentänzen noch heute am Tag des Bastillesturmes feiern, ist mehr als Erinnerung, ist unmittelbar Erbe der Revolution. Wir Deutsche, obwohl wir schon lange kein recht freudiges Volk mehr sind (im Mittelalter waren sie es), haben wunderschöne Worte für diese Heiterkeit: ausgelassen, aufgeräumt, unbändig. Was da zum Ausdruck kommt, ist zusammengepreßt Gewesenes, das sich hinausläßt und aufschäumt; etwas, das in sich selber und in der Welt draußen ordentlich Ordnung macht und alles zurechtrückt; das von Banden befreit ist. Aber nicht nur diese Reaktion gegen vorhergegangenen Druck äußert sich in der Freudenstimmung der Revolution; auch nicht nur das kommt dazu, daß es in der Revolution ein reiches, zusammengedrängtes, fast spritzendes Leben ist; wesentlich vor allem ist es, daß die Menschen sich ihrer Einsamkeit ledig fühlen, daß sie ihre Zusammengehörigkeit, ihr Bündnis, geradezu ihre Massenhaftigkeit erleben. Darum gibt es für uns keine wundervollere Versinnlichung und Vergeistigung dessen, was hier Revolution und was Vorausgang und Bedingung der Revolution genannt wird, als Beethovens Neunte Symphonie, die nach schwerem Erleben der in Melancholie und Brüten versunkenen Einzelseele, nach dem vergeblichen Versuch, in Einsamkeit froh zu sein und sich auszulassen, nach derber Paarung und nach der Himmelsseligkeit des in sich versunkenen und über sich hinausgehobenen geistigen Individualdaseins mit allen Strömen in den Massenchor an die Freude mündet. Und auch die Worte aus Schillers Gedicht, das Beethoven in Töne setzte, wollen wir nicht vergessen: »Alle Menschen werden Brüder, wo Dein sanfter Odem weilt.« Es ist ja nicht wahr, was man uns in dieser schlappen und aus Schwäche unsentimentalen Zeit, die sich aus Hinfälligkeit der Liebe und der Hingebung schämt, einreden möchte, daß die Brüderlichkeit uns ein phrasenhaftes Wort geworden sei. Recht laut und rückhaltlos sollten wir Menschen wieder es der Revolution nachsprechen und der Revolution vorsprechen lernen: daß die Menschen Brüder sind.
1908
1909
Einkehr
Der Marxismus lehrt, wie man weiß, die kapitalistische Gesellschaft trage die Werkzeuge ihres eigenen Untergangs in sich selber. Wie das diese verderbliche Lehre versteht, was sie für Folgerungen daraus zieht und was sie noch dazufügt, soll uns hier nichts angehen. Wir gehen von dieser Lehre für diesmal nur aus, um zu deuten, daß die kapitalistische Gesellschaft, wenn sie, was wahrlich niemand leugnen kann, immer greller auftretende Zeichen von Schwäche, Verderbnis und Untergang aufweist, diese Erscheinungen überall, in allen ihren Formen und Gliedern an sich trägt. Zuerst also ist zu merken: wir sagen kapitalistische Gesellschaft; darunter sind keineswegs sachliche Einrichtungen zu verstehen. Die Male der Krankheit, Schwäche oder Hinfälligkeit sind nicht Häusern oder Kapitalien oder Grundstücken oder Maschinerien aufgeprägt; und sofern allerdings ein großer Teil der Waren, die heutigentags erzeugt und verbreitet werden, elend, liederlich, verwahrlost und schundig genug sind, wenn die Behausung vieler Menschen dünnwandig und baufällig und auf den Schein errichtet, die Bekleidung fadenscheinig und täuschend, unehrliche Fabrikware, die Nahrungsmittel oft verdorben und mit allen Kunstgriffen sogenannter Wissenschaft gefälscht sind, so ist doch ohne weiteres klar, daß die Beschaffenheit dieser Dinge nicht der eigentliche Verfall dieser unsrer Zeit, sondern eben nur ein Kennzeichen dieses Niedergangs ist. Wer also vom Untergang der kapitalistischen Gesellschaft in unsern Ländern spricht, der redet, ob er es weiß und zugibt oder nicht, von den Spuren des drohenden Untergangs dieser unsrer Völker, unsrer Menschen. Wenn er das eingesehen hat, wenn er sich nicht mehr mit den bequemen Worten begnügt, den zusammenfassenden Ausdrücken, die an die Stelle der wirklichen Personen und der Art ihrer Beziehungen die toten und tötenden hirngesponnenen Unwirklichkeiten setzen, dann wird er sich der eigenen Verantwortung bewußt, wird umherblicken, wo Elemente des Geistes, des Haltes, der Kraft, der Gesundheit und der Freude sind, wird zusehen, ob die eigenen Völker in ihrem eigenen Blute lebendige Gegenmächte gegen die Verkümmerung und Vertrottelung haben und wird erfüllt sein wohl erst von einer unsagbaren Sehnsucht nach dem Unbekannten, überwältigenden, dann vielleicht von der Tatenlust und dem unweigerlichen Drange, zuzugreifen, Hand anzulegen, zu erneuern und zu beginnen. Er redet also jetzt nicht mehr von der Gesellschaft und den Bedingungen und der Lage und den Einrichtungen und den Zuständen; er weiß jetzt: das sind Wörter, die man zum bequemen Sprechen braucht und die desgleichen die ruchlose Bequemlichkeit des Herzens und der Hände nicht entbehren will. Solche Wörter sind geduldig und ihnen kann man alles aufladen, was Menschen tun, was Menschen lassen, was Menschen dulden. Aber alles, was wir so benennen, sind nur Wendungen, Schwenkungen und Schiebungen für das, was in uns ist, was zwischen uns vorgeht.
»Nicht in uns: nicht zwischen uns«, wendet mir einer ein, und ich kenne die Stimme gut und brauche mich nicht umzusehen, woher sie kommt, die Stimme, die fortfährt: »Wir Arbeiter, wir Proletarier tragen nicht die Schuld. Es gibt zwei Klassen in unsrer Gesellschaft: die Kapitalisten und die Proletariern Zwischen ihnen geht der Kampf, der die Rettung und die neue Gesellschaft bringt.«
Schuld? Wer hat hier von Schuld geredet? Wir sprechen hier nicht von der Schuld, sondern von den Verfallserscheinungen. Sollen wir wirklich hier den Knäuel der Schuld, der aus den Jahrhunderten her zu uns heruntergerollt ist, aufzulösen versuchen? Kein Zweifel: auf der Seite der Besitzenden und Gebildeten, die die Armen in Not und geistiger Armseligkeit lassen und sie oft hineinstoßen, ist die Masse der Schuld aufgehäuft. Aber möchten sich die Proletarier manchmal fragen, wie sie wären, wenn sie im Wohlstand aufgewachsen wären! Die äußere Not schafft uns niemals Befreiung und Kultur; nur wenn über die Menschen die innere Not und Notwendigkeit kommt, raffen sie sich auf zur errettenden Tat. Dem Proletarier ist die äußere Not ein Ansporn zur Besinnung und zum Aufbäumen, aber nur dem Ausnahmsproletarier schafft dieser Antrieb den Geist, der ihn dem neuen Volke zuführt. Und so sind es auch Ausnahmsbürger, denen der Ekel über ihre eigene Stellung und ihre Umgebung am Halse würgt und die aus innerer Not von den überlieferten Zuständen sich lossagen. Schuld an unsern Zuständen trägt der Verfall des einigenden und Bünde schaffenden Geistes. Man verwechsle ja nicht diesen Geist der Gliederung und tatkräftigen Gerechtigkeitsordnung mit der Bildung! Wohl bleibt in manchem Proletarier durch die Dumpfheit der Unbildung der Geist, der in ihm ist, im Keime stecken und gelangt nicht zur Entfaltung, wenn wir ihn nicht wecken und pflegen. Aber ebenso oft ist wahr, daß der Geist verkümmert und verschüttet wird durch die Selbstzufriedenheit dessen, was sich in unsern Zeiten Bildung nennt. - Was ist aber schuld an dem Verfall dieses Geistes? Es müßte eine lange Geschichte von Jahrhunderten oder Jahrtausenden geschrieben werden, um darauf zu antworten; aber wir hätten dann von großen Zusammenhängen und Ideenbewegungen geredet, jedoch nicht von Schuldigen und von Schuld. Der liebe Gott oder die böse Entwicklung sollen schuld sein! Aber der liebe Gott und die heilige Entwicklung werden uns nicht erlösen; da müssen wir schon unser eigener Gott und der Träger und Verkörperer unsrer Entwicklung sein.
»Gewiß; indem wir kämpfen gegen die, welche die Träger der bisherigen Entwicklung sind.«
Die Träger unsres Ganges bis hierher sind wir alle mit dem, was wir tun, lassen und dulden. Gibt es ein auserwähltes Volk, so ist es nicht eine Kapitalismusklasse; alle Klassen der kapitalistischen Gesellschaft sind Kapitalismusklassen - das heißt hier lediglich: Glieder der kapitalistischen Gesellschaft, Produkte der in unsern Zeiten geschaffenen und geduldeten Zustände - sind die Kapitalisten wie die Proletarier. Nicht ein Produkt dieser Verfallszeit ist der Träger der Erlösung, der Erneuerung; das auserwählte Volk setzt sich vielmehr zusammen aus den Auserwählten, aus denen, deren Natur und Charakter und Arbeit an sich selber sie zu Schaffenden, Vorausgehenden, Genesenden und Heilenden macht. Wohl den Proletariern, daß sie es leichter haben, ihre Seele aus der Verstrickung des Kapitalismus zu lösen, weil sie mit ihren Interessen nicht an ihm hängen, weil die Kultur, die zu schaffen ist, ihnen einleuchtender als vielen der andern unmittelbaren Nutzen verspricht. Aber wie lange ist dieses Wichtige, Gewichtige für schwerer wiegend gehalten worden als es wirklich ist! »Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten; sie haben eine Welt zu gewinnen.« Da ist schon wie der von einem abstrakten Gebilde die Rede, nicht von den wirklichen Menschen, die uns umgeben. Der Satz ist eine flammende Aufforderung; ein rüttelnder Zuruf; aber er ist keine Beschreibung. Die Schilderung der Wirklichkeit müßte lauten: Massen der Industrie und Großstadt und Landproletarier haben mehr eingebüßt als gute Nahrung und Kleidung und Wohnung und Sicherheit der Lage; sie haben ihre Seele verloren; sie haben keinen Mut, keine Tatkraft, keine Hoffnung mehr. In die Masse, der es not täte, daß man ihr zum Gegengewicht gegen ihre Verödung eine bis an die Religion grenzende Vergeistigung brächte, hat man in grausamer Dummheit den Materialismus gebracht und die Lehre, sie seien - so, wie sie sind, in ihrer Gesamtheit - die Erkorenen und die Heilbringer; ihrem leiblichen Hunger hat man die geistige Sattheit zur Schwester gegeben; man hat den Hochmut und den Dünkel in ihnen großgezogen, und das Ergebnis ist, daß sie nichts andres wissen als Entwicklung und Klassenkampf. Es gibt eine Geschichte ad usum delphini, d. h. eine für die Prinzenerziehung zurechtgemachte verlogene Geschichtsdarstellung; aber die Geschichte, die man ad usum plebis, zur Benutzung für den Proletarier zustutzt, ist nicht im mindesten besser: es soll nichts Großes und Herrliches und Heiliges mehr in der Welt geben, kein Schaffen des überragenden, kein leises, aber unwiderstehliches Wehen des Geistes, kein Schauen und Künden des Propheten, das nicht alles auf Klassenkämpfe und Wirtschaftszustände zurückgeführt werden könnte.
Man will den Weg zur Erneuerung in der Form des Krieges sehen : zwei Heere stehen einander gegenüber; die Reichen und die Armen; wenn die Armen siegen, werden sie Einrichtungen schaffen, die der Armut ein Ende machen.
Wie kindlich ist solche Auffassung. Zwei Heere? Sind denn nicht auch jetzt schon die Armen wie Sand am Meer, und die Reichen wie einzeln verstreute Felsblöcke? Sehen denn nicht in Wahrheit, wenn schon einmal einen Augenblick von Heeren die Rede sein soll, diese Armeen ganz anders aus? Stehen nicht auf der einen Seite neben den Reichen ungezählte Scharen Arme, in Uniform und ohne Uniform, und ihnen entgegen eine kleine Schar solcher, die von einem gewissen Geiste, wenn auch bisher meist nur vom Geiste der Zerstörung und der Rache, ergriffen sind?
»So ist es. Und eben darum müssen wir fortgesetzt arbeiten und wühlen, damit die Masse von dem Geiste, wie du sagst, der Zerstörung und der Rache ergriffen werde, mit uns zusammen kämpfe und schließlich siege.«
Das geschieht nun aber schon an die sechzig Jahre lang; und wenn die Proletarier das immer noch nicht einsehen, daß sie als Gesamtheit ja eigentlich nur den Finger auszustrecken haben, um das zu erlangen, was ihr den Sieg nennt, so muß es denn doch seine Gründe haben.
Das ganze Bild, das diese Auffassung sich von dem Kriege macht, ist falsch. Hier ist nicht von einem Kriege zu reden, sondern von einem Verfall, der seit Jahrhunderten herangekrochen ist, der in allen Schichten unsrer Völker um sich gefressen hat, und in den letzten sechzig Jahren schnelle, in den letzten zwanzig Jahren rapide, in den letzten zehn Jahren reißende Fortschritte gemacht hat.
Die äußere Not, die wir alle schaffen und dulden, täglich mit unserm Tun und Lassen neu befestigen und verstärken, kommt von der inneren Elendigkeit und Kläglichkeit. Woher sollte sie sonst kommen ? Die Natur, was man so nennt, schafft sie nicht, wir sind ein Stück von ihr und sind stark genug, ihre Kräfte herrisch in unsern Dienst zu zwingen. Sind wir etwa zu viele auf Erden? und ist es insofern eine natürliche Notwendigkeit, daß es Not und Kampf und Laster gibt? Man darf diese Frage nicht, wie es oft geschieht, mit der andern verwechseln, ob etwa viele Proletarier in der Lage, in der sie jetzt sind, zu viele Kinder haben. Hier geht es nur um die Vergleichung des Anwachsens der Produktionskräfte und ihrer Ursache, des Anwachsens der Bevölkerungszahl; und da wirklich nichts von unserm Planeten fortfliegt und alles, was wir verzehren, als Stoff oder Kraft der Erde wiedergegeben wird, läuft die Sache schließlich auf das Gesetz von der Erhaltung des Stoffes und der Erhaltung der Energie hinaus: wir können beruhigt sein; auch insofern ist die Natur nicht schuld, wenn Menschen verhungern. Kommt die Not nicht von der Natur, so kommt sie von uns; kommt sie von uns, so kommt sie von unsrer inneren Beschaffenheit; denn die Verhältnisse sind, wie wir uns zueinander verhalten. Wie wir uns zueinander verhalten, das heißt, was die wenigen Mächtigen gebieten, und was die eigentlich Mächtigen, die Massen, sich bieten lassen und befolgen und tun, das bestimmt der Geist, der unter uns waltet. Nicht einen Krieg gegen Personen oder Institutionen, zwischen Klassen gilt es also vor allen Dingen, sondern die Sammlung und Erweckung derer im Volke, die dem starken Geiste, dem jetzt wieder einmal Neuen, dem Verborgenen, der Tat, dem Schaffen, dem Gestalten zugewandt sind.
Wer sich vor einem Gespenst fürchtet, wer es wie eine Wirklichkeit bekämpft, handelt genauso falsch und verhängnisvoll, wie wer den Spuk wie einen Gott verehrt und anbetet. Was würde man zu einem Manne sagen, der mit einem Hammer in der Hand auf einer großen Leiter gen Himmel emporstürmte, um Gott zu bekämpfen? Der Gott sitzt im Kopfe der Menschen, das wißt ihr nun schon. Warum aber wollt ihr nicht einsehen, daß ebenso auch der Staat und der Zustand und die Gesellschaft in dem Augenblick zu Schein und Dunst werden, wo ihr sie nicht mehr anerkennt, wo ihr ihnen nicht mehr in eurem Denken und eurer Gedankenlosigkeit das Leben schenkt ?
Oscar Wilde erzählte von einem Manne, der all seine innere Scheußlichkeit und Erniedrigung in einem gemalten Bilde leibhaft vor Augen hatte und eines Tages in Wut das Bild durch bohren wollte; aber als er das tat, hatte er sich selber getötet und das schändliche Bild war nie Wirklichkeit gewesen. So schließet ihr eure Reihen und sammelt euch zu einem Kriegszuge und merkt nicht, daß es euer Götzenbild, daß es euer eigenes Bild ist, daß ihr es selbst seid, wogegen ihr auszieht. Seht euch doch um unter den Menschen und unter den Sachen, seht euch mit hellen, unverschleierten Augen um. Ist denn da etwas Leibhaftes, nach dessen Untergang eine Kultur da sein oder beginnen könnte?
Nein! Euch selbst müßt ihr töten, so wie ihr jetzt seid. Den andern Menschen in euch müßt ihr herauflassen, und euch dann in neuem Geiste neu verbinden. Was in euch ist und was zwischen euch ist, was ihr tut und was ihr duldet, das ist der Feind. So ist es zu verstehen, daß man im Bauen zerstören muß. Indem ihr die Hirngespinste, die ihr für Sachen gehalten habt, zerstört, baut ihr euren andern Menschen auf. Indem ihr als zu euch selber Gekommene die neue Arbeitsgesellschaft aufbaut, zerstört ihr mit jeder neuen Wirklichkeit, die ihr schafft, die alte Wirklichkeit, in der ihr euch selber entgegen waret.
Hindernisse sind da; sie sind nicht zu übersehen: Gesetze und die ganze gewaltige Kriegsorganisation zu ihrem Schutze. Nur daß ihr selbst geholfen habt, die Gesetze zu machen; nur daß ihr selbst Glieder der Organisation seid, daß ihr selbst euch selbst unterwerft und Herr und Knecht in einer Person seid. Nicht Sachen sind es, die unserm Gange im Wege stehen, sondern Menschen. Nicht bloß Menschen wir ihr, das wäre zu wenig gesagt, nein Menschen, die ihr selbst seid. Saget nicht, wir hätten ja in Deutschland nur halbkonstitutionelle, scheindemokratische Zustände, das Volk hätte ja kein völliges Bestimmungsrecht. Wir haben in der Schweiz sehr weitgehende politische Demokratie, und gerade in Ländern der Art zeigt sich am schärfsten, daß es, solange sich die Völker nicht zum Sozialismus, das heißt, zum Geiste aufgerafft haben, überhaupt nur Scheindemokratie, nur die schlimmste Art Kampf der Menschen als Gesetzgeber und Gewaltherren gegen sich selbst als Objekte der Gesetzgebung, auf deutsch als Untertanen gibt. Erleben wir doch jetzt sogar das erstaunliche Schauspiel, daß sich deutsche »Anarchisten« eine Organisation schaffen, die den Namen einer demokratischen Partei noch lange nicht verdient, eine durchaus bureaukratisch-zentralistische Organisation, wo überall an die Stelle der eigenen Initiative das Vertreter und Beamtensystem gesetzt ist, und daß diese Organisation zustande gekommen sein soll, ohne daß die Beteiligten eine Ahnung hatten, daß sie zu diesem Zweck ihre Delegierten entsandt hatten. Politik, von der wir uns lossagen müssen, um statt ihrer zur Arbeit zu schreiten, Politik ist keineswegs bloß Gesetzgebung; Politik ist jeglicher Kampf, der für oder gegen Wortgebäude, als wären sie Wirklichkeit, geführt wird. Es hilft nichts, wir müssen zu uns selber vordringen und müssen die Gespenster, gegen die wir angehen, treffen, wo sie sind: in uns.
»Aber wir, die schon weiter sind, wir, die uns frei machen wollen? Uns sind die andern entgegen; die Massen, die noch beim alten stehen, und ihre Führer, die Reichen und Mächtigen.«
Und diese Massen werden so lange sich nicht regen oder falsche, unnütze, verderbliche Wege gehen, als ihr ihnen nicht vorausgeht, als ihr nicht dadurch Leben und unaufhaltsame Bewegung in sie traget, daß ihr den Hindernissen entgegen geht.
Ein weiter, langsamer Weg; ein Weg zunächst für die wenigen. Wir können's nicht ändern, daß es mit unserm Verfall so weit gekommen ist. Wir ringen um die Wirklichkeit und die Macht. Es gibt nur eine Macht in der Welt: den schaffenden Geist. Wollt ihr's bequemer haben, so baut euch zur Bekämpfung des Scheins einen Schein. Es gibt nichts Härteres als die Wirklichkeit. Aber wir wollen's hart haben und müssen darum auch hart sein. Wie leicht ist's, der Menge in tönenden Worten das Nichts zu geben, das zu hören ihr schmeichelt und ihr bequem ist; die Luft im Munde hin und her zu bewegen, die die Menge selber ausgeatmet hat. Wir wollen lieber auf Steine kauen. Uns liegt nicht daran, eine Partei zu gründen oder Anhänger zu organisieren; es ist uns auch nicht damit gedient, daß etwas los ist; wir wollen nicht das, was man so »die Bewegung« nennt, sondern wir wollen ganz wirkliche, ganz leibhaftige Bewegung. Ja, wir wollen ganz Sonderbares, wollen das, woran heute niemand in Wirklichkeit denkt, niemand in Wirklichkeit schafft, woran niemand in Wirklichkeit glaubt: Wir wollen helfen, den Sozialismus als eine Wirklichkeit zu schaffen. Wir sehen den Untergang vor Augen, sehen ihn in allen Schichten unsrer Völker, in allen; und spüren den Aufgang und die Erneuerung in uns selber. Die so sehen wie wir, die sich so fühlen wie wir, die rufen wir, die brauchen wir und die brauchen uns. Die wollen wir sammeln; mit denen wollen wir bauen und vorgehen, auf daß wir ein Zeichen unter den Völkern seien: hier ist die Stelle, wo der Weg wieder aufwärts führt.
1909
Organisationsfragen
Organisieren soll heißen: sich zum Zwecke praktischer Durchführung dessen, was als gemeinsames Interesse erkannt ist, zusammenschließen.
Organisieren heißt aber gewöhnlich: weil man selber sich ein Tun nicht zutraut, doch aber ein Tun in bestimmter Richtung wünscht, zu Gunsten von solchen, denen man das Tun anvertraut und in Auftrag gibt, abdanken.
Es gibt also zweierlei Organisationsformen. Die erste ist ein Bund von Bünden oder Gruppen, deren Glieder zur Selbsttätigkeit entschlossen sind, die niemals abdanken und nur zu praktischen Zwecken, vorübergehend und unter dauernder Aufmerksamkeit bestimmte Tätigkeiten Beauftragten übertragen. Die zweite schafft sich eine dauernde Bürokratie und ein Instanzensystem ; sie ist zentralistisch, und die Vertreter handeln »aus eigener Machtvollkommenheit« und entscheiden über Dinge, um deretwillen die Vertretenen sie gar nicht entsandt oder gewählt haben.
Es ist schon in der letzten Nummer des »Sozialist« darauf hingewiesen worden, daß diejenigen Anarchisten Deutschlands, die zu Pfingsten in Leipzig zu einer Konferenz zusammengetreten waren, sich, d. h. ihrer Absicht nach den von ihnen Vertretenen eine Organisation dieser zweiten Art, eine bürokratische Repräsentationszentralisation geschaffen haben. Es ist nur irreführend, daß sie diesem Gebilde den Namen Föderation, d. h. eines Bundes gelassen haben. Mit demselben Recht könnte sich die sozialdemokratische Partei Deutschlands eine Föderation nennen.
Das Statut besteht aus 21 Paragraphen. Es bestimmt, daß die Gruppen sich zu Bezirks-, Provinz- und Landesverbänden zusammenschließen und insofern ihre Selbständigkeit aufgeben, daß jeder solche Verband sich einen Vorort wählt, an dem die eigentlich Tätigen, Agitationskommission genannt, für diesen Unterverband wiederum gewählt werden. Diese verschiedenen Agitationskommissionen treten miteinander in Verbindung, so daß die einzelnen Gruppen und Mitglieder völlig entlastet sind: die Väterchen werden für sie sorgen. Gar zu viel werden aber auch diese Kommissiönchen nicht zu sagen haben, denn für ganz Deutschland sitzt in St. Petersburg, wollte sagen: Berlin, der aus fünf Personen bestehende Parteivorstand, der den Namen Geschäftskommission führt. Den Sitz der Geschäftskommission bestimmt ein alljährlich tagendes Konzil; und darauf wählen die organisierten Genossen an dem Orte - Berlin nicht etwa bloß ihre eigenen, sondern die Parteivorstände für ganz Deutschland. Es besteht also in dieser kuriosen, anarcho-demokratischen Partei weder das allgemeine, noch das gleiche, noch das direkte Wahlrecht. In diesem Geiste geht es weiter; es ist nicht unsere Aufgabe, den Verfassern ihr miserables Konzept in allen Punkten zu korrigieren; hier handelt es sich nur darum, zu zeigen, wie hilflos die sind, die vorgeben, den Staat zu bekämpfen, in Wahrheit aber die übelsten Fehler des Staates nachahmen.
Das sehen wir noch deutlicher, wenn wir den Inhalt der Mißgeburt jetzt nicht weiter beachten und einmal zusehen, wie denn dieses Statut zu Stande gekommen sein soll.
Die Anarchisten Deutschlands werden zu einer Konferenz eingeladen. Man teilt ihnen einige sehr allgemein klingende, unbestimmte Verhandlungspunkte, auch ein paar Anträge mit. Von dem Organisationsstatut und seinem Inhalt ist mit keinem Wort die Rede. Darauf werden Delegierte ausgewählt.
Das Wählen und Entstehen von Delegierten kann für freie, selbsttätige Menschen nur folgenden Sinn haben: Wir wissen genau, was auf der Konferenz Praktisches durchgeführt werden soll. Die Anträge sind uns unterbreitet worden und wir haben sie gründlich durchgesprochen. Weil wir nicht alle mit einander in der Lage sind, hinzureisen, entsenden wir einzelne, die sich bereit erklärt haben, in unserem Sinne, gemäß unseren Weisungen, denen sie selbst zustimmen, zu handeln und aufzutreten. Nicht nach dem Muster der modernen Karikatur des Parlamentarismus dürfen solche Konferenzen sich richten, sondern nach dem Beispiel der Vertreterversammlungen in der Zeit der französischen Revolution. Da tagten die Wählerversammlungen in Permanenz, da war der Abgeordnete notgedrungen in ständiger Verbindung mit seinen Auftraggebern, da entsandten die Wählerversammlungen noch außerordentliche Botschaften an ihre Abgeordneten, um ihren Beschlüssen Nachdruck zu geben, und da konnten die Wähler jederzeit ihre Vertreter abberufen und andere entsenden.
Für diese sogenannte Anarchistenkonferenz aber wählte man ein für alle mal Vertreter, ohne ihnen eine Meinung mit auf den Weg geben zu können: man wußte nämlich von der Hauptsache, die da beschlossen werden sollte, gar nichts. Das Statut war nicht vorher bekanntgegeben worden; ja, es wurde zunächst, obwohl es aus 21 Absätzen besteht, den Delegierten nicht einmal zum Lesen gegeben; es wurde ihnen vorgelesen, und es bedurfte noch einer besonderen Anregung, damit man es wenigstens über Nacht hektographieren ließ. Was hilft es nun aber, daß auf diese klägliche, völlig undemokratische Weise diese undemokratische Organisation beschlossen wurde? Die paar Delegierten können das doch nur für sich beschlossen haben! Die hinter ihnen standen, wußten ja von gar nichts!
Wenn man ein Ziel erreichen will, müssen die Mittel schon von derselben Art sein wie das Ziel. Niemals kommt man durch Unfreiheit zur Freiheit, durch Bürokratie zur Selbständigkeit, durch Gedankenlosigkeit zum Denken, durch Verzicht und Ohnmacht zur Macht. Aber auch umgekehrt gilt es: an den Mitteln, die gewählt werden, erkennt man, auf was für ein Ziel eigentlich losgesteuert wird, gleichviel, ob man es schon deutlich weiß oder nicht. Ein Organisationsstatut, das auf diese Weise erschlichen und durchgedrückt werden soll, muß so aussehen, wie die Mittel zu seiner Festsetzung beschaffen sind: und wir sehen, es sieht so aus. Und was mit Hilfe einer solchen Organisation für eine Wirklichkeit im besten Falle erreicht werden könnte, ist uns nun auch sicher: Hilfloses Nichtwissen der vertretenen Massen, über das, was zu tun ist; Abhängigkeit von Beamten oder Diktatoren ; Streit der verschiedenen behördlichen Instanzen um die Befehlsmacht.
Es ist also noch sehr gelinde, wenn unser holländischer Kamerad F. Domela Nieuwenhuis in einem Brief an die Redaktion des »Sozialist« und in seinem Blatt »Der freie Sozialist« zu den Beschlüssen dieser Konferenz unter anderem folgendes schreibt:
»Ich war erstaunt über den Parteitag in Leipzig und die Statuten der Föderation. Der sozialdemokratische Geist sitzt doch tief in den Leuten, daß er noch immer so fortwirkt. Ich sehe keinen Unterschied zwischen den Statuten der sozialdemokratischen Partei und dieser Föderation. Selbst das Recht des Hinauswerfens hat man sich vorbehalten ... Es ist zu beklagen, daß in unsere deutschen Kameraden ein solcher Geist gefahren ist - war es unter dem Einfluß des alten Pfingstwunders? - denn wir versprechen uns nicht viel gutes davon ...«
Die Ursachen, die zu solchen vergeblichen und schädlichen Versuchen führen, haben wir schon öfter aufgedeckt: all diese krampfhaften Bemühungen sind aus der Hoffnungslosigkeit geboren. Sie sind ein heißes Ringen, weil man seine Nichtigkeit fühlt, mit Gewalt und ähnlichen Mitteln etwas vorstellen zu wollen. Dieses Gefühl der Nichtigkeit muß unausbleiblich alle die überkommen, die keine Schaffenslust in sich haben oder keine Schaffensmöglichkeit vor sich sehen.
Bloß um geistiger Gemeinsamkeit und geistiger Propaganda willen braucht man keine Organisation. All diese Freidenker, Monisten, Theosophen und Aufklärungsgesellschaften sind herzlich überflüssig. Zusammenschließen soll man sich, um aus gemeinsamem Geist heraus Tatsächliches zu schaffen. Dazu sind nur die Aufrechten, die Selbständigen und die Tateifrigen zu brauchen, und darum können sie sich nie zu einer Organisationsform entschließen, die ihre eigene Betätigung ausschaltet und durch angestellte Beamte ersetzt.
Dem Sozialistischen Bund habe ich zu Beginn eine freie Organisation mit selbständigen Gruppen und freiwilligen mannigfaltigen Verbindungen der Gruppen untereinander vorgeschlagen; es war von keinerlei behördlichen Zentralinstanzen in den paar Sätzen die Rede. Aber es war nur das Selbstverständliche zum Ausdruck gebracht, um es der festgewurzelten Gewohnheit der Menschen, abzudanken und andere für sich schalten und walten zu lassen, entgegenzuhalten. So ist fürs erste der einzige schriftliche Ausdruck, den der Sozialistische Bund für seine Organisation braucht, der Satz: Der Sozialistische Bund besteht aus Gruppen. Alles andere ergibt sich, so lange wir noch im Stadium der ersten Vorbereitung und des Menschensuchens sind, aus der unabhängigen und selbständigen Betätigung der Gruppen und der einzelnen von selbst. Wir haben sogar Gruppen, die es bisher noch nicht für nötig hielten, sich der Öffentlichkeit vorzustellen; es ist ihnen genug, tätig zu sein. Wir haben auch eine nicht kleine Anzahl einzelner, die bisher noch nicht in der Lage waren, sich mit andern zusammen zu gruppieren.
Der Sozialistische Bund hat also die Organisation, die dieser Vorstufe, diesem allerersten Anfang entspricht. Möchten wir bald eine Stufe höher hinauf gehen können auf unserem Wege zur Verwirklichung: der Geist, der uns treibt, wird sich auch dann die Form schaffen, die er braucht.
1909
Sozialistisches Beginnen
Mittel und Zweck, Weg und Ziel dürfte man, wenn man auf wirkliches Leben, das heißt, auf Verwirklichung des Denkens ausgeht, gar nicht unterscheiden. Der alte Fehler: ein ausgedachtes Ideal, ein blendendes Phantasieding hinzustellen und zu sagen: das ist das Ziel, und dann resigniert zu fragen: was läßt sich heute dafür tun ? Dieses sogenannte Ziel ist ja in Wahrheit nichts, was sich vor uns in der Entfernung befindet; es ist hinter uns her und treibt uns vorwärts, als Reiz und Antrieb. Man mache sich nur von der schemenhaften und schematischen Vorstellung frei, es werde je einen fertigen Sozialismus, eine vollendete sozialistische Gesellschaft geben; man entferne nur den Magisterstrich, der die sogenannten heutigen Zustände von der erwünschten Ordnung der Dinge trennen soll. »Hier oder nirgends ist Amerika!«
Der Sozialismus ist nicht ein Zweck, nach dessen - etwa ganz anders gearteten Mitteln - wir uns umzusehen hätten; wohl aber können wir sagen, daß er zweckmäßiges Handeln sein Die Zustände oder Verhältnisse der Gegenwart sind das überlieferte, von dem wir uns treiben lassen; ein Dunkles, Dumpfes, in das wir uns wie in ein unentrinnbares Verhängnis fügen. Sozialisten sind solche, die sich besinnen, die auf Grund einer menschlich-guten, ehrenhaften, rücksichtsvollen Gesinnung vernünftig und zweckmäßig die gemeinsamen Angelegenheiten betreiben wollen. Er ist darum etwas überaus Klares, Helles und für den, der nicht glaubt, das Altgewohnte müsse darum auch das Rechte sein, Leichtes und Selbstverständliches.
Der Sozialist will also auch ein Mensch ohne die Vorurteile der überlieferten Schulen, Sekten und Parteien sein. Er wird nicht im entferntesten mehr daran denken, eine Bevölkerungsschicht sei mehr als die andre berufen, sozialistisch zu handeln; er würde sich erst dann entschließen, diesem Glauben wieder zuzuneigen, wenn er in einer bestimmten Klasse mehr Vernunft, Anstand und Energie fände als in der andern. Er wird auch nicht, wie es die Halbunterrichteten und Doktrinäre tun, ängstlich zusammenzucken, wenn von Geld oder Kapital die Rede ist: Geld und Kapital an sich können harmlose und förderliche Dinge sein; Geld braucht nichts andres zu sein als Zeichen des Kredits, das heißt des gegenseitigen Vertrauens und solidarischen Tauschverkehrs; und auch das Metallgeld, obwohl ihm die Spuren mancherlei Unsinns und vieler Übervorteilung und Gewalttat sichtbar genug aufgeprägt sind, ist für die Zwecke vernünftigen und anständigen Verkehrs recht gut zu brauchen und fürs erste keineswegs zu entbehren.
Der Sozialist ist sich seines guten Willens und seiner fest dem Rechten zugewandten Natur so sicher, daß er skrupelfrei und leichten Herzens ist.
Es ist gewiß Wahres daran, wenn in diesen Blättern oft gesagt wurde und wohl auch in Zukunft wiederholt wird: wir sind wenige. Aber neben der Stimme schwermütiger Entschlossenheit will nun auch die der entschiedenen Heiterkeit vernommen werden, die da sagt: diese wenigen werden aber sehr viele sein.
Es ist begonnen worden, durch Aufrufe, Ausgabe von Marken, Zusammenlegen von Sparpfennigen und desgleichen, Mittel für die erste sozialistische Siedlung zu suchen. Durchaus löblich; es kann nichts dagegen vorgebracht werden. Aber es gibt noch ganz andre Mittel, die mir wertvoller scheinen als dieser Appell an die Sympathisierenden. Mittel, die eben keine bloßen Mittel zu einem andern Zweck sind, sondern Unmittelbarkeiten des Sozialismus. Bei ihnen ist nur Voraussetzung, daß wir nicht eine kleine Gemeinde bleiben, die vom Sozialistischen Bunde reden, sondern, daß wir der Sozialistische Bund werden; daß wir Entschlossenen, Sicheren, Heiteren den Mittelpunkt all derer bilden, die aus dem Unsinn, Wirrwarr und Unglück der Verbindungslosigkeit des Produzierens für den kapitalistischen Warenmarkt zur Vernunft der Verbundenheit kommen wollen.
Wir sind manchmal noch ein bißchen verzagt gewesen, wie es Beginnenden nicht schlecht ansteht; wir sind darum wohl auch manchmal zu dunkel, seelenhaft, allgemein und geheimnisvoll geblieben. Wie eine chinesische Mauer stand vor uns der Unverstand der Massen in ihren Parteien und übel verdauten Schulbegriffen; kein Wunder, daß wir bei diesem Anblick, der uns nie vorher so grell ins Gesicht gestochen hatte, bitterböse Mienen machten. Aber diese Massen sind - in Hunderten von Jahren - zu dem gemacht worden, was sie sind; die Brauchbaren unter ihnen werden nur dadurch anders, daß wir unermüdlich zu ihnen sprechen, als ob sie es schon wären. Ein treffliches und erprobtes Rezept: Wer die Vernunft und Energie aus ihrer Erschlaffung erwecken will, muß es so anfangen, als ob sie schon wach wären Auch zu dem Schlafenden muß man so reden und rufen, als ob er es hörte: und schaut einmal an, er hat wirklich gehört und erhebt sich.
Das Mittel, auf das hier gedeutet wird, ist eines, wovon schon öfter die Rede war, ohne daß wir recht darauf eingingen: die Zusammenlegung des Konsums.
Wir sind bisher zu sehr bei dem Grundlegenden und Entscheidenden geblieben; haben öfter gezeigt, daß der Konsum der Punkt ist, wo wir nicht unsre Rolle innerhalb der kapitalistischen Warenproduktion und Verteilung spielen, sondern Menschen sind, Menschen, die sich zusammentun und für sich selber schaffen können. Es scheint mir aber dringend geboten, daß wir nie um allgemeinen Brei herumgehen, sondern gerade auf das Wirkliche zielen. Geben wir also Beispiele dessen, was möglich ist.
Jüngst einmal ist darauf verwiesen worden, daß der Deutsche Buchdruckerverband - die Gewerkschaft der Gehilfen lediglich in ihrer Zentrale nahezu sieben Millionen Mark aufgehäuft und in Staats- und Stadtanleihen, Pfandbriefen und dergleichen angelegt hat. Diese Millionen sind in ihrer Masse durch Mitgliederbeiträge entstanden und dienen in dieser Gewerkschaft vorwiegend der Sicherung der Unterstützungen in den Fällen der Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität und Wanderschaft. Die Buchdrucker sind hier nur als ein Beispiel für die vielen, vielen Millionen, die die deutschen Gewerkschaften besitzen, herausgegriffen worden. Hätten diese Gewerkschaften Menschen unter sich, die sozialistischen und organisatorischen Geist besitzen, so würden sie ihren Kollegen sagen: Warum wandern wir? Warum sind wir oft genug, nicht bloß auf Grund der wirtschaftlichen Konstellation, sondern freiwillig arbeitslos oder ist uns wenigstens die erzwungene Arbeitslosigkeit geradezu erwünscht und ersehnt? Warum sind wir sogar - kein Wahrhaftiger wird es leugnen wollen - freiwillig krank oder wenigstens länger krank, als unserm Empfinden entspricht ? Und was tut uns, wenn wir an Überdruß und Krankheit leiden, wenn wir Rekonvaleszenten sind, am meisten not? - Die Erholung in der Natur und die Abwechslung! Abwechslung, vor allem andern Arbeit, die eine andre ist als die entsetzliche Gleichmäßigkeit der Berufsarbeit innerhalb des Kapitalismus, das brauchen wir. Alles zusammengenommen also brauchen wir: Sanatorien, Kranken und Erholungsheime, Natur und Ermöglichung zur Abwechslung in der Arbeit. Es ist für den, der denkt, gar nicht merkwürdig, daß alles, was der Arbeiter zur Erholung vom Kapitalismus braucht, Sozialismus ist. Die wirklichen Unterstützungseinrichtungen, die durchgreifenden, die die Gewerkschaften zu organisieren haben, werden also nie etwas andres sein können als Wirklichkeiten, Unmittelbarkeiten des Sozialismus. Wollen die Gewerkschaften denen unter ihren Mitgliedern, die an der Eintönigkeit der Arbeit, die ohne Beziehung zu ihrem Leben ist, leiden, die sonstwie an Leib und Seele leiden, Hilfe und Heil schaffen, so müssen sie dazu übergehen, Siedlungen zu gründen. Die Mittel sind da, überall in ganz Deutschland welche zu gründen; bisher hat der Gedanke gefehlt; er ist nun ausgesprochen. Es fehlt noch die Ausarbeitung der Organisation zur Verwirklichung des Gedankens; sie wird nun kommen müssen. Es fehlt weiter die Propaganda für diesen Gedanken; wir dürfen uns ihr nicht entziehen durch den beschwichtigenden, ab wehrenden Einwand: »Die Arbeiter werden ja nicht wollen!« Solche Klugheit ist gar zu bequem. Wann haben je die Menschen schnell eingesehen, was ihr Interesse gebot? Wir werden uns der Aufgabe, diese Idee zu verfechten und im einzelnen auszuführen, keineswegs entziehen dürfen. Ein zweites Beispiel. Erholungsbedürftige aus allen Klassen der Bevölkerung machen in jedem Jahr kleinere oder größere Sommerreisen. Millionen von Menschen in Deutschland ist das Wegreisen aus der gewohnten Umgebung, das Ausspannen von der bis zum Überdruß geübten Tätigkeit völliges Bedürfnis. In Städten wie Berlin, Frankfurt, Nürnberg, München, um nur einige hauptsächliche zu nennen, sind die Gasthöfe überfüllt. Für das Übernachten, besonders an solchen Durchgangspunkten, müssen sie unverhältnismäßig hohe Summen bezahlen. Werden die Reisenden organisiert, begründet sich eine Vereinigung von Hunderttausenden, die sich verpflichten, nur in den Gasthöfen, die der Bund, zunächst in einigen Städten, selbst errichtet, zu übernachten und Verpflegung zu suchen, so sind auf den Wegen des hypothekarisch gesicherten Kredits sofort die Mittel da, einer der widerwärtigsten Formen der Ausbeutung ein Ende zu machen: wer dann reist, wohnt dann immer bei sich zu Hause, in den Häusern, die die Solidarischen für sich gebaut haben. Im kleinen haben schon die Geschäftsreisenden gezeigt, was auf diesem Wege zu erreichen ist; aber sie haben sich damit begnügt, einen Druck zu billigeren Preisen auf die Wirte auszuüben. Wer bloß auf Nutzen sieht, ist geneigt, sich mit Halbem und Unzulänglichem zu begnügen; wer die Umbildung der wirtschaftlichen Grundlagen zu neuem Geiste im Auge hat, wird weit gehen und wird die Führung in all solchen Bewegungen in die Hand bekommen.
Das ist nur ein kleines, nur eben herausgegriffenes Beispiel aus einem umfassenden Bereich genossenschaftlicher Betätigung. Da nirgends so wie in unserm Bund der Gedanke der Genossenschaft lebt, ist unser Bund der berufene Begründer und Organisator all dieser wundervollen, belebenden, Hunderttausende und Millionen umfassenden Verbände zur Ausschaltung der Zwischenhändler, zur solidarischen Vereinigung und Gemeinbürgschaft der Konsumenten. Die Arbeiter und Kleinbürgerkonsumvereine, die wir heute haben, wissen noch gar nicht, daß die Organisation des Konsums berufen ist, die neue Gesellschaft zu gründen und dieser neuen Gesellschaft den Boden und das Arbeiten auf dem Boden zu geben, ohne die sie immer erst noch unterwegs ist. Wir vom Sozialistischen Bund sind berufen, Gewerkschaften wie Genossenschaften umzugestalten und ihnen zu geben, was ihnen fehlt: verallgemeinerndes Denken, das heißt aber nichts andres als: Leben.
Säumen wir nicht, an die Arbeit zu gehen. Es bleibt nichts übrig: wir müssen unsre Arbeit groß auffassen und groß anfassen. Damit, daß ein kleiner Kreis mit aller Inbrunst sich in die Siedlung wünscht, ist zu wenig getan. Wir fühlen den Beruf und die Kraft in uns, denen, die sich bisher Sozialisten genannt haben und die nun keinerlei Weg zum Sozialismus mehr vor sich sehen, die schlaffen Zügel aus den müden Händen zu nehmen. Ein paar vereinzelte Beispiele der umfassenden Tätigkeit, die wir unsrer Idee schuldig sind, sind hier gegeben worden. Es wird mehr gesagt werden; es wird tiefer in die Einzelheiten, die Möglichkeiten und Notwendigkeiten hineingestiegen werden. Keine Rede also von Mitteln zum Zweck oder gar von Taktik, um Anhänger für ein Prinzip zu werben: all diese schablonenhafte Ausdruckweise der Routinierten und Ausgepichten hat für uns ihren Sinn verloren. Begeben wir uns auf den Weg des zweckmäßigen Handelns und fordern wir mit all unsrer Stärke alle zu ihm auf; alle - denn jeder kann ihn gehen, und jeder hat Interesse, ihn zu gehen; Interesse im Sinne des Nutzens, und Interesse für das freudige und geeinte Leben, das heute nicht da ist und das zu schaffen unsre frohe Aufgabe ist.
1909
1910
Preußen
Wer bloß die Zeitungen liest, könnte glauben, es sei große Erregung über das Volk gekommen.
In Wahrheit soll aber all dies wilde und tobende Schreiben nur erst eine Bewegung, am Ende gar bloß den Anschein einer Bewegung hervorbringen.
Da ist nun also ein ganzes großes Volk von etlichen Millionen Erwachsener und wartet in hilfloser Untätigkeit, was ein König, ein paar Minister und Regierungsräte und einige hundert für mehrere Jahre gewählte Abgeordnete für sein politisches Wohl tun.
Es liest die Artikel in den Zeitungen, es geht in Versammlungen, beschließt Resolutionen und Petitionen und geht nach Hause und legt sich zu Bett.
Einige Hunderttausende machen sogar Aufzüge auf den Straßen; und hie und da ist einer oder eine Gruppe von Menschen, die mit dem Feuer des Aufstandes spielen.
Aber sie wissen ganz gut: das Höchste, wozu sie es bringen können, ist eine Drohung, die nicht ernst genommen wird. Von einem festen Willen der Massen, die gegliederten Massen, von einem von bestimmtem Wissen geleiteten Willen ist nicht die Rede. Wäre es der Fall, dann ginge man an das Tun und den Aufbau des Rechten, an etwas, das besser wäre als bloße Drohung mit Massengeschrei und blinde Massengewalt.
Was im Parlament über diese Dinge jetzt geredet wird, ist Ungerechtigkeit, Interesse und Lüge.
Daß das Dreiklassenwahlrecht, das nach der Höhe der Steuern, also des Einkommens abgestuft ist, eine freche Schamlosigkeit ist, braucht wahrhaftig nicht mehr gesagt zu werden. Dieses Prinzip der Verteilung der politischen Rechte heißt ungefähr: zwanzig Millionäre haben so viel im Staate zu sagen wie 200 Wohlhabende und diese wieder so viel wie 20000 Fleißige, die nur von ihrer Arbeit leben.
Die Schmach wird gesteigert durch die Verbesserungen, die jetzt Herr von Bethmann-Hollweg, der Kanzler mit der ledernen Stirne, vorschlägt: Reserveoffiziere, Militärwärter, Leute, die ein Examen bestanden haben, sollen in eine höhere Klasse versetzt werden. Die Herren, die diese grenzenlos lächerliche Philisterei ausgeheckt haben, wissen wenigstens, auf welche Schichten sie sich verlassen können.
Die Behauptung der Liberalen und Demokraten, daß das Wahlrecht die Konservativen begünstige, ist nicht wahr. Unter diesem plutokratisch-kapitalistischen Wahlrecht haben die Liberalen viele Jahre hindurch die übergroße Mehrheit gehabt und waren damals sehr zufrieden damit.
Die Forderung, das Reichtstagswahlrecht auf Preußen zu übertragen, ist überaus ungenügend. Wenn man den deutschen Reichstag und den preußischen Landtag, die ja beide nebeneinander tagen, und ihre Arbeiten miteinander vergleicht, hat man denn da Grund, auf die nebensächlichen Unterschiede zu achten ? Fällt nicht vor allem die erschreckende Ähnlichkeit, ja geradezu die Wesensgleichheit auf?
Das Tun derer, die bloß abseits stehen und den ganzen Wahlrummel verhöhnen, ist ungenügend. Mit dem Nichtwählen ist wahrhaftig nichts getan.
Wir fordern das Volk in Preußen, da es doch schon einmal beginnen will, über sein politisches Geschick und dessen Lenkung nachzudenken, auf, die folgenden Leitsätze der Politik zu erwägen und dann in der Gemeinsamkeit die nötigen Schritte zum Anfang der Durchführung zu tun:
1. Jeder erwachsene Mann und jede erwachsene Frau ist selbständig in den eigenen Angelegenheiten.
2. Die Gemeinde erkennt an, welches die eigenen, unanrührbaren Angelegenheiten des einzelnen in dieser Gemeinschaft sind.
3. Jede Gemeinde ordnet ihre eigenen Angelegenheiten selbständig.
4. Die Träger der Gemeindepolitik sind die permanent tagenden Berufsverbände, die zeitweilig in Gesamtheit zu all gemeinen Volksversammlungen zusammentreten. Diese Gemeindeversammlungen ernennen Beauftragte zu selbständigem Handeln im Dienste der Gemeinde und ersetzen sie auf Grund souveräner Beschlüsse durch andere.
5. In den Angelegenheiten der Gemeinschaft zwischen den Gemeinden treten die Gemeinden zu Kreisverbänden, Provinzen und Landtagen zusammen.
6. Die Abgeordneten zu diesen Tagungen haben lediglich den Willen der Gemeinden auszuführen. Sie haben imperatives Mandat, stehen unter der ständigen Kontrolle der Gemeinde und können jederzeit abberufen und durch andere ersetzt werden.
7. Zum Vollzug der Anordnungen, die durch diese Verbände im Interesse der engeren und weiteren Gemeinschaften getroffen werden, werden Amtsleute ernannt, die dem Volk, das ihnen den Auftrag gegeben hat, verantwortlich sind.
8. Die Gemeinden und die engeren und weiteren Gemeinschaften aus Gemeinden setzen jeweils die Art fest, wie ihre Beschlüsse zustande kommen sollen.
9. Es bleibt der Entscheidung der Gemeinden überlassen, ob sie an den Beschlüssen und Betätigungen der engeren und weiteren Gemeinschaften teilnehmen wollen oder nicht.
10. Es gibt keine öffentlichen Gewalten, als die von den Gemeinden eingesetzten und anerkannten.
Soll eine große Volksbewegung entstehen, so muß darin sein, was jeden einzelnen im Volke bewegt. Jeder einzelne Mensch wird bewegt von der Lust zu leben, zu wirken und ungedrückt in der Gemeinschaft der Freien zu sein. Man frage sich, ob irgendeine der politischen Forderungen, die jetzt erhoben werden, dem Volke Lust zu leben machen kann. Etwa die Forderung des Reichtstagswahlrechts?! Die macht höchstens Lust zu lachen!
Dringt ein Geist in die Völker in Preußen, in Deutschland, in Europa und überallhin, der von dem Sinn und der Meinung dieser zehn Sätze, die wir hier aufstellten, erfüllt ist, dann wird es die Lust zu leben sein, die das Handeln der Menschen bestimmt. Sie werden sich nicht einmal fragen, ob diese Grundsätze einer echten Gemeinschaft föderalistisch, republikanisch, demokratisch oder anarchistisch zu nennen sind. Aber sie werden wissen, daß sie zu diesen politischen Gerechtsamen, die, wie man aus den zehn Sätzen steht, durchaus an die Tradition und die vorhandenen Gliederungen anschließen und in fester, gründlicher und friedlicher Arbeit ausgebaut werden sollten, nur gleichzeitig mit der Schaffung ihrer Einrichtungen der Gerechtigkeit im Wirtschaftsleben kommen können. Der Sozialismus, der die Gesellschaft, das Volk, die Kultur der Freien und Verbundenen schaffen will, kommt mit andern Forderungen und aus anderem Geiste als all die Interessenparteien, die nie etwas Rechtes durchsetzen werden, weil sie, mögen sie sich Liberale oder Sozialdemokraten oder wie sonst nennen, doch allesamt nur einen Namen verdienen: Die genügsamen Schreier. Wir sind ungenügsam und wir wollen auch aus Preußen machen, worein wir jede kleinste und größte Menschengemeinschaft verwandeln wollen: einen Sozialistischen Bund.
Nachschrift des Verfassers: Ich liebe es, meine Vorschläge und Verwirklichungsgedanken in die scharfe Form kurzer, unter einander zusammenhängender Sätze zu bringen. So sind die zwölf Artikel, so sind nun die zehn Leitsätze der Politik entstanden, die nur eine nähere Erläuterung zu den Artikeln 3 und 4 sind, die von der Republik und der Anarchie handeln und die bisher wenig verstanden worden sind. Ich glaube, daß durch diese Form der bestimmten Zusammenfassung das Weiterdenken und die Diskussion meiner Tendenzen erleichtert wird; und wünsche allerdings auch, daß ihre Verwirklichung durch diese Losungsworte gefördert wird.
1910
Das dritte Flugblatt: Die Siedlung
Wir wollen Siedlungen gründen; wir wollen, daß die Arbeiter Landarbeit, auf dem Feld und in den Gärten, und Industriearbeit, in Werkstätten und Fabriken, vereinigen; wir wollen recht viele, nach Möglichkeit alle unsre Bedürfnisse selbst herstellen.
Man fragt, wo wir den Boden hernehmen? Ja freilich, das muß man fragen, denn der Boden ist den Massen der arbeitenden Menschen genommen worden, und die Proletarier in den furchtbaren Massenanhäufungen der Großstädte und Industriestädte meinen, das müsse so sein und sei immer so gewesen.
Es ist aber nicht immer so gewesen und darf nicht so bleiben. Es ist noch gar nicht so lange her, daß man die arbeitenden Menschen, daß man Männer, Frauen und Kinder mit Gewalt und List vom Lande vertrieben hat. Zweierlei Interessen, zweierlei Gewalthabern wurde damit gedient: die Landjunker hatten Landhunger und die Industrieherren und Schlotbarone hatten Menschenhunger. Auf dem Lande waren zuviel Menschen, die kleine Stücke Boden zu eigen oder zu Gemeindebesitz hatten, und in den Städten waren zuwenig Menschen, die in den Fabriken fronten.
In den revolutionären Bewegungen, die am Ende des 18. Jahrhunderts von Frankreich her begannen, wurde der ländlichen Leibeigenschaft ein Ende gemacht. Aber die Herren und die Art des Frondienstes haben nur gewechselt; noch immer ist es der Großgrundbesitz, ist es der Bodenraub, der die Ungerechtigkeit und das Elend zuwege bringt.
Der Boden ist ganz etwas andres, als was man Kapital nennt.
Kapital ist zweierlei: erstens Arbeitsprodukte in Form von Wohnungen, Fabriken, Werkzeugen, Maschinen, die man zu weiterer Arbeit braucht; zweitens Kredit, gegenseitiges Vertrauen, das die Produktion und den Austausch der Güter ermöglicht. Kapital also ist Kundschaft, ist vereinigter Konsum und sind Arbeitsprodukte, die, immer wieder erneuert, von Arbeitern hergestellt werden. Heute freilich ist das Kapital Zins und Wuchergeld, weil das Zeichen des erwarteten Produkts, das Mittel des Tausches zum König und Erpresser gemacht worden ist; aber das Volk könnte dem Unwesen durch die Vereinigung seines Konsums, durch die Organisation seines gegenseitigen, unentgeltlichen Kredits sofort ein Ende machen, für seinen eigenen Bedarf arbeiten und aus dem »Kapitalismus« austreten, wenn es den Boden hätte!
Die Gesellschaft kann nur kapitalistisch sein, weil die Massen bodenlos sind.
Der Boden nämlich ist kein Kapital, ist ganz etwas andres als Kapital.
Der Boden, aus dem alles kommt, was die Industrie dann weiter verarbeitet, und aus dem all unsre Lebensmittel kommen, ist ein Stück Natur, wie die Luft, die wir atmen, wie das Licht und die Wärme, ohne die kein Leben ist.
Wie die Luft und das Licht muß die Erde und das Wasser frei sein.
Das wissen alle Menschen von jeher und werden es in alle Zeiten hinein wissen. Niemals wird es in den Kopf eines Menschen wirklich hineingehen, daß der Boden etwas sei, das einzelnen Menschen gehören und Massen nicht gehören kann. Er gehört allen - er gehört keinem.
Diese Herrenlosigkeit des Bodens, die von Natur aus ist, braucht durchaus nicht die Form des Gemeineigentums anzunehmen.
Man darf sich das beileibe nicht so vorstellen, als ob nun jeder Besitzer von seinem Erbe vertrieben werden solle, oder als wenn gar niemand mehr ein Hemd am Leibe oder Stiefel an den Füßen haben dürfe, weil das ja auch Bodenprodukte seien!
Die den Sozialismus verwirklichen wollen, dürfen keine Kinder und schwärmerischen Pfuscher sein. Alle Kultur beruht von jeher auf dem Besitz, und gegen den Besitz, sei es nun Gemeindebesitz oder Privatbesitz, ist nichts einzuwenden, sondern gegen die Besitzlosigkeit!
Die Herstellung der Herrenlosigkeit des Bodens oder des allgemeinen Besitzes an Boden und Bodenprodukten kann nur in der Form vor sich gehen, daß in allen Landstrichen von Zeit zu Zeit eine Neuaufteilung des Bodens erfolgt. Das wird die Aufgabe der Gemeinden, der Kreise, der Provinzen sein, und vielfach wird an altes Recht angeschlossen werden und verjährtes Unrecht wieder gutgemacht werden.
Das Stück Natur, das allen gehört, den Boden, können wir nur wiedererlangen, wenn das Stück Natur, das wir selber sind, ein andres wird; wenn ein neuer Geist des Ausgleichs, der Erneuerung aller Lebensbedingungen über uns kommt. Dann kommt wieder wirkliche Kultur, und sie wird nicht aussehen wie das Hirngespinst und das Wortgemälde derer, die ins Allgemeine und Nebelhafte drauflos und drum herum schreiben, sondern sie wird eben eine Wirklichkeit, das heißt Vorläufiges, Veränderliches und Bewegliches sein.
Heute machen sich die Menschen, die Freunde ganz ebenso wie die Feinde des Sozialismus, die fabelhaftesten Vorstellungen von dem Aufhören des Privateigentums am Grund und Boden. Das kommt daher, daß sie als Ungläubige und Tatlose immer nur ans Vollendete, ans sogenannte Ganze, ans letzte Ende denken, statt an den allerersten Anfang, das Handanlegen und Durchsetzen. Unter uns Menschen und in der Natur überhaupt gibt es keine fertigen Gebilde, nichts Rundes und Abgeschlossenes. Rund und geschlossen sind nur Wörter, Bilder, Zeichen und Phantasien. Die Wirklichkeit ist in der Bewegung, und der wirkliche Sozialismus ist immer nur beginnender, ist immer nur ein solcher, der unterwegs ist.
Die Gemeinden werden sich in ihrer Gemarkung umsehen, und die Ältesten werden begehrlich und mahnend von alten Zeiten erzählen; die Stadtproletarier werden ihr Blut wieder in sich rauschen fühlen und werden spüren, daß es Bauernblut ist, und viele, viele werden wieder mit Sack und Pack in die Dörfer und kleinen Städte ziehen, und dort in den Dorffabriken, den Werkstätten und zugleich in den Feldern und den Gärten arbeiten. Die Bauern brauchen Menschen, Geist, Bildung, Regsamkeit, Freiheit; und die heute entwurzelten und haltlosen Proletarier brauchen Land, Charakter, Verantwortlichkeit, Natur und Liebe zur Arbeit und Freiheit. Und auch die Menschen der geistigen Arbeit werden kommen, die Künstler, die Gelehrten, die Stubenhocker, die Tagelöhner und Prostituierten des Geistes. Sie werden wieder solche werden, die ihre Feierstunden und ihren Aufschwung und ihre Einsamkeit für sich haben, die aber in den vielen langen Stunden des Alltags ihr Wissen, ihre Technik, ihre Arbeit mit ihren Menschenbrüdern in der Gemeinde vereinigen werden.
Wir sind längst imstande, in allen Kulturländern von unten auf die Verteilung des Landes und seiner Produkte in Einklang zu bringen mit der Bevölkerungszahl; und dieser große Ausgleich ist die Aufgabe, die vor uns steht.
Womit aber beginnen wir? Wie führen wir das durch? Sagen, predigen, anfeuern, fordern, schreien?
Dagegen soll gar nichts gesagt werden; es wird gut und nötig sein; denn lange genug ist die einfache Wahrheit mit allerlei politischen und angeblich wissenschaftlichem Kram verschleiert worden.
Und flüstern und denken und in Gedanken und Erfahrungen und Kenntnissen weiterspinnen wollen wir das alles auch.
Aber das ist nicht genug; das ist für die Pioniere, für alle, die mit Herz und Seele am Sozialismus hängen, nicht das einzige, nicht das Wichtigste.
Was wir Sozialismus nennen, ist freudiges Leben in gerechter Wirtschaft. Die Menschen wissen heute nicht, erleben es nicht mit dem wahrhaften Wissen des Dabeiseins und Erfassens, mit dem Wissen, das Neid und Lust und Nachahmung mit sich führt, was das ist: freudiges, schönes Leben. Wir müssen es ihnen zeigen.
Wir wollen nach Möglichkeit aus dem Kapitalismus austreten ; wir wollen sozialistische Gehöfte, sozialistische Dörfer gründen; wir wollen Land und Industriearbeit vereinigen; wir wollen, soweit es geht, und es wird immer besser gehen, wenn wir nur erst beginnen, alle unsre Bedürfnisse selbst herstellen und bald auf unserm neuen, dem sozialen Markte tauschen und den kapitalistischen vermeiden.
Wir wollen Vorausgehende sein, wir wollen uns in Bewegung setzen und durch unsre Bewegung wollen wir die Massen bewegen.
Da war einmal ein weites, flaches, weißes, leichenhaftes, unbewegliches Schneefeld. In der weiten Fläche standen da und dort Schneemänner, die hielten Reden an das Schneefeld und erschütterten die Luft und hielten auch Reden an die Felsblöcke, die wie kahle Egoisten einsam und unzugänglich sich erhoben. Und es veränderte sich nichts. Da aber fingen ganz hinten ein paar Schneeflöckchen an, sich zu vereinigen und sich zu bewegen. Das breite Feld rührte sich nicht, aber es murrte: »Egoisten, die für sich wirtschaften wollen! Lösen sich von der großen Masse los! Was wollen die paar verlorenen Flocken!« Aber die Bewegung der wenigen, die wirkliche Bewegung hatte etwas geschaffen, was vorher nur dem Namen nach da war: Bewegung; denn freilich, ihr totes Ruhen und die Reden ihrer Schneemänner hatten sie schon ihre Bewegung genannt. Nun aber war wirkliche Bewegung durch diese Absonderung, dieses Losgehen der wenigen gekommen, und es wurden mehr und mehr, und bald war wie mit einemmal das ganze ungeheure Schneefeld in unaufhaltsame Bewegung gebracht und brauste wie ein ungeheurer Strom talabwärts.
Arbeitende Menschen, die ihr in Berufsverbänden, in Gewerkschaften, die ihr vor allem in euren Konsumgenossenschaften vereinigt seid; ihr seid bisher viel zu zaghafte Sozialisten gewesen, und euer Revolutionarismus, der ganz und gar aufs Wort und auf die Hoffnung gestellt ist, war vielleicht das Zaghafteste an euch. Sozialismus ist neue Wirtschaft; und neue Wirtschaft muß begonnen werden. Vereinigt euren Konsum, damit ihr euch aus Überschüssen und aus Kredit - organisierte Kundschaft schafft Kredit - die Eigenproduktion für eure Bedürfnisse schaffet. Vereinigt euren Konsum, damit euch eure Produktion nicht nur Weiterverarbeiten und Formveränderung sei, sondern das Gewinnen der Naturstoffe aus dem Boden selbst. Schafft euch Land an! Besiedelt das Land! Geht zu den Bauern und erweckt sie aus dem Schlafe. Sie sind in Zeiten, die noch nicht lange vergangen sind, die noch in unsern sind, ihres besten Blutes, ihrer besten Köpfe beraubt worden. Schaffe dir wieder das Wissen, du deutsches Volk, daß ihr zusammengehöret: Bauern, arbeitsame Bürger, Stadtproletarier und geistige Arbeiter!
Sind solche Siedlungen erst aus der gewaltigen Macht vereinigter Bedürfnisse geschaffen worden, ist das Freudeleben des Wirtschaftens in neu vom Geiste belebten Gemeinden erst da, dann wird es nicht mehr die Hoffnung in die Ferne sein, was die Massen erfüllt, sondern der Neid auf das, was sie greifbar um sich sehen: an allen Enden, in allen Gegenden sozialistische Anfänge, Vorbilder der Kultur. Dann wird die Frage wie eine Brandung emporschwellen: Wo nehmen wir den Boden her? Und dann wird im ganzen Volke durch Beschlüsse der kleinen und großen Gemeinschaften die Neuaufteilung des Bodens, die Zerschlagung des Großgrundbesitzes, die soziale Regulierung, wie sie von Zeit zu Zeit immer vorgenommen werden muß, beginnen. Darum ist unsre Zeit so träge, so unersprießlich, so zerrissen und unglücklich: weil wir zu lange schon in Passivität verharren, weil wir unsre große Aufgabe: den Besitz der Bevölkerungszahl anzupassen, zu lange schon aufgeschoben haben. Der Boden ist Natur und keines Menschen Eigentum; verjährtes Unrecht muß von Zeiten zu Zeiten immer wieder ins gleiche gebracht werden.
Raffen wir uns zur Aktivität auf; treten wir durch Vereinigung unsres Konsums aus dem Kapitalismus aus; schaffen wir das Volk, das heute nicht da ist; bilden wir die ersten Anfänge der neuen Gemeinden, der neuen Gesellschaft, der neuen Arbeit, des neuen Marktes.
Das Stück Natur, das allen gehört, den Boden, können wir nur wiedererlangen, wenn unsre eigene Menschennatur sich gewandelt hat: wenn der Geist der Verwirklichung und des Ausgleichs, der Erneuerung aller Lebensbedingungen über uns kommt und wir endlich wieder wissen: nur die Gegenwart ist wirklich, und was die Menschen nicht jetzt tun, nicht sofort zu tun beginnen, das tun sie in alle Ewigkeit nicht.
1910
Die Politische Polizei
So sehr es auch richtig ist, daß alles schon einmal da gewesen ist, zumal wenn es sich um das Aufstellen von Meinungen, falschen oder richtigen, handelt, so zweifle ich doch nicht, daß die Behauptung, die ich an den Anfang dieser Betrachtung stellen werde, noch von niemandem ausgesprochen wurde, daß der Leser sogar zunächst glauben wird, er solle mit einem Scherze gehänselt werden. Ich will nämlich den Lesern des Sozialist, den Freunden des Sozialistischen Bundes sagen: wollen sie mit einem weiten Blick nach rückwärts und nach vorwärts ermessen, wie tief wir heruntergekommen sind und wie hoch wir wieder hinauf müssen, so sollen sie zunächst darauf achten, daß Politische Polizei, von der hier einmal gesprochen werden soll, in der ursprünglichen Bedeutung der beiden Worte nichts anderes bedeutet als - Sozialistischer Bund.
Zunächst also - ich fahre ruhig fort und lasse mich von keinem Staunen aufhalten - ist politisch und Polizei das nämliche Wort. Politisch heißt: zur Politeia gehörig, und Polizei ist die Politeia. Politeia aber ist das Gemeinwesen, die Gesamtheit der Stadt oder Staatsangehörigen, und Aristoteles gebraucht das Wort schlechtweg im Sinne von demokratischer Republik, im Gegensatz zur Monarchie und Aristokratien Die Politeia ist also die Gemeinschaft oder der Bund der in ihren Interessen vereinigten Gemeinde oder die Republik freier Individuen, die um ihrer solidarischen Interessen willen sich korporativ organisiert haben. Und wollte man nachdrücklich betonen, daß diese Politei oder Polizei keinerlei selbständige Gewalt sich anmaßen dürfe, sondern nur um der Polis, um der Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit willen sich zusammenfüge, könnte man ganz gut ausdrücklich und verstärkend von der politischen, der politeilichen Politei reden, - so wie wir, um unsern Bund als einen Bund der Gerechtigkeit, der Freiwilligkeit, der Gesellschaft zu kennzeichnen, ihn nicht nur Bund oder Föderation, sondern verstärkend und wiederholend Sozialistischen Bund nennen.
Wir wollen hier nicht die langen und krummen geschichtlichen Wege verfolgen, auf denen die Politeia, die Bürgerschaft oder Republik bis zur Polizei im heutigen Sinn des Wortes herabgekommen ist. Am wenigsten von allen Einrichtungen der Gemeinden und des Staates hat die Polizei, wie sie seit etlichen Jahrhunderten sich herausgebildet hat, mit freiwilligen Korporationen selbständig zusammentretender Individuen oder Bürger mehr zu tun; am meisten von allen behördlichen Institutionen unserer Zeit trägt sie das Gepräge des Absolutismus und des Feudalismus.
Wir geben uns nicht mit Schlagworten ab, um irgendeine Einrichtung verächtlich zu machen oder abzutun. Wenn wir hier die Einrichtung der politischen Polizei einen Rest des Absolutismus und Feudalismus nennen, so heißt das: von der Reformationszeit ab ungefähr hatte sich aus dem Kampf zwischen ständischer Gewalt, Korporationen und Fürstengewalt der absolutistisch-feudale Staat herausgebildet. Es gab, politisch gesprochen, Untertanen und Herren. Mit den Umwälzungen in allen europäischen Ländern, deren großes Vorspiel die englische Revolution, deren Höhepunkt die französische Revolution war, hat die Untertanenschaft und das Gottesgnadentum der absoluten Fürsten aufgehört und an die Stelle des feudal-absolutistischen Staates ist der konstitutionelle Staat getreten: Es gibt keine Untertanen und keine Stände mehr, sondern Staatsbürger, die völlige Bewegungsfreiheit haben; nur daß sie, wenn sie sich gegen die selbstgegebenen Gesetze vergehen, nachträglich der Strafe verfallen. Dies ist die Tendenz des modernen Staates, eine Tendenz, die sich in den verschiedenen Ländern mehr oder weniger sauber und voll ständig durchgesetzt hat; nirgends gibt es so ansehnliche Reste des Feudalismus und Absolutismus wie in Deutschland, zumal in Preußen, und ein solcher Rest, der nicht nur von unserm, dem Standpunkt der Sozialisten aus, der vielmehr auch im Sinne des liberalen Bürgertums vorsintflutlich, vormärzlich und ein Stein des Anstoßes sein muß, ist die Polizei.
Die politische Polizei ist ein Staat im Staate; die politische Polizei ist der absolute Staat im Verfassungsstaate. Die politische Polizei muß die Tendenz haben, Kenntnis von allen politischen Strömungen, vom ganzen inneren Leben der Parteien und Richtungen zu nehmen. Es werden Personalakten geführt; es wird geschnüffelt und spioniert; Gerüchte, Berichte unzuverlässiger Personen werden zusammengetragen. Nun ist es mit allen Institutionen, mögen es Geselligkeitsvereine, Behörden oder Parteiorganisationen sein, so bestellt: sie werden zu einem bestimmten Zweck gegründet, haben aber die Tendenz in sich, Selbstzweck zu werden. Der Rauchklub » Kartoffelkraut« wird gegründet, um im Anschluß an eine gemeinsame Liebhaberei die Geselligkeit zu pflegen; der Verein soll also den Mitgliedern Maier, Müller, Schulze usw. Dienste tun. Bald aber wird der Klub selbst so etwas wie eine höhere Potenz, ein heiliges Gebilde; sein Zweck kommt nicht mehr in Betracht; er ist da, wie ein Göttlein über den Menschen, und es werden ihm Opfer gebracht. Oder eine Anzahl anarchistischer Vereine und Gruppen schließen sich, wie sie es nennen, zu einer Föderation, aber in Wirklichkeit zu einer Partei mit einer Zentralbehörde zusammen; ursprünglich doch wohl zu dem Zweck, das ihre zur Vorbereitung und Schaffung einer neuen Gesellschaft zu tun; aber wie lange wird es dauern, so wird man schon den Zweck darin finden, daß die Partei selbst recht groß und blühend dazustehen scheint. Schlimm ist schon das, daß die Institution nicht mehr dient, sondern ein Ölgötze wird; schlimmer ist aber oft noch, daß hinter dem Ölgötzen oder in ihm sehr gebrechliche Menschen sich befinden, Angestellte, Kommissionen, Vorstände, Beamte, und daß der Selbstzweck der Institution sich oft in die mehr oder weniger selbstischen Zwecke von Personen verwandelt.
So ist es nun auch in allen Ländern mit der Institution der politischen Polizei bestellt. Nicht das ist oft die Hauptsache, daß sie irgend einem Zweck im Interesse des angeblichen Staatswohls dient; sondern daß sie da ist, also zu tun haben muß, also sich wichtig machen muß, also, wenn sie nicht genug zu tun hat oder in ihrer staatsretterischen Bedeutung nicht genug hervortritt, Anlässe selbst schaffen muß. Das ist immer, in allen Ländern und schon frühzeitig als die besondere Gefahr, als das Heillose und Verderbliche an dieser Institution erkannt worden. Schon 1828 schrieb in seinem Enzyclopädisch-Philosophischen Lexikon der alte wackere Philosoph Krug in dieser Hinsicht: »Freilich hat die Polizei sich oft nicht bloß lästig, sondern auch verhaßt gemacht; ja sie hat Verbrechen begangen und sogar mit Verbrechern sich verbündet, um ihre Zwecke, gute oder schlechte, zu erreichen. Besonders hat die sogenannte geheime Polizei (die man wohl auch eine höhere genannt hat, ob sie gleich wegen der niedrigen Mittel, deren sie sich zu ihrem Zwecke bediente - Erbrechung der Briefe, Spionerie im Schoße der Familien, Aufwiegelung der Unzufriedenen durch verkleidete Polizeidiener, die sich für Gleichgesinnte ausgaben, agents provocateurs - lieber die niedere heißen sollte) sich eben dadurch selbst um allen Kredit gebracht.«
Hier sind nun ernste Worte zu sagen. Es ist unbestreitbar und unbestritten, daß diese sogenannte geheime Polizei Verräter bezahlt, damit sie Geheimnisse, die ihnen um ihrer angeblichen Gesinnung willen bekannt geworden sind, der Behörde mitteilen. Was die militärischen Behörden um der Möglichkeit des Kriegs willen gegen auswärtige Staaten betreiben, Spionage, das organisiert eine von den Mitteln des Volks bezahlte Behörde gegen alle Parteien und Richtungen im eigenen Volk. Denn alle werden sie bespitzelt, je nach der politischen Konstellation: Konservative, Liberale, Klerikale, Polen, Welfen, Elsässer, Dänen, Sozialdemokraten, Anarchisten - und die Regierung selbst.
Es muß nachdrücklich gesagt werden - wie kläglich, daß so Selbstverständliches erst noch gesagt werden muß: - daß es das Recht jedes Menschen und jeder kleineren oder größeren Vereinigung von Menschen ist, Geheimnisse, private Pläne, Besprechungen und Versammlungen zu haben. Dieses letztere Recht ist nunmehr endlich auch im deutschen Reichsvereinsgesetz ausdrücklich anerkannt worden. Wenn die politische Polizei mit Hilfe von Agenten heraushorchen will, was die oder jene Richtung für Absichten hat, dann kümmert sie sich um Dinge, die sie nichts angehen und gebraucht Mittel, über deren Verächtlichkeit alle anständigen Menschen einig sein müßten.
Warum sind sie nicht darüber einig ? Warum wird nicht auf dem Wege Rechtens das Institut der Politischen Polizei abgeschafft? Warum werden jahraus jahrein in allen deutschen Ländern die Mittel bewilligt, um einen inneren Krieg gegen die organisierten Volksgenossen in der Weise zu führen, daß eine Staatsbehörde diese Gruppen im Volke eine nach der andern, eine wie die andere ausspioniert? Die Antwort auf diese Fragen liegt in den Anfangsbemerkungen dieses Artikels, die wohl scherzhafte Form haben, aber das Ernsthafteste sind, was hier zu sagen ist: weil wir kein Volk, kein Gemeinwesen, keine Republik von Freien und Aufrechten sind. Wenn wir, die im deutschen Volk vorhandenen Parteien und Richtungen uns gegenseitig mit Hilfe von Verrätern bespitzeln würden, wären wir traurige Wichte. Wie erbärmlich sind wir aber erst, da wir uns alle miteinander bespitzeln lassen, - ohne daß eine einzige Richtung von den Resultaten dieser Spionage etwas erfährt! Wir wenden alle das gehässigste und verächtlichste Mittel nicht gegeneinander an - aber wir lassen es gegen uns alle anwenden - von einer Behörde, die sich damit zum Widerpart und Feind aller Richtungen und Bewegungen im Volke macht und damit schon bekundet, daß sie nicht unserm Volke und unserer Zeit angehört.
Es ist noch zu bemerken, daß die amtlichen Personen, die den Spionagedienst in diesem inneren Krieg versehen, in Deutschland im oberen Stockwerk fast durchweg Reserveoffiziere, im unteren ausgediente Unteroffiziere mit dem Zivilversorgungsschein sind. Das sind Leute, die zum Kriegführen geeignet sein mögen, die aber für alles Feinere und Psychologische meist nicht den geringsten Sinn haben.
Und noch auf eins sei schließlich hingewiesen: die Staatsvertreter, die solche Institutionen für nötig erachten, betonen mit besonderem Nachdruck den christlichen Charakter des Staats, den sie mit solchen Mitteln schützen wollen. Da ist es gut, in Erinnerung zu rufen, daß Judas Ischarioth ein besoldeter Polizeiagent der jüdischen Behörden, vielleicht ein agent provocateur war und daß nach Aussage der Evangelien Jesus Christus mit Hilfe dieses Spitzels Judas ans Kreuz geliefert worden ist. Der Geist, der Christus und seine Jünger trieb, lebt heute in den beobachteten und gehetzten Sozialisten und Anarchisten; und der Staat, der sich gegen den Geist der Erneuerung und Wiedergeburt der uralten Mittel der Spionage und der Angeberei bedient, ist kein christliches Gemeinwesen, sondern ein Judas-Staat. [...]
Auch wir wollen der Politischen Polizei einmal ein Geheimnis verraten: das wirkliche Geheimnis unseres Volkes und unserer Zeit, die unterirdische Vorbereitung einer ungeheuren Umwälzung, die Revolution der Geister und der gesamten Zustände lebt heute schon in Einzelnen, die sich untereinander an geheimen Zeichen kennen und die keinen unbekannten Oberen brauchen, weil sie alle zusammen einen Bund der Freien und Gleichen bilden, - und von diesem Geheimnis wird kein Polizeikopf jemals Kenntnis erhalten, weil er niemals das Geringste davon verstehen wird. Es schwelt ein Brand, es sind gewaltige Explosivstoffe in tiefen Gründen versenkt, es ist ein Bund und eine Verschwörung in der ganzen Menschheit im Gange, - und die Polizei weiß es nicht, ahnt es nicht und hemmt es nicht. Es bereiten sich große Dinge vor, die nie ein Verräter der Polizei zutragen wird, weil nie eine verräterische Seele das Geringste davon wissen wird.
1910
Die zwölf Artikel des Sozialistischen Bundes
Artikel 1 Die Grundform der sozialistischen Kultur ist der Bund der selbständig wirtschaftenden, untereinander in Gerechtigkeit tauschenden Wirtschaftsgemeinden.
Artikel 2 Dieser Sozialistische Bund tritt auf den Wegen, die die Geschichte anweist, an die Stelle der Staaten und der kapitalistischen Wirtschaft.
Artikel 3 Der Sozialistische Bund akzeptiert für das Ziel seiner Bestrebungen das Wort Republik im ursprünglichen Sinne: die Sache des Gemeinwohls.
Artikel 4 Der Sozialistische Bund erklärt als das Ziel seiner Bestrebungen die Anarchie im ursprünglichen Sinne: Ordnung durch Bünde der Freiwilligkeit.
Artikel 5 Der Sozialistische Bund umfaßt alle arbeitenden Menschen, die die Gesellschaftsordnung des Sozialistischen Bundes wollen. Seine Aufgabe ist weder proletarische Politik noch Klassenkampf, die beide notwendiges Zubehör des Kapitalismus und des Gewaltstaates sind, sondern Kampf und Organisation für den Sozialismus.
Artikel 6 Die eigentliche Wirksamkeit des Sozialistischen Bundes kann erst beginnen, wenn sich ihm größere Massenteile angeschlossen haben. Bis dahin ist seine Aufgabe: Propaganda und Sammlung.
Artikel 7 Die Mitglieder des Sozialistischen Bundes wollen ihre Arbeit in den Dienst ihres Verbrauchs stellen.
Artikel 8 Sie vereinigen ihre Konsumkraft, um die Produkte ihrer Arbeit mit Hilfe ihrer Tauschbank zu tauschen.
Artikel 9 Sie schicken Pioniere voraus, die in Inlandsiedlungen des Sozialistischen Bundes möglichst alles, was sie brauchen, auch die Bodenprodukte, selbst herstellen.
Artikel 10 Die Kultur beruht nicht auf irgendwelchen Formen der Technik oder der Bedürfnisbefriedigung, sondern auf dem Geiste der Gerechtigkeit.
Artikel 11 Diese Siedlungen sollen nur Vorbilder der Gerechtigkeit und der freudigen Arbeit sein: nicht Mittel zur Erreichung des Ziels. Das Ziel ist nur zu erreichen, wenn der Grund und Boden durch andere Mittel als Kauf in die Hände der Sozialisten kommt.
Artikel 12 Der Sozialistische Bund erstrebt das Recht und damit die Macht, im Zeitpunkt des Übergangs durch große grundlegende Maßnahmen das Privateigentum an Grund und Boden aufzuheben und allen Volksgenossen die Möglichkeit zu geben, durch Vereinigung von Industrie und Landwirtschaft in selbständig wirtschaftenden und tauschenden Gemeinden auf dem Boden der Gerechtigkeit in Kultur und Freude zu leben.
1908/1910
Lew Nikolajewitsch Tolstoi
Seit Jean Jacques Rousseau, der ein priesterlich wilder Vorbote und Feldprediger der großen Revolution des 18. Jahrhunderts gewesen ist, hat kein dichterischer und denkerischer Schreiber eine so in das lebendige Tun gehende Wirkung auf die Völker geübt wie Lew Nikolajewitsch Tolstoi, der jetzt im Alter von zweiundachtzig Jahren mächtig gestorben ist. Wir denken an die Gesamtheit der Wirkung, die Goethe getan hat: in ruhiger Haltung des Körpers sitzen wir da, über das Gesicht legt es sich wie Schönheit und verklärte Heiterkeit, die Muskeln entspannen sich und groß schauen unsre erweiterten Augen gerade hin über das Land. Wir denken an Ibsen: die Stirne kraust sich, die Augen blicken schärfer und wie in bösem Zweifel, um den Mund zuckt es, der Kopf wiegt sich in Unsicherheit und der Finger legt sich an die Nase. Wer aber diesen wilden Mann Tolstoi erlebt hat, der ist mit dem ganzen Leib sein geworden: die Arme haben sich in starkem Schwung nach oben und rückwärts geworfen, Kopf und Nacken haben sich bohrend, stoßend nach vorne geschoben, die Bewegtheit unsrer Seele ist zum Aufruhr, zum Nichtmehrstillhaltenkönnen, zur Erschütterung, zum Bäumen und wahrhaft zum Schreiten geworden.
Tolstoi war wie Rousseau eine Einheit von Rationalismus und inbrünstiger Mystik. Dieser Russe war der verkörperte gesunde Menschenverstand; er war so auf den Sinn und die Nützlichkeit aus wie nur je ein Bauer, und er hat sich in keinem Augenblick seines Denkens mit einer Lehre zufrieden gegeben, die nicht seiner Vernunft volles Genüge tat. Nur daß er, als er auf seiner Höhe angelangt war, die Vernunft eines Propheten und eines Heiligen hatte; daß ihn das nicht mehr nützlich dünkte, was der Rost und die Motten fressen, sondern nur das, was der Seele ein Heil und dem Geiste die ewige Wahrheit ist.
Er hat auch auf seiner Höhe, in den letzten fünfundzwanzig Jahren, nicht gerastet. Er ist da durchaus nicht der gleiche geblieben, er ist gewachsen bis zuletzt. Er nahm wohl da seinen Ausgang, wo ihm selber am meisten Anfechtung geworden war: von dem, was er damals, in den Zeiten der »Kreutzersonate «, etwa die Sündhaftigkeit der Wollust genannt hat. Er ist spottschlecht verstanden worden; schon in diesem Beginn kam es ihm auf die im Leben zu verwirklichende Erkenntnis im Sinne Platons, des Christen, Spinozas und Buddhas an. Die Menschheit stirbt dabei aus? Nun, was weiter ? Die Welt bleibt, was sie ist; sie kann sich nicht ändern. Aber sie stirbt ja schon nicht aus, sagt er uns gleich damals deutlich genug; habt doch ja keine Sorge, daß die Vielen auf mich hören; um derentwillen braucht ihr, zu denen ich eigentlich rede, euch nicht vom Heil abbringen zu lassen. Ihr, merket doch ihr, daß es in der Welt nicht auf den Genuß ankommt, sondern auf die Verwirklichung Gottes, der nicht draußen, sondern der in euch drinnen ist. Warum gebt ihr euch mit diesen unaufhörlichen, unendlichen Wandlungen ab, mit der Gier, die Welt in euch hineinzufressen? Glaubt ihr denn, die Welt würde davon besser, daß sie recht massenhaft in euch komme? gerade in euch ? Oder ihr würdet besser, wenn ihr das und jenes gewännet? Die Welt ist in euch, das Ganze seid ihr; ihr findet es, wenn ihr euch von allem leiblich abkehrt und mit allem geistig und liebend vereint. Ihr findet den göttlichen Schatz eurer Seele, wenn ihr euch leiblich arm machet.
Das war schon damals seine Lehre, und sie wurde unverkennbar und deutlich gesprochen. Die Liebe im Sinne Platons, im Sinne Jesu, im Sinne Spinozas, die himmlische Liebe des in sich einigen Geistes zu sich, die ihr irdisches Bild und ihre Lebendigkeit im Gefühl und Tun erhält durch deine Liebe zu allem Lebendigen, setzte er der Körperlust entgegen, die sich auch Liebe nennt, für ihn aber auch in ihrer höchsten Gestalt eine Ausschließlichkeit, eine Bevorzugung und darum nicht Liebe, sondern eitler Wahn hieß. Mehr und mehr kam von dieser Liebe her das große Verlangen über ihn, aus der Philosophie, die ihm Religion war, eine Erfüllung nicht bloß für das in seine Isoliertheit zurückgezogene geistige Individuum, sondern für die Gesellschaft der Menschen zu machen. Er machte keine Konzessionen; er war immer der Mann, der bis zur äußersten Konsequenz ging; aber sein Ziel war jetzt nicht mehr bloß die Heiligkeit der Person, sondern die Heiligkeit der Gesellschaft durch die Vereinigung schwacher und in die Welt verstrickter, aber stark und ehrlich nach Reinheit strebender Menschen, die dem Beispiel ihrer Besten nachgehen wollen.
Was Tolstoi wie die Pest gehaßt hat, war durchaus nicht die Schwäche des Widerstands gegen die Lebenstriebe. Er hatte eine bis zur Zärtlichkeit gehende Liebe zu den starken Naturen, die ihrer Triebe und Lüste nicht Meister wurden, zu den Sündern und Verbrechern. Was er haßte, war die Schwäche der Vernunft und die geschwächte Aufrichtigkeit. Mit allen Waffen der Demaskierung, mit den Keulenschlägen seiner geraden Volkssprache und seiner bauernharten Logik und mit den Witzen seiner feinen Zivilisation bekämpfte er Lüge, Heuchelei, Aberglauben in den Kirchen der Konfessionen und der Wissenschaften. Für ihn war Glaube und Vernunft so ein und dasselbe, wie Religion ihm zusammenfiel mit der Liebespraxis der Milde und der Anerkennung alles Lebendigen.
Wer ihn verstehen will, muß wissen, daß seine Genialität Nüchternheit war. Er war so nüchtern und klug, wie es nur je ein Kaufmann oder Politiker gesesen ist. Nur war er nüchtern und ein Handelsgenie nicht in den Dingen des Marktes, sondern in den Dingen des wahren Lebens. Das war seine Macht, die er über uns alle hatte: daß er seine Besonnenheit, seine Geradheit und Ehrlichkeit, seine Klarheit und seinen Wirklichkeitssinn in die Tiefen des Gemüts geworfen hatte und daß er nur auf jenem Markte stand, auf dem um unser ewiges Teil gehandelt wird.
Da war endlich einmal ein jugendlich feuriges Herz, ein Geist mit der Tapferkeit und Rücksichtslosigkeit des Knaben, der ein Greis war und nichts andres mehr vom Leben wollte als seine tiefste Schönheit und Göttlichkeit. An dem Anblick dieser mannhaften Gestalt, die unbeugsam, starr, heftig, wild, leidenschaftlich das Rapier schwang für die Dinge, die sonst in unseren Zeiten nur ein papierenes oder öliges Dasein führen, ihm aber glühendes Leben waren, haben wir uns Jahre und Jahre gelabt; und ein Labsal war uns auch seine letzte Wanderung; seine kriegerische Pilgerschaft in den Tod. Wir haben ihm alle den Tod in diesem hohen Moment von Herzen gegönnt; und doch wissen wir, es wäre nichts Kleines gewesen, was er uns weiter gelebt hätte, wenn die Kraft des Körpers gereicht hätte.
Man muß bis auf die Propheten des Alten Bundes zurückgehen, um Männer zu treffen, die so wie er zornige, wutentbrannte Streiter für Güte, Sanftmut, Verzicht und Brüderlichkeit gewesen sind; aber ganz ohnegleichen war er in seiner Vereinigung von grober Wahrheit und dolchscharfer Logik. Wie er das Elend auf die Regierung, wie er die Regierung auf die kriegsmäßige Gewalt, wie er dieses Soldatentum auf die durch Schule und Kirche gezüchtete Dummheit, wie er die Seelenverfassung der Mächtigen auf ihre Herzensödigkeit zurückgeführt hat, wie er schließlich demonstriert hat, daß das Ziel, die Gewaltlosigkeit, zugleich schon das Mittel ist, um dieses Ziel zu erreichen, daß alle Gewaltherrschaft zusammenbricht und alle Unrechtsqual erlischt, wenn die Knechte aufhören, Gewalt zu üben, Gewalt gegen sich selbst: das hat keiner wie er mit solcher Kraft und solcher unwiderlegbaren Einfachheit einmalig und selbstverständlich in die Köpfe gehämmert; auch sein großer Vorgänger Etienne de la Boëtie, den er, als er schon in seinem gleichartigen Wirken stand, freudig kennengelernt hat, besaß keine solche Ungebrochenheit und heilige Macht der Rede. Tolstoi war nie vorher ein solcher Sprachkünstler gewesen wie jetzt, da er in der Sprache des Volkes zu allem Volke vom rechten Leben sprach.
Von geradezu hygienischer und gymnastischer Bedeutung für ihn, für die Erhaltung seiner geschmeidigen Kraft und seiner stählernen Jugend, und ein inständig schönes Bild für uns war die immer, von Jahr zu Jahr steigende Übereinstimmung seines Lebens mit der Lehre. Er ist, soviel er auch von sich abtat, und so bewunderungswürdig er Gewohnheiten ablegte, die er verächtlich oder überflüssig fand, nie mit sich zufrieden gewesen und konnte sich nie genug tun. Viele haben es gewußt, daß er von einem Teil seiner Familie wie mit einem Wall umgeben war und daß er jahrelang nach außen und innen gekämpft hat, um sich von dieser Umgebung und Vormundschaft der Gewöhnlichkeit, die er in menschlich-natürlicher Art lieb hatte und doch durchschaute, freizumachen. In den »Gesprächen mit Tolstoi«, die sein Freund Teneromo gerade jetzt in deutscher Sprache herausgegeben hat, wird erzählt, und keiner erfährt es ohne innige Erschütterung, wie Tolstoi sich vor Jahren schon darüber geäußert hat. »Lew Nikolajewitsch« , heißt es da, »kehrte eines Tages sehr traurig von einem Spaziergang zurück.« Er war auf der Landstraße zwei alten Bauern begegnet, die von weither gewandert waren, um den Märchenerzähler, ihn selbst nämlich, zu besuchen. Sie gehen plaudernd mit ihm dahin, und wie er sich ihnen offenbart, daß er selbst der Geschichtenerzähler sei, sagen sie: »Wahrhaftig? Es könnte schon sein. Du hast ein verhärmtes Gesicht, grämst dich wohl viel. Komm her, Lew, laß dich küssen.« Wie sie sich nun aber dem Schloß Jasnaja Poljana nähern, wie die Straße in den Park einbiegt, wie eine feine Gesellschaft in einer Equipage an der Rampe vorfährt und es gar zu Tisch läutet, da bleiben sie stehen und lehnen es ab, mit ihm ins Haus zu kommen. Und der eine, eben der, der ihn geküßt hatte, erzählt ihm die Geschichte von der Wahrheit und dem Unrecht; von der Wahrheit, die schweigen muß, weil sie mit dem Unrecht Tee getrunken hat. »So geht es auch dir,« fügt er hart hinzu: die beiden Greise aus dem Volk gehen und lassen ihn den feinen Leutchen, die er selber verachtet. »Glauben Sie mir,« sagte Tolstoi zu dem Freunde, dem er von dieser furchtbaren Begegnung berichtete, »dieses Wort traf mich wie ein zischender Stachel ins Herz ...und jetzt, wenn ich dieses Schieben der Stühle oben höre, wenn ich dieses Hin- und Herlaufen der Lakaien, die die Herrschaften bei Tisch bedienen, sehe, quält und drückt es mich so schwer ... Ich trinke ja wirklich mit ihnen Tee. Und dieser Greis hat recht, tausendmal recht, daß ich die Wahrheit nicht sagen kann ... Ich reiße mich aber mit ganzer Seele von dem da los und bin überzeugt, daß ich es noch durchführen werde ...«
Wir wissen alle, wie der Zweiundachtzigjährige es durchgeführt hat, wie er aus Gewissensnot die alte Frau und die Kinder geflohen ist, deren Tisch und Lebensführung er längst nicht mehr teilte, die er nur noch als seine Umgebung bei sich duldete, während sie, die armen Reichen, wohl wähnten, daß sie ihn, den in ihrem Reichtum freiwillig Armen, bei sich geduldet und beinahe gefangengehalten hätten; wie er, ein umgekehrter Faust, mit der Kraft des Sterbenden in die Welt rannte, um die Welt zu fliehen; wie er, ein umgekehrter Prometheus, in die Wüste floh, weil er das Leben, sein wahres Leben liebte; wie er, ein anderer König Lear, in die Nacht stürmte und auf der Heide das Haar lieber den Winden und die Brust dem Unwetter preisgab, ehe er in das Haus der Seinen, die von ihm abgefallen waren, weil sie nie die Seinen gewesen, zurückkehrte; wie er unterwegs in einem kleinen Dorfbahnhof zusammenbrach und noch auf dem Totenbett einen Jähzornsanfall bekam, weil er sein gewohntes weiches Kissen unter dem Kopfe fand, das ihm die Tochter Cordelia untergeschoben hatte.
Heiliges Rußland! Dein Lew Nikolajewitsch ist kein Selbstgerechter gewesen! Er war ein Mann und ein Kämpfer, der mit größerer Kraft und innigerer Sehnsucht, als wir alle sie vermögen, nach der Reinheit und der Einheit des Lebens begehrt hat und der ein Erbe der alten Weisheit der großen Einsamen aller Zeiten gewesen ist; mild und schrecklich ist er gewesen und gegen keinen so streng wie gegen sich selbst. Als ein Milder und Schrecklicher ist er nun in die Geschichte eingegangen und ist für uns nicht mehr der Verfasser seiner Werke, sondern die Gestalt Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Großes, weites, unergründliches, wildes und inniges Rußland! Wenn je Propheten und heilige Männer waren, dann ist der aus ihrer Zahl, der jetzt von uns gegangen ist. Wir, die Heiden und die Völker, wir danken dir, daß du uns seinen köstlichen Anblick geschenkt hast! Wir danken dir, daß Tolstoi in uns lebt, in uns und unsern Kindern, in den Großen und in den Kleinen, wenn wir das unsre tun, um ein Leben der Ganzheit zu schaffen.
1910
1911
Brot
In Berlin ist ein großer Bäckerstreik ausgebrochen. Die Forderungen der Gesellen - sie glauben sich auf dem Wege des proletarischen Fortschritts, wenn sie sich lieber Bäckereiarbeiter nennen - sind berechtigt und nicht übertrieben; und da an einer guten, sauberen und appetitlichen Herstellung des Brotes jeder Mensch Interesse hat, wird mit Fug an die Konsumenten appelliert, damit sie die Bäcker unterstützen. Weil in unserer Zeit nichts aus dem Herzen und spontan, sondern alles nach der Schablone und der Partei geschieht, hat man für solches natürliche Tun einen technischen Ausdruck: es wird der Boykott erklärt; und dieser Boykott bleibt fast ganz auf die Arbeiter im engen Sinne beschränkt; die Bürger und Bürgerfrauen kümmern sich nichts um so wichtige Vorgänge.
Bei dieser Gelegenheit sei aber allen etwas gründlicheres Nachdenken empfohlen. Alle Konsumenten haben ein Interesse an gutem, schmackhaftem und - wohlgemerkt! - billigem Brot. Es deckt sich also in Wahrheit das Interesse der im Dienste kapitalistischer Betriebe stehenden Bäckergesellen und das Interesse der Konsumenten keineswegs: die Bäckerproletarier haben von ihrem Beruf aus nicht mehr Interesse am Brot wie die Arbeiter Krupps an Kanonen und Panzerplatten. Das ist das Kennzeichen kapitalistischer Arbeiter, daß die Produkte, die sie herstellen, sie nichts kümmern; nur ihre Arbeitsbedingungen und ihr Lohn geht sie an. Wollen die sämtlichen Konsumenten, die sämtlich das gleiche Interesse an gutem, schmackhaftem und billigem Brot haben, dieses Interesse wahren, diese Gemeinschaft erfüllen, so können sie es nicht dadurch tun, daß sie es mit den Bäckermeistern, -gesellen oder -lehrlingen halten, sondern nur dadurch, daß sie sich zum Backen zusammentun. Es ist das überaus Charakteristische für diese unsere lahme, faule, im Denken heruntergekommene, denkfaule und liederliche Zeit, daß nicht nur das unterbleibt, was vom Staate gehindert oder vom Eigentum erschwert wird, sondern vor allem auch das, was ohne weiteres sofort geschehen könnte, was von niemandem und nichts gehindert wird als von der eigenen Erbärmlichkeit, und was früher bestanden hat. Bourgeoisie, Kleinbürger und Arbeiter, Liberale und Sozialdemokraten, kommunistische und individualistische Anarchisten, alle blicken sie immer auf die furchtbaren Hindernisse, die der Staat und das Eigentum oder Kapital in den Weg legen. Solange sie aber nicht auf den Gebieten, die völlig staatsfrei sind, und auf denen keinerlei Monopol ihnen in den Weg tritt, ihre natürliche Schuldigkeit gegen sich selbst getan haben, wird es wohl klar sein, warum »dem Staat« und »dem Kapital« so viel Obhut überlassen ist: weil die traurigen Wichte sich nicht selber zu helfen wissen und Staat und Kapital brauchen, um auf den Füßen stehen und die Mäuler füttern zu können.
Alle Konsumenten ohne Ausnahme haben Interesse an gutem und billigem Brot. Alle Konsumenten, d.h. die Gemeinschaft oder die Gemeinde. Wo steht denn geschrieben, daß die vereinigten Interessenten eines Ortes zur Wahrung ihrer Angelegenheiten auf die behördlichen Gemeindevertretungen zu warten haben? Warum tun sich nicht die Mitglieder der kleineren Gemeinden, die Mitglieder der Stadtviertel zusammen und bauen sich Gemeindebacköfen und kaufen sich gemeinsam Mehl? Und gehen dann bald zu Gemeindemühlen über? Und gar nicht tut es not, auf alle zu warten; wäre nur erst ein Anfang, wie er mit Leichtigkeit von den vereinigten Gewerkschaften ausgehen könnte, wenn diese Sinn für Sozialismus, statt für kapitalistischen Klassenkampf hätten, so würden sich bald die meisten anschließen.
Nicht nur unappetitlich ist oft die Herstellung des Brots und ekelhaft das Hausen der Bäcker, nicht nur teuer ist das Brot, ebenso schlimm ist, daß die Mannigfaltigkeit des Brots verlorengegangen ist. O du köstliches Brot, in dem die Sonne, die monatelang auf den Feldern geglüht hat, mit den geheimen Kräften der Erde und des Wassers verbunden und erschlossen wurde, zu was für einer grauen, faden Fabrikware bist du erniedrigt worden, und was für chemische Giftmischereien (wissenschaftliche Methoden genannt) haben sich schon an dich gewagt! Das ist ein schlimmes Kapitel aus der Geschichte niedergehender Völker: die Geschichte verlorengegangener Künste und Techniken. Viele Geheimnisse der Hausfrauen im Weben, Kochen, Backen, viele Geheimnisse der Handwerker wie der Künstler, die sich in Jahrtausenden von Geschlecht zu Geschlecht fortgeerbt hatten, sind unwiederbringlich dahin. Das Beste, was Menschen haben, stirbt, wenn die lebendige Tradition vergeht; und Tradition kommt uns von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr abhanden.
Was das hier zu tun hat ? Nun, das Brot, von dem hier gesprochen wird, ist ein Beispiel, ein wichtiges, für das Brot des Lebens, für den Sinn der Gesellschaft. Nur wo Gemeinschaft und Gemeinschaftseinrichtungen sind, kann Individualismus und Mannigfaltigkeit gedeihen. Haben wir erst wieder Gemeindebacköfen, dann werden wir auch wieder Hausfrauen haben, die ihren eigenen Teig zum Bäcker schicken, und Männer und Frauen, die ihren Willen aussprechen, was für eine Art Brot sie haben wollen. Man muß weite Reisen in entlegene Dörfer, bald schon in entfernte Länder machen, um ein Brot zwischen die Zähne zu bekommen, das würzig und besonders schmeckt. In meiner Jugend wußte man noch in meiner süddeutschen Heimat, wie das Brot auf jedem Dorfe des Umkreises schmeckte; und in den Dörfern wußte man von bestimmten Häusern, daß die ein Brot buken, das kein andrer so machen konnte. Jetzt ist auch in die meisten Dörfer schon das Bäckerbrot, in viele das Fabrikbrot eingezogen.
Der Sozialismus, der echte Sozialismus bringt, nicht ausgedachtermaßen, sondern mit natürlicher Notwendigkeit all die schöne Kultur wieder, in all ihren mannigfaltig einzelnen Erscheinungen, die in den Jahrhunderten der Geistlosigkeit verloren oder gefährdet worden ist. Ist der auch so genannte Sozialismus der Marxisten nur ein verrückt konsequentes Zerrbild der kapitalilstisch-bürokratischen Öde, so ist der echte Sozialismus ein Vorschreiten in ein Reich hinein, das uns abhanden gekommene Schönheit, Freiheit, Mannigfaltigkeit und Innung, das uns Kultur und Tradition wiederbringen wird.
1911
Individualismus
Ehe ich sage, was man vernünftiger Weise unter Individualismus oder Anarchismus oder, wenn's denn sein muß, auch individualistischem Anarchismus zu verstehen hätte, will ich erwähnen, was man so nennt, aber nicht so nennen sollte. Es gibt seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre die Richtung des kommunistischen Anarchismus: sie wollen einen Zustand der Gesellschaft ohne Staat, ohne Herrschaft, also Anarchie; sie wollen an die Stelle der obrigkeitlichen Zwangsorganisation die freiwillige Verbündung setzen, also, gleichviel, ob man diese Bünde des näheren Vereine oder Gemeinden oder Gemeinschaften nennt, Kommunismus. Diese Bezeichnung hat demnach einen guten, logischen Sinn; und mag man noch so sehr die Voraussetzungen dieser Richtung kritisieren: die Bezeichnung, die sie sich beilegt, ist klar und gut, weil sie ihren Willen und ihre Meinung von sich selbst ausdrückt. Die Richtung sagt mit ihrem Namen unverkennbar: wir sind überzeugt, daß die freiwillige Verbündung die Herrschaftslosigkeit ermöglicht; oder anders ausgedrückt: wir sind überzeugt, daß Freiheit und Brüderlichkeit zusammengehören.
Gegen diesen Namen also ist gar nichts zu sagen, soviel auch gegen Tun und Lassen der Richtung zu sagen sein mag. Was aber »individualistischer Anarchismus« , diese ganz unleidliche Verdoppelung für ein und das nämliche heißen soll, versteht man nur, wenn man fortgesetzt an den Gegensatz zum Kommunismus denkt.
Nun sollte doch aber soviel klar sein, daß Anarchie ein durchaus negatives Prinzip ist und lediglich Freiheit verkündet. Freiheit kann es nur für Einzelpersonen, für Individuen geben; wenn diese einzelnen sich aber in voller Freiheit und Überlegung entschließen, sich zum Kommunismus zusammenzutun oder aber gar sich einen Tyrannen zu wählen oder eine konstitutionelle Regierung einzusetzen, so kann der Anarchist das zwar mit Gründen widerraten, kann gewiß sich für seine Person ausschließen, kann auch sagen, die andern seien Esel, kann aber nicht sagen, sie seien keine Anarchisten. Dem halten aber die sogenannten individualistischen Anarchisten entgegen, die Kommunisten wollten das Privateigentum aufheben und das führe zu Zwang und Vergewaltigung. Es fällt mir durchaus schwer, mich in den Ideengang der einen wie der andern Richtung zu finden, die alle beide in gleicher Weise den entscheidenden Fehler begehen, Übergangszeit und Idealzeit radikal voneinander zu trennen. Für die Übergangszeit aber nehmen alle beide Richtungen Eingriffe ins Privateigentum als notwendig an: die Kommunisten wollen sie selber vornehmen; die Individualisten wollen sie sich, wie wir neuestens von Tucker gehört haben, besorgen lassen. Für die dann sich ergebende Idealzeit aber denken die Kommunisten, wie aus ihren Schriften hervor geht, nur an einen freiwilligen Verzicht auf Privateigentum, und das ist genauso individualistisch oder anarchistisch wie die - mir viel näher liegenden - Ideen und Vorsätze der individualistischen Anarchisten, die den Wunsch und die Überzeugung haben, daß die Menschen jener Idealzeit sich, ebenfalls in Freiwilligkeit, andere Einrichtungen schaffen werden. Für den umfassenden Bereich dieser Einrichtungen gibt es längst den durchaus bezeichnenden Namen Gegenseitigkeit oder Mutualismus; und die Tuckerianer sollten, anstatt immer hinter den kommunistischen Anarchisten herzusein und diesen ihren klaren Namen zu verübeln, lieber die Unklarheit ihrer eigenen Bezeichnung einsehen und sich nicht individualistische, sondern mutualistische Anarchisten nennen.
Anarchist heißt nämlich genau das nämliche wie Individualist und es ist zu sagen, daß es zwar verwegen aber nicht unzulässig ist, sich einen kommunistischen Individualisten zu nennen, daß aber die Bezeichnung individualistischer Individualist sich recht wenig empfehlen dürfte.
Die Grunderkenntnis des Anarchismus oder Individualismus ist folgende: es gibt in der menschlichen Gesellschaft nur Individuen und das Tun und Lassen von Individuen. Anarchistisch ist es, wenn gesagt wird, die sogenannten Verhältnisse seien nur das Verhalten von Menschen: die Gesellschaft sei nur eine Summe von menschlichen Zwecken; die Knechtschaft, in der sich die Massen befinden, sei eine freiwillige Knechtschaft, die sie abschütteln könnten, wenn sie nur die rechte Einsicht und den rechten Willen hätten; Staat sei keineswegs eine bestimmte Zahl regierender Menschen, sondern sei ein Spuk oder Sparren, ein absonderlicher Seelenzustand also im Innern der Menschen, der sie dazu bringe, sich als Soldaten usw. selber zu Not und Unfreiheit zu zwingen. Anarchismus also, wie er seit Etienne de la Boëtie in der Welt ist und von Max Stirner seinen deutlichsten Ausdruck gefunden hat, könnte man die praktische Anwendung der Sprachkritik nennen: es gibt keinen Staat, in dem die Menschen wohnen, es gibt die Staatsidee, die in den Menschen haust und Verheerungen anrichtet; es gibt kein Kapital, das die Menschen zur Arbeit nötig hätten; es gibt Beziehungen zwischen den Menschen, die ihnen Arbeit und Austausch ermöglichen, und aber Beziehungslosigkeit, die Schmarotzerei, Ausbeutung und Monopol ermöglicht usw. Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung wird so zurückgeführt auf die Herrschaft von starr gewordenen, für heilig und wirklich gehaltenen Ideen oder Abstraktionen, die sich natürlich auch Formen geschaffen, sich zu künstlichen Organismen ausgewachsen haben, weil die Menschen sich selber unwirklich und darum das Unwirkliche wirklich gemacht haben; und Anarchismus oder Individualismus ist die Auflehnung der lebendigen Einzelmenschen gegen die Gespenster, die durch die jahrtausendlange Reglosigkeit und Unlebendigkeit der Menschen groß geworden sind. Der Anarchismus ist ein rationalistisches, unhistorisches Prinzip, ist das Aufbäumen des individualistischen Vernunftrechts gegen jedweden heiligen Feudalismus.
Es ist ganz richtig, und niemand kann es übersehen, daß es Kasten gibt, die man, weil in ihnen Macht und Reichtum erblich vorhanden sind, die regierenden nennen kann. Aber wer, nachdem er erst darauf hingewiesen wurde, kann im Ernste glauben, diese paar Leutchen wären »der Staat«, der unsre Wirtschaftszustände mit bewaffneter Hand aufrechterhält! Wer, der die unübertrefflich klaren Aufhellungen dieses Punktes von Etienne de la Boëtie, Max Stirner und Leo Tolstoi aufgenommen hat, dürfte sich einen Anarchisten nennen, wenn er diesen Zusammenhang nicht begreifen kann. Die großen Ideen haben es alle an sich, daß ihre Wahrheit nur ausgesprochen zu werden braucht, damit sie zwar immer noch ungekannt sein, aber von keinem, der sie wirklich verstanden hat, mehr geleugnet werden können. Eine solche Erzwahrheit ist die Grunderkenntnis der Anarchie, die allen Einzelnen zuruft: Du, du, nur du bist dein eigener Feind, du als Masse! Wenn der einzelne dann antwortet: Ich, was kann denn ich armes Luder ändern oder helfen? dann ist ihm nur zu erwidern: Was du auf Grund der Erkenntnis von deiner Selbständigkeit, Verantwortung und Machtfülle als einzelner tun oder lassen magst, das hängt von deiner Art, deiner Tapferkeit, deiner Liebe zum Leben und zur Bequemlichkeit und tausend Dingen ab, die das Geheimnis deiner Natur und deine privateste Sache sind; aber daß du dich mit den vielen andern, denen es gerade so geht, zusammenschließen mußt, um gemeinsam alles zu tun, was euch freisteht, das kann kein Zweifel sein!
Noch eins sei hier der Beachtung empfohlen: der Beachtung all derer, die guten Willens und bei ruhigem Verstande sind. Wenn man etwa sagt: Bourgeoisie, Kleinbürger, Arbeiter, Liberale und Sozialdemokraten, kommunistische und individualistische Anarchisten, alle miteinander seien traurige Wichte, weil sie immer vermeinten, »der Staat« oder »das Kapital« lasse sie zu keinem Beginn kommen und sie müßten erst das blaue Wunder der Zukunft abwarten, sie seien Tröpfe, weil sie nicht merkten, wie außerordentlich viel sofort zu tun ihnen nichts und niemand wehren könne, - wenn man so ähnlich spricht, wäre es böswillige oder gedankenlose Entstellung oder aber kindische Gereiztheit, wenn einer oder zwei oder ein paar kleine Gruppen dieser unzähligen Massen, die hier zusammen genommen worden sind, sagen wollten: Du Schriftsteller, du beleidigst uns! Ach nein, ihr Vortrefflichen! Hier war von einem Ozean die Rede, und als Einzelne, jeden für sich genommen, sei es fern von mir, euch Tröpfe zu nennen, da seid ihr nur Tropfen, Tropfen im Meer. Aber jeder Tropfen hängt mit einem andern zusammen und der wieder und so immer weiter, und all die Stellen des Zusammenhangs, das Massenhafte also in den Einzelnen habe ich ihre Elendigkeit genannt. Das ist eine sehr wichtige Sache und sie zu bedenken wäre nötiger als durch ihre Aussprache gekränkt zu sein: daß Massen und schon Massenteile Unerhörtes ungeschehen lassen und Unerhörtes geschehen lassen, daß aber die Masse als solche lediglich aus lauter einzelnen Individuen besteht, von denen jeder einzelne den Punkt in sich trägt, der die Masse und darum die Zustände, unter denen die Masse leidet, hervorbringt. Also auch damit, daß ich die sogenannte Masse zurückgeführt habe und eine gleiche Eigenschaft oder Seelenverfassung in den Individuen, habe ich wiederum nur die anarchistische Grundlehre angewandt. Ist es meine Schuld, daß diese Grunderkenntnis der Anarchie oder des Individualismus sich auch auf sogenannte »Anarchisten« oder »individualistische Anarchisten« anwenden läßt?
Der Einzelne aber, der das eingesehen hat, und ein paar hundert über ein weites Land Verstreute, die zu dieser Erkenntnis und diesem Willen gekommen sind, haben wirklich im allerersten Anfang nichts Angelegentlicheres zu tun, als diese zündende, erweckende, ermutigende Lehre zu verbreiten und sich allenthalben Genossen für ihr beabsichtigtes Handeln zu suchen. Und wenn nun die, die ebenfalls als Genossen betrachtet und wenn möglich mit Glacéhandschuhen behandelt werden möchten, am Wege stehen und fragen: Ja, warum tut ihr denn nichts? ihr redet ja auch bloß, - dann ist ihnen zu erwidern: weil ihr und euresgleichen zuseht, darum seht ihr noch nichts von unsrer Tätigkeit!
Ich spreche hier getrost aus, daß der Sozialistische Bund den anarchistischen Grundgedanken, der unter Einzelbestrebungen verschüttet, der verknöchert und verfälscht war, gerettet und neu belebt hat. Dieser Grundgedanke heißt, ich will ihn noch einmal neu in Worte fassen: Die Freiheit kann nicht geschaffen, die Freiheit kann nur geübt werden. Nicht so ist es, daß wir heute unfrei, morgen aber durch irgendein blaues Wunder frei sind; sondern so ist es, daß wir alle ohne jede Ausnahme die Freiheit in uns haben und sie nur in die äußere Wirklichkeit umsetzen müssen.
Die Anwendung dieses Satzes auf die Vorkämpfer heißt: erstens Aussprechen, Aufrütteln, Erziehung, Arbeiten an sich selbst. Zweitens: Anwendung der Freiheit im Leben, im privaten Leben, im Familienbezirk, im Freundeskreis. Drittens: Anwendung der Freiheit in Wirtschaft und Gesellschaft. Ganz unwiderlegbar ist es, daß wir, wie wohl die Rede geht, auch »innerhalb des heutigen Staates«, »innerhalb des Kapitalismus« auf wichtigen Gebieten des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens Freiheiten haben, von denen wir nur aus Aberglauben und Trägheit keinen Gebrauch machen. Eine verhältnismäßig geringe Menschenzahl genügt, um bis zu erheblichem Grad - nicht vollständig, nicht auf einmal - aus dem Kapitalismus ausscheiden zu können. Seit ein paar Jährchen lehren wir das, langsam haben wir da und dort ein paar aus Sumpf und Gewöhnung losgelöst, und von allem Anfang an rufen uns die Unken aus einem oder dem andern der Sümpfe zu: Ihr tut ja auch nichts! Die Trefflichen erinnern an eine neugierige Menge, die in kleinem Städtchen mit gereckten Hälsen auf dem Marktplatz steht und dem Seiltänzer zusieht, dann aber enttäuscht nach Hause geht und murrt: Er hat ja nicht den Hals gebrochen! Beruhigt Euch einstweilen, Treffliche, ihr habt Euch geirrt: Euch haben wir gar nichts in Aussicht gestellt; wir entsinnen uns nicht, zusehende Neugier zu Gaste geladen zu haben. Wohl aber erinnern wir uns, daß gleich in der zweiten Nummer des »Sozialist« das Bild gestanden hat: »In einer Jahrmarktsbude. Ein Feuerschlucker stand auf dem Programm. Er kam, schluckte Feuer und verbeugte sich. Das faule Publikum drückte sich auf den Bänken herum, hatte selber durchaus kein Feuer geschluckt; wurde nicht warm, war unzufrieden ...« Und wir erinnern uns, daß daran Worte geknüpft waren wie die: »Wollt ihr auch so außen in der Runde Sitzende sein? Die warten, daß man sich vor ihnen produziere? Die enttäuscht murmeln: Propaganda und Sammlung? Weiter nichts?«
Ausdrücklich sollte hier nur vom Anarchismus oder Individualismus gesprochen werden. Abschließend und zu einer ferneren Betrachtung überleitend muß aber hinzugefügt werden: wie schon gesagt, die Anarchie oder Freiheit ist nur ein negatives Prinzip. Es verweist die Einzelnen im Volke darauf, daß ihre Freiheit unzerstörbar da ist. Dieses Prinzip tötet die Götzen und zertrümmert die falschen Heiligtümer: Staat? Kapital? Oh, wollt nur, ihr Individuen, denkt und wollt; dann gibt es Staat und Kapital für euch nur noch insoweit, als Nichtdenkende und Nichtwollende euch hindern können. In vielem können sie euch hindern; in manchem könnt ihr sofort eure Freiheit anwenden, wenn ihr geeint tut, was ihr als einzelne in gleicher Art denkt und wollt.
Außer den falschen Heiligtümern aber gibt es auch echte. Falsch sind sie, wenn sie von außen auferlegt sind; echt sind sie, wenn sie, im Innern der einzeln geboren, ein einigendes Band zwischen den Menschen bilden. An anderer Stelle wird mehr davon gesagt. An Individuen wird appelliert, wo es gilt, sich von den Götzen und Gespenstern fälschender und drückender Begriffsgewalten zu befreien. Aber weder in der Natur noch in der Geschichte gibt es in Wahrheit Individuen. Anarchie ist nur die negative Seite dessen, was positiv Sozialismus heißt. Die Anarchie ist der Ausdruck für die Befreiung des Menschen vom Staatsgötzen, vom Kirchengötzen, vom Kapitalgötzen; Sozialismus ist der Ausdruck für die wahre und echte Verbindung zwischen den Menschen, die echt ist, weil sie aus dem individuellen Geist erwächst, weil sie als das Gleiche und Eine im Geiste des einzelnen, als lebendige Idee blüht, weil sie zwischen den Menschen als freier Bund ersteht.
1911
Vom freien Arbeitertag
Man hat uns Sozialisten vom Sozialistischen Bund ganz falsch verstanden, wenn man geglaubt hat, wir wollten nur Arbeitskolonien und Siedlungen gründen, so den Sozialismus beginnen und uns um alles andere in der Welt nicht kümmern.
Man würde die neue Aktion des Sozialistischen Bundes, die von der Gruppe »Arbeit« in Berlin, der sich inzwischen andere Gruppen angeschlossen haben, begonnen wurde, ganz verkehrt deuten, wenn man meinte, wir hätten damit eine Schwenkung, hinüber zum proletarischen, zum Klassenkampfstandpunkt gemacht, oder wir hätten bisherige Ziele, bisherige Wege aufgegeben. Wir haben nichts aufgegeben und haben uns in nichts geändert. Aber die freundlichen Zuschauer haben, wie schon öfter, so auch jetzt die Möglichkeit, sich zu ändern: uns nämlich besser kennenzulernen. Wir haben von allem Anfang an gesagt: noch wißt ihr nicht, was wir wollen und wer wir sind; wir können es nicht auf einmal sagen und zeigen: aber es soll alles herauskommen. Aus Anlaß des Spiels, das die Regierungen der europäischen Staaten hintereinander mit dem Kriege treiben - Deutschland, Frankreich, England, Spanien und jetzt Italien und die Türkei! - und aus Anlaß der kümmerlichen, armseligen, an Worten reichen, an Wirkung nichtigen Haltung, die wir an der deutschen Sozialdemokratie und an den deutschen Gewerkschaften, wie zu erwarten war, bemerken mußten, haben wir gesagt: Durch bloße Aufrüttlung und Belehrung die Arbeiter in Massen zum Beginn des Sozialismus zu bringen, wo sie vom echten Sozialismus keine Ahnung haben, wo sie in ihren Seelen, ihrem Verstand, ihrer Geduld und ihrer Tapferkeit seit sechzig Jahren die schwersten Einbußen erlitten haben, wo der Sozialismus überdies gar nicht bloß eine Sache der speziell so genannten Arbeiterklasse ist, dazu ist vorderhand wenig Aussicht. Wir tun, was wir können; indessen soll kein Mensch lediglich dabei bleiben, an andre zu appellieren; das schafft Routiniers und Komödianten. Nutzen wir also, wir einzelne aus allen Schichten, die Zeit, den andern und uns selber durch eigenes Tun zu zeigen, was Sozialismus ist und was von ihm jetzt durchzuführen ist.
Taugt also zu positivem Aufbau und zähem Kulturbeginn die Arbeiterklasse als Ganzes nicht viel mehr als andre Schichten, so steht die Sache ganz anders, wo es sich um die Abwehr und die Negation, wo es sich um die Stimmung und das Gefühl handelt. Aus wie vielen Strömungen und Sekten auch das zusammengeflossen ist, was sich heute die sozialistische oder wohl auch die moderne Arbeiterbewegung nennt, in wichtigen Dingen besteht eine Einigkeit, an der alle teilnehmen, alle bloß jetzt die Führer und Beamten, die Bürokraten nicht mehr. Darum ist diese Einigkeit in Gefahr, sich in Verborgenheit und in die Taschen zu verlieren, in denen Fäuste geballt werden. Hier haben wir einzusetzen, hier beginnt unsre Aufgabe, klar und scharf auszusprechen, was ist, und die Geführten und schon wahrhaft Genasführten zu sich selbst, ihrem Selbstbewußtsein und ihrer Selbstbestimmung zu bringen. Darum haben wir auszusprechen:
Die sozialistisch fühlenden Arbeiter haben kein patriotisches Interesse; das heißt: sie lieben ganz gewiß heimische Landschaft, heimische Sprache und Sitten; aber sie wissen, daß die Streitigkeiten zwischen den Regierungen nichts mit Landschaft, Sprache und Sitten, um so mehr aber mit den Geldsackinteressen ihrer Bedrücker zu tun haben.
Die sozialistisch fühlenden Arbeiter wollen keinen Krieg. Sie würden sogar eine Revolution ablehnen und verabscheuen, die so systematisch in jahrzehntelanger Vorbereitung sich der Mittel des raffinierten Massenmords bediente wie der Staatenkrieg. Um so mehr müssen sie den Krieg ablehnen, da sie an seinen Zwecken nicht nur kein Interesse nehmen, sondern ihnen feindlich gegenüberstehen.
Die sozialistisch fühlenden Arbeiter spüren es, wenn sie bei der Arbeit stehen, in ihrer Hand und in all ihren zuckenden Muskeln: wenn ihre Produktion nicht weitergeht, kann keine Regierung sich zum Krieg entschließen.
Es ist also die Aufgabe der bewußten Sozialisten, dieses Gefühl den Arbeitern zur Höhe des Wissens und Wollens zu erheben.
Für den Fall kriegerischer Gelüste der Regierungen, für den Fall einer herausfordernden und kriegerischen Regierungspolitik haben die Arbeiter eine systematische Arbeitseinstellung vorzubereiten, und zwar so vorzubereiten, daß die Regierungen wissen, was ihnen gegebenenfalls bevorsteht.
Welche Form diesem Massenstreik gegeben wird, welche Branchen vorzugsweise daran teilnehmen, in welchen bestimmten Fällen er auf ein gegebenes Signal hin ausbricht, all das und die übrigen Vorbereitungen sollen die Arbeiter in den Zeiten treffen, wo die Aktion noch nicht unmittelbar bevorsteht.
Sind die sozialistisch fühlenden Arbeiter aus ihrem dumpfen, einigenden Gefühl erst zur Klarheit darüber erwacht, daß sie in diesem Punkte trotz allen sonstigen Meinungsverschiedenheiten eine Einheit und einen Bund bilden, so werden sie auch in andern Stücken zu geschlossener Betätigung aus gemeinsamem Geiste kommen.
Sie müssen, damit sie sich in diesem einen Punkt zur Vorbereitung ihrer entscheidenden Einwirkung entschließen können, wissen, was jetzt schon sehr viele und immer mehr fühlen: wie der Feind der Arbeiterklasse die Tendenzen der Regierungen und der in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft Bevorzugten sind, so ist das große Hindernis für die Bewegung und wahrhafte Wirkung der Arbeiter die Bürokratie, die sie sich selber in Partei und Gewerkschaften eingesetzt haben.
Die Arbeiter werden nur dann zu eigenen und wirkungsmächtigen Aktionen kommen, wenn sie das System der permanenten Vertretung, das den Staaten nachgebildete verderbliche System der Regierung und des Parlamentarismus aufgeben und anstelle dessen nach Berufen und Ortsgemeinden in permanent tagenden Gruppen und Bünden zusammentreten.
Zu praktischen Zwecken werden da immer Vertretungen nötig sein; aber diese Vertreter sollen nur für bestimmte Zwecke ernannt werden und sollen nie aus der lebendigen Verbindung mit ihren Auftraggebern heraus- oder emportreten.
Wer die Wirklichkeit in der sozialdemokratischen Partei und in den zentralisierten Gewerkschaftsverbänden kennt, der weiß, daß da keine echte Demokratie waltet, sondern daß die parlamentarische Demagogie und das regiererische Beamtentum herrscht.
Selbstbestimmung, völkisches Leben, Freiheit und Verbündung kennt die deutsche Arbeiterschaft gar noch nicht. Will sie für die genannten Zwecke ihre eigene Bestimmung ausüben, so muß sie jetzt endlich den ersten Anfang dazu machen, sich ihren freien Bund und ihre selbsteigene Wirksamkeit zu schaffen.
Die Schaffung dieser Organisation, wenn sie auch zu einem bestimmten Ziel jetzt zum erstenmal angeregt wird, ist keineswegs bloß Mittel zum Zweck. Es wird Großes geschehen sein, es wird ein entscheidender Schritt auf dem Wege zur echten Gesellschaft, zum echten Volk, d.h. zum Sozialismus getan sein, wenn die Arbeiter in irgendeiner Selbstbetätigung die rechte Form, die Form des freien Bundes und dauernden Dabeiseins schaffen.
Die Arbeiter sollen aufgefordert werden, ihre Maßregeln zur entscheidenden Betätigung ihres Willens in den öffentlichen Angelegenheiten zunächst dadurch zu treffen, daß sie eine allgemeine freie Arbeitertagung für ganz Deutschland vorbereiten.
Es tritt ein Ausschuß zusammen, der schon in Bildung begriffen ist, der den Arbeitern Deutschlands ganz bestimmte Vorschläge machen und ganz bestimmte Fragen stellen wird.
Darüber sollen die Arbeiter, so wie sie in Fabriken, Werkstätten, Bauplätzen und sonstigen Arbeitsstätten beisammen sind, sich aussprechen. Sie sollen dann, nicht in den üblichen Vereinen und Parteibezirken, sondern in besonders gebildeten Berufsgruppen zusammentreten und ihre Beschlüsse fassen.
Der Arbeitertag braucht nicht eine Zusammenkunft weniger Vertreter aus ganz Deutschland an einem einzigen Ort zu sein. Durch gleichzeitige Tagungen an mehreren, an vielen Orten sollte die ganz ohne Zweifel vorhandene Einigkeit der Arbeiter geschlossene Massen zur Einheit führen.
Über die Schwierigkeit dieses Unterfangens, über die Größe der Aufgabe geben wir uns keinerlei Zweifeln hin. An uns ist es, zu erkennen, was uns obliegt, und zu tun, was wir sollen und können. Was daraus wird, ob Kleines, ob Großes, ob Schnelles, ob Langsames, hängt nicht von uns ab. Wenn jeder rücksichtslos und unbedenklich das Seine tut, können leicht die Prophezeiungen derer, die gar nichts tun, weil sie angeblich den Massen, in Wahrheit sich selber nichts zutrauen, zuschanden werden. Mit Kleinmut ist noch nie etwas erreicht worden, und noch nie etwas mit zögernder Voraussicht.
Die Aufgabe eines jeden, der für diese Aufgabe gewonnen wird, ist: in Fabriken, Werkstätten und wo er sonst mit arbeitenden Menschen zu tun hat, für dieses Beginnen einzutreten. Wer immer Vorschläge, fürs Ganze oder im einzelnen, in dieser Sache zu machen hat, der trete damit hervor. Hier handelt es sich um keine Theorien, keine gelehrten Sachen, keine Wissenschaft und keine Philosophien Das Einfache, das Gegebene, das Natürliche, das Selbstverständliche soll geschehen, soll volksmäßig, soll vom arbeitenden Volke selbst getan werden. Das Volk wird aufgefordert, sein Geschick zu bestimmen; das Volk wird angegangen, selbst zu reden und selbst zu handeln.
1911
Die Abschaffung des Krieges durch die Selbstbestimmung des Volkes. Fragen an die deutschen Arbeiter.
1. Was ist der Krieg?
Antwort: Der Krieg ist ein Unternehmen eines Staates gegen einen andern Staat. Nun zerfällt jedes Unternehmen erstens in den Zweck, um dessentwillen es begonnen wird, und zweitens in die Mittel, mit deren Hilfe es durchgeführt wird. Fragst du mich also nach dem Ziel des Krieges oder nach den Wegen, auf denen er geführt wird ?
2. Du hast recht; eins nach dem andern. Was also ist der Zweck des Krieges ?
Antwort: Der Zweck des Krieges ist Plünderung, Eroberung, Ausdehnung des Machtbereichs der Staaten, Verdrängung des Einflusses anderer Staaten und Sicherung der Absatzgebiete für Industrie und Handel.
3. Hat der Arbeiter Interesse an diesen Zwecken ?
Antwort: Nein; denn Plündern ist Sache des Ausbeuters, der nicht arbeiten will; und was das Erobern angebt, so kann der Arbeiter jedes Staates seinen lieben Mitmenschen in andern Staaten nur wünschen, daß ihnen die Form der Regierung, die er am eigenen Leibe kennenlernt, erspart bleibe. Mit dem Streit der Staaten untereinander um ihre Macht über Unterworfene können die Arbeiter nichts zu tun haben wollen, da sie diese Unterworfenen und Unterjochten selber sind; und was die Erweiterung der Absatzgebiete für Industrie und Handel angeht, so entsteht gerade das grenzenlose Unglück der Völker, die Not der Armen und die kritische Unsicherheit jeder Wirtschaft dadurch, daß nur für den Geldsack der Händler, Fabrikanten und Bankiers statt für die Bedürfnisse der Einwohner jedes Landes, jeder Provinz und jeder Gemeinde produziert wird. Der Krieg mag eine Sache der Exporteure sein; Arbeit und Frieden gehören zusammen.
4. Was sind nun die Mittel des Krieges?
Antwort: Bisher hast du mich gefragt, wozu der Krieg dient; jetzt willst du wissen, was der Krieg eigentlich ist. Von den Begleiterscheinungen widerwärtiger Art, die indessen nichts Zufälliges, sondern so alt sind wie der Krieg, von den aufgepeitschten grausamen Instinkten, der perversen Roheit, die sich in Niedermetzelungen von Kindern, Frauen und Greisen äußert, will ich gar nicht reden. Ich presse mein Herz zusammen und definiere kühl und mit erzwungener Ruhe: Krieg nennt man den Zustand, in dem mehrere Hunderttausende Männer einander gegenüberstehen, um sich mit Hilfe der raffiniertesten technischen Mittel nach jahrzehntelanger Vorbereitung gegenseitig zu morden.
5. Wollen die Arbeiter eines Landes unter irgendwelchen Umständen den Krieg?
Antwort: Die Arbeiter können nie einen Krieg wollen; selbst wenn ihnen ihr Gewissen erlaubte, Mord zu üben, würde ihnen ihr Verstand verbieten, Selbstmord zu üben.
6. Haben die Arbeiter ein Mittel, den Krieg zu verhindern?
Antwort: Ehe ich antworte, muß ich eine Frage zurück geben. Warum fragst du gerade, ob die Arbeiter ein Mittel haben?
7. Aus den Antworten, die du bisher gegeben hast, erfahre ich, daß eine große, zusammengehörige Klasse, die Arbeiter der Industrie, des Handels und des Transports allesamt vom Krieg nichts wissen wollen. Sie wissen, daß er ihnen nichts nützt, daß er sie schädigt, daß er verabscheuenswert ist. Ein großer Kern also in unserm Volke, ein großer Block liegt in dem Wege, den der Krieg gehen muß. Liegt dieser Block und schläft und ist untätig? So daß der Krieg über ihn wegsteigen und dennoch wüten kann ? Oder kann dieser Block zur Tätigkeit erwachen ?
Antwort: Und immer noch muß ich fragen: Was nennst du Tätigkeit oder Untätigkeit? Die Arbeit ist ja selbst nichts anderes als Tätigkeit. Der Block, den du nennst, das sind wir, die Arbeitenden oder die Tätigen. Du sprichst doch nicht von unsern Privatpersonen, von unsern politischen oder moralischen Meinungen, sondern von uns als Arbeitern, gleichviel welcher Richtung oder Meinung wir sonst angehören?
8. Du hast recht. Sage mir also: wenn ihr Arbeiter weiter arbeitet, d.h. tätig seid, kann es dann zum Kriege kommen?
Antwort: Gewiß und erst recht! Wie könnten die Kriegsknechte ihr blutiges Handwerk treiben, wenn die werktätige Bevölkerung nicht weiter arbeitete, als ob Frieden wäre? So ist ja der Krieg und zugleich mit ihm der Staat und das feudale Vorrecht entstanden, daß Handwerker und Bauern ungestört im Frieden weiter tätig sein wollten und darum den Kriegshandwerkern übertragen, sie zu schützen, wobei sie den Bock zum Gärtner machten! Frieden und Arbeit ist ein und das nämliche; was ist Arbeit anderes, als Vorsorge zur Erneuerung des Lebens, das zugrunde gehen muß, wenn es nicht immer neue Nahrung und Kräfte erhält ? Und was ist aber Krieg anderes, als eben die Vernichtung dessen, was durch die Arbeit erhalten wird, des Lebens? Jeder Krieg gründet sich auf den Frieden. Jede Verschwendung gründet sich auf die Arbeit der andern; und der Krieg ist die ruchloseste Verschwendung. Weil so viele Arbeiter da sind, daß ein paarmal hunderttausende, die nicht arbeiten, sondern der unproduktiven Vergeudung und dem Verspritzen des Blutes dienen, der Wirtschaft gar nicht fehlen, darum ist der Krieg allein möglich.
9. Wenn also die Arbeitenden oder Tätigen den Krieg verhindern wollen, worin muß dann ihre Tätigkeit bestehen?
Antwort: Haha! Jetzt sind wir bei der rechten Klarheit. Du merkst ja schon, wie seltsam die Antwort klingt: nicht tätig, sondern untätig müssen wir Tätigen sein, damit kein Krieg möglich sein kann.
10. Das aber mußt du noch deutlicher sagen.
Antwort: Gern; ich möchte es so deutlich sagen, daß jeder Mann und jede Frau und jedes Kind es versteht, und möchte es so laut sagen, daß alle Welt mich hört. Wenn die Arbeiter zur rechten Zeit aufhören zu arbeiten, wenn die Arbeiter zur rechten Zeit und im rechten Umfang und in der rechten Art die Arbeit einstellen, wenn die Arbeiter streiken, dann ist kein Krieg möglich.
11. Wann aber ist die rechte Zeit?
Antwort: Jeder Krieg beginnt mit der Kriegserklärung, der dann die Mobilmachung folgt. Die Kriegserklärung ist eine Kundmachung einer Regierung an die feindliche Regierung. Die Mobilmachung ist ein Befehl der Regierung an die Untertanen, die zum Kriegsdienst bestimmt sind. Bevor es aber zur Kriegserklärung und zur Mobilmachung kommen kann, muß heutigentags schon vorher durch Bearbeitung der öffentlichen Meinung die kriegerische Stimmung vorbereitet werden. Ferner muß die Regierung mehr oder weniger bestimmte Forderungen aufstellen und der Öffentlichkeit mitteilen. Es wird in den meisten Fällen schon vor der Kriegserklärung unverkennbar deutlich sein, daß eine Regierung zum Kriege treibt. Sowie es feststeht, daß eine oder mehrere Regierungen den Krieg wollen, ist der Augenblick gekommen, wo die Regierung durch den Streik, durch das letzte Mittel der Arbeit, zur Besinnung, zur Umkehr, zu friedlichen Entschlüssen gebracht werden muß.
12. Du meinst also, daß nicht erst nach Ausbruch des Krieges, sondern schon vorher der große Volksstreik ausbrechen soll?
Antwort: Allerdings; und die Einwände, die man jüngst gegen diesen Generalstreik gehört hat, haben deswegen keinen Sinn, weil sie sich alle auf den verpaßten Augenblick bezogen haben. Das ist freilich wahr: wenn infolge des Krieges schon die internationale Wirtschaftskrise und die gesteigerte Arbeitslosigkeit da sind, wenn dazu noch Niedergeschlagenheit, Hunger, Krankheit, Not und Verzweiflung gekommen sind, dann wird keine Tatkraft und keine Möglichkeit zum Eingreifen mehr dasein. Aber diese ganz schlaue Beweisführung geht ja von den Furchtsamen aus, deren Prinzip es ist, daß das Heil aus der unheilvollen Tätigkeit der Herrschenden und Bevorzugten und aus dem Abwarten der Arbeiter kommen muß. Diese ungehinderte Tätigkeit der Regierenden in Verbindung mit dem überzeugungstreuen Nichtstun der Gedrückten nennen sie die Entwicklung.
13. Bist du denn der Meinung, daß es sicher ist, daß die Arbeiter diesen Streik aushalten ? daß sie ihn gewinnen ? daß sie ihr Ziel erreichen ?
Antwort: Sicher ? Nein wahrhaftig, sicher ist es nicht! Das ist das Verderben, das über die Menschen unserer Zeit gekommen ist, daß sie äußere, bewiesene, verbriefte Sicherheiten haben wollen. Gerade dadurch wird die äußere Unsicherheit ihrer Lage und das innere Schwanken ihres Gemüts und ihrer Gesinnung nur immer ärger.Wo es um das letzte Mittel zur Abwendung gräßlicher Gefahr geht, da kann uns kein Gott und kein Marx bare Sicherheit auf den Tisch zählen. Innen müssen wir die Sicherheit haben, die noch immer den Weg zum Sieg gewiesen hat, und diese Sicherheit hat den Namen Tapferkeit. Wir müssen den Willen haben, und wir müssen's versuchen.
14. Aber selbst in der schlimmsten Zeit und vor der höchsten Gefahr wird kein Besonnener unternehmen, was aussichtslos ist. Ich frage denn also, ob es wahrscheinlich, ob es nur möglich ist, daß die Arbeiter aushalten, gewinnen, ihr Ziel erreichen ?
Antwort: Ich frage zurück: aushalten, wie lange? Gewinnen, was ? Und was für ein Ziel? Dieser Streik ist nicht wie ein anderer; er hat kein Ziel, und nichts von dem, was sonst in Ausständen begehrt wird, soll da gewonnen werden. Dieser Streik muß in der rechten Art vorbereitet und organisiert sein; er hat keinen Zweck außer sich selbst; das Aufhören der Arbeit ist der einzige Zweck dieses Aufhörens der Arbeit; und wenn in einem Staate der Transport von Menschen und Gütern stockt, wenn die Fabriken stillstehen, wenn keine Elektrizität geliefert und keine Kohlen gefördert werden, wenn die Städte kein Licht und kein Wasser mehr im Hause haben, dann braucht das alles nicht lange zu dauern. Die Regierungen wissen ja gar nicht mehr, was es heißt, daß die Völker auftreten und für ihre Selbstbestimmung einstehen. Dann werden sie es lernen, und dieser Streik wird seinen Zweck erreichen. Dieser Zweck ist: Eindruck zu machen, im Inland und Ausland; und Nachahmung zu erwecken in allen Ländern.
15. Meinst du, die Folge dieses Streiks werde im besten Falle sein: daß die Regierung feierlich verspricht, keinen Krieg zu provozieren, und daß dann die Proletarier ruhig wieder zur Arbeit zurückkehren ?
Antwort: Weiß ich's? Muß man denn alles vorher wissen? Kann sein, daß es einmal so kommt; aber ein andermal kann es anders kommen. Und -
16. Halt, ehe du weitersprichst. Wird denn aber nicht der Feind erst recht über uns herfallen, wenn er sieht: das Volk will keinen Krieg und die Regierung ist geschwächt?
Antwort: Der Feind! Wir Arbeiter sind einander ja freund und werden unsre Freundschaft noch ganz anders über die Grenzen weg betätigen, wenn nur ein einziges Volk erst tapfer fürs Rechte eingetreten ist. Haben wir vorher internationale Vereinbarungen und werden sie, wohlgemerkt, auch gehalten, gut. Aber wichtiger ist das Beispiel. Daß unser Vorgehen, wenn wir das Rechte tun, nachgeahmt wird, daß dann gar keine Regierung den Massenmord loslassen kann, das ist kein Zweifel.
17. Du sprichst von internationalen Vereinbarungen, aber du scheinst keinen großen Wert darauf zu legen. Warum ?
Antwort: Weil ich keine Großspurigkeit leiden kann. Das ist bequem, wenn ein paar Bürokraten in irgendwelchen Parteiämtern unverbindliche Redensarten austauschen. Aber es hat kaum mehr Wert, als das Geschwätz auf den internationalen Friedenskongressen und die Beschlüsse für den Frieden, die von den Regierungen im Haag gefaßt worden sind. Erst müssen die Arbeiter einer Nation, eines Volkes ihre Vereinbarungen, nach klarer, gründlicher, fester gegenseitiger Verständigung, treffen und halten. Kein Zweifel, und wir können es vor uns sehen, obwohl die Geschichte dafür kein Beispiel hat: zeigen die arbeitenden Massen in einem einzigen Volke mit Ernst und also überwältigend glaubhaft, daß sie ihr Leben respektieren, daß sie Entscheidendes tun wollen, um das Ausbrechen eines Zustands des Mords und Brands noch rechtzeitig zu verhindern, zeigt die Arbeiterschaft eines einzigen Volkes nicht bloß durch Worte, Resolutionen, Artikel, sondern durch entscheidende Schritte auf dem Felde der Arbeit seinen unverbrüchlichen Willen, dann zündet diese Lebendigmachung des toten Buchstabens in allen andern Völkern. Rüsten wir uns, damit wir, wenn es je dahin kommen sollte, die ersten sind, die der Wahrheit die Ehre geben. Die Wahrheit hat nur eine Ehre: daß sie zur Wirklichkeit werde. In so uranfänglichen Dingen kennen all unsre Menschen, alle Völker unsrer Kulturstufe nur eine einzige Wahrheit: Du sollst nicht töten, um selber zu leben; Du sollst arbeiten, um zu leben. Tun wir die ersten Schritte und nach den ersten die zweiten und so alle weitern, um, wenn's sein muß, durch das letzte Mittel der Arbeit entscheidend einzuwirken. Du weißt: die Kanonen hat man das letzte Mittel der Könige genannt. Nun kennst du das letzte Mittel der Arbeit: die Nichtarbeit. Wenn es einmal sein muß, laß uns nicht über die Grenze schielen, was die andern tun. Folgen wir unserm Gewissen und unsrer Einsicht: die andern werden, wenn sie nachhinken, traurig genug sein, daß sie ihrem Gewissen erst folgen, nachdem unser Gewissen sie aufgerüttelt hat.
18. Wenn sie nachhinken! Wenn - ! Reicht denn die Zeit dazu ? Kann es nicht so kommen, daß heute urplötzlich der Riesenstreik ausbricht und daß morgen schon der Krieg da ist ? Und was dann ? Kann dann nicht alles Mühen zu spät sein ?
Antwort: Viel Unheil kommt von dem Geist, aus dem diese Frage geboren ist. Die Arbeiter, und keine so wie die deutschen, haben wahrhaftig irre geleitete und verwahrloste Köpfe. Weil ihre Besonnenheit und Nüchternheit so gar nicht ausgebildet sind, weil sie also gar kein eigenes, zuverlässiges Denken haben, darum erwarten sie alles von der Plötzlichkeit, vom unbekannten Augenblick, vom Wunder. Weil sie gar nicht wahrhaft daran denken, ihre Ideen Schritt für Schritt, Stein um Stein zu verwirklichen, darum gibt es nur zweierlei für sie: das wie ein träges Rinnsal fortschreitende Einerlei ihres gegenwärtigen erbärmlichen Zustands, ihre langsame Wirklichkeit, oder den fieberhaften Traum einer Augenblicksverwandlung, wo aus Nacht Licht, aus Schlamm Gold werden soll. So ist ihr ganzer Sozialismus: wie im Märchen kommt eins, zwei, drei, hast du nicht gesehn, der Knüppel aus dem Sack oder der große Kladderadatsch, und dann im Handumdrehn das Tischlein deck dich und das Zauberland des Zukunftsstaats, wo sie selber die staatlich beaufsichtigten Esel sind, denen aus allen Öffnungen eitel Gold herausfällt! Nur immer rasch, nur immer plötzlich, nur immer zauberhaft, märchenhaft, wundervoll! Und so auch hier. Gut Ding will nun aber einmal wirklich Weile haben; und die Durchsetzung sieht anders, ganz anders aus als Traumseherei und Schaumschlägerei. Wenn die Hunderttausende oder gar die Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen erst ihren Meistern und Unternehmern und Direktoren ihre Kündigung eingereicht haben, wenn die entscheidende Wartefrist erst beginnt –
19. Darf ich unterbrechen? Da scheint mir doch eine Gefahr für die Einheitlichkeit der ungeheuren Bewegung, an die du denkst, zu stecken. Manche, und gerade solche Berufe darunter, die von großer Bedeutung sein können, arbeiten auf tägliche Kündigung, andre haben acht Tage Frist, andre, vielleicht die meisten bei uns, vierzehn, etliche wohl mehrere Wochen. Aber, wenn du auch sagst, es käme gar nichts Wirkliches genau auf einen Schlag: der Beginn des Ausstands sollte doch einheitlich sein ? die Frist nach der Ankündigung oder Aufkündigung müßte doch für alle dieselbe sein?
Antwort: Zugegeben, da liegt eine Schwierigkeit, eine von vielen. Hättest du mich nur weiter gehört. Immerhin freue ich mich, daß du anfängst mitzudenken und eine Anschauung von dem Plane zu haben. Nun sag mir einmal, da du dich nun schon in meinen Bahnen bewegst und meine Gedanken denkst, was hat dir an den großen Streiks der englischen Arbeiter in der letzten Zeit, die wohl um kleine, vergängliche Ziele gingen, die aber ein großes Mittel waren, was hat dir denn da am besten gefallen? Da du nun anfängst, mit mir zu denken, laß uns einmal die Rollen vertauschen. Du antwortest und ich frage.
20. Ja, und ich glaube, ich weiß auch schon, was du meinst. Bei uns in Rheinland-Westfalen, da haben die Bergarbeiter verblüffen und überrumpeln wollen, weil sie ihrer selbst nicht sicher waren und die Massen im Taumel fortreißen wollten; da sind sie ohne Kündigung vorgegangen und sind fast von einem Tag zum andern nicht mehr eingefahren. Und haben eine ganz elende, jammervolle Niederlage erlitten. Die englischen aber, jawohl, das hat mir am gewaltigsten imponiert: die konnten sich auf sich und aufeinander verlassen; sie waren überlegen, weil sie überlegt hatten: sie haben einmütig gekündigt, haben sich nicht erschüttern und abbringen lassen, und als der Tag gekommen war, hörten sie Mann für Mann auf mit der Arbeit, und so haben sie gesiegt! Ja, ich denke wie du: nicht die Hitze des Fiebers, nur die Festigkeit bedachter Männer, nur dieses von Tat erfüllte Phlegma, dessen Meister die Engländer sind, nur das kann uns helfen. Und ich gestehe, ich finde meine Frage von vorhin nicht mehr so wichtig. Aber sag', wie ist es damit? mit der Ungleichheit der Kündigungsfristen ?
Antwort: Vergiß nicht, ich bin kein Vormund und kein Stellvertreter und kein ausführender Delegierter: ich will aufrütteln, klar meine Meinung sagen und fordre von den Arbeitern in diesem Augenblick nichts als Beratung. Sie sollen denken, sie sollen sich beraten und dann sollen sie vorzubereiten beginnen, aber nicht das, was mir unbestimmt im Kopfe herumgeht, sondern was sich ihnen aus ihrer Gemeinschaft und aus der Praxis ihres Berufslebens ergibt. Der einsame Denker, der in brennender Liebe zum Rechten und Guten sich eine große Sache ausmalt, ist gar nicht berufen, über die Verwirklichung im einzelnen Sicherheit zu gewinnen. Die bringt die Ausführung mit sich, die bringt jeder Schritt. Die Ausführung birgt nur dann Schwierigkeiten, wenn es nicht um eine Tat der Festen und heilig Nüchternen geht, sondern um eine Scheinaktion, die blenden und imponieren soll. Die braucht freilich als erstes Erfordernis die örtliche und zeitliche Einheitlichkeit, die Überwältigung des Augenblicks. Aber denke dir nur, es sei soweit, wie ich es wünsche: die Arbeiter wollen als ganz Mündige, durch eigene gründliche Beratung unerschütterlich Gewordene ankündigen: Hört, ihr Herrn, die Arbeit stockt, der Verkehr wird unterbrochen, sowie ihr euch zur Barbarei entschließet, die wir nicht mehr wollen! Da kommt es nicht mehr auf Inszenierungskünste und verblüffende Theatermassenwirkung an, da darf es gerade so gehen wie im Krieg, der nicht mit der Hauptschlacht, sondern mit Scharmützeln und Gefechten beginnt. O daß die Menschen, o daß vor allem die Arbeiter so gar nicht wissen, was Wirklichkeit ist und wie sie aussieht!
21. Laß mich noch auf die andre Frage zurückkommen, die du von dir geschoben hast: Was wird, wenn es zu diesem Streik der Arbeit kommt, die Regierung tun ?
Antwort: Ich traue mir kaum zu gestehen, was da für ... nicht schon Hoffnungen, aber doch Träume und Gesichte in mir leben. Denk an Ludwig XVI., der die trikolore Freiheitsmütze aufgesetzt hat, an Friedrich Wilhelm IV. mit der schwarzrotgoldenen Schärpe. Das war kein bloßer Zwang und keine bloße verräterische Klugheit; da war die tief im Innern wurzelnde Gleichheit aller Menschen und die Erschütterung angesichts des neu erstandenen einigen Volkes hervorgebrochen. Wer weiß, was aus unsern Regierenden, die auch Menschen sind, Verschüttetes hervorgelockt wird, wenn das arbeitende Volk in seine Tiefen steigt und die Menschheit aus der verfallenen Grube hervorholt. Aber ich will nicht an das Letzte, ich will nicht an die Herrlichkeit denken. Zu viel ist geträumt und geschlafen, zu wenig wach und bescheiden im Kleinen fürs Große getan worden. Die Arbeiter sollen beginnen, sie sollen mit dem Ersten anfangen, sie sollen ihre Vorbereitungen treffen. Sie sollen einmal gar nicht an das denken, was allenfalls andere tun könnten. Sie sollen nur an das denken, was ihnen selber obliegt. Sie sollen das denken, was sie wirklich denken. Sie sollen das sein, was sie wirklich sind.
22. Wie redest du da so absonderlich ? Sie sollen denken, was sie denken, und sein, was sie sind? Ein jeder ist doch wohl eben, was er ist, und denkt, wie er denkt. Oder nicht ?
Antwort: Wenn jeder wäre, was er in Wahrheit ist, und wenn jeder das wahrhaft dächte, was wirklich in ihm lebt, dann brauchten wir nicht mehr gegen den Krieg zu kämpfen und vieles wäre umgewälzt. Dann wäre das leibhaft da, in uns und darum um uns, was wir als Sozialismus ersehnen. Nein, die Menschen wagen nicht, ihre Gedanken zu denken. So viel verborgene Erkenntnisse und so viel geheimes Wissen haben die Menschen in sich und lassen es alles nicht hochkommen. Sind wir nicht eben davon ausgegangen: die Arbeiter wollen allesamt den Krieg nicht. Genauso, wie sie das alle miteinander wissen und doch nicht wissen, genauso wissen sie auch in Wahrheit, daß gegen den Krieg und den Kriegsbefehl nur der Streik und das Streiksignal hilft. Aber bekamen sie bisher dieses Wissen, das in ihnen so verborgen ist, als wäre es in einen tiefen Brunnen gefallen, hinauf ins klare Bewußtsein? Nein. Haben sie auch nur den kleinsten Anfang dazu gemacht, um diesen Streik, wie es sein muß, für den Notfall vorzubereiten ? Nein.
23. Sage mir, wie kann dieser Streik, wie kann also der durch die Arbeit gesicherte Frieden vorbereitet werden ?
Antwort: Ich will erst sagen, wie er nicht vorbereitet werden kann. Ich will erst auf Dinge antworten, die du mich nicht gefragt hast. Woher das kommt, will ich erst sagen, daß in dumpfer Unbewußtheit in den Arbeitern etwas lebt, was wie von dickem Schlaf umpolstert ist, was kaum mehr Leben zeigt und wie scheintot ist. Bildet euch nicht ein, ihr Apostel und Prediger und Agitatoren und Propagandisten, da sei das Volk, das nichts wisse, und dort kämet ihr mit großen Frachten dahergesegelt und brächtet den Massen neue, funkelnagelneue Botschaft. Gar nichts kann gar keiner gar keinem bringen, was der nicht schon vorher weiß, obwohl er es doch wieder nicht so recht weiß.
24. Ja, mein Lieber, das könnte schon wahr sein. So ähnlich haben auch die alten Griechen gedacht und sie sagten: Lernen ist Erinnern. Du meinst also: unsere Aufgabe sei, das Volk zu dem zu bringen, was es in Verborgenheit, in Schlaf und Scheintod schon ist, und das in ihm zu erwecken, was es wirklich denkt? Was aber ist denn schuld, daß die Völker, daß die einzelnen alle um ihr wahres Wesen gekommen sind und daß ihnen ihr eigentliches Denken sozusagen irgendwohin hinuntergerutscht ist, wo sie es selber nicht mehr finden?
Antwort: Vieles ist schuld; das Geschehenlassen und Erdulden seit Jahrhunderten ist schuld. Und darum wird es lange dauern, bis sie für ihr Zusammenleben und ihre Gegenseitigkeit die rechten Maßnahmen ergreifen, obwohl auch die ganz leicht und ganz selbstverständlich sind. Aber die Menschen denken jetzt nur immer ans Nächste, an das, was ihnen auf die Nägel brennt, und sie denken gar langsam und linkisch und denken nur in der Enge und nie in die Weite. Hier aber, wo es um den Krieg geht, hier ist Hoffnung. Denn da geht's ums eigene Leben, ums Leben der Söhne und Väter, und um die unerhörtesten Greuel. Hier können die Hindernisse überwunden werden; wir müssen's mit ganzer heiliger Kraft versuchen. Die Arbeiter denken langsam; in ihrem Elternhaus hat man auch langsam gedacht, und die Schule hat ihnen kein geläufiges Denken, keine Übung im Denken beigebracht. Darum haben sie ihr Denken so schnell gefangen gegeben und waren froh, wenn sie's aufgeben durften und andre für sich denken ließen. Das, das allein ist schuld an all dem Unheil, von dem wir reden: dieses System der Vertretung!
25. Du meinst, daß die Arbeiter sich regieren und bestimmen lassen und sich nicht selbst regieren und selbst bestimmen? Freilich, wenn du die Regierung abschaffst, - die Arbeiter werden einander den Krieg nicht erklären!
Antwort: Das liegt den Arbeitern schon viel zu fern; dazu wirst du heut und morgen die Massen noch nicht bringen, daß sie dem Staatswesen ein Ende machen und neue Ordnungen aufbauen. Aber ich rede auch von einer Regierung, die den Arbeitern näherliegt. Ich meine das ungeheure Hindernis der Regierung und Vertretung, die unsere Arbeiter selber eingesetzt haben und von denen sie sich frei machen müssen, wenn sie auch nur über Krieg und Frieden selbst bestimmen wollen. Was ist denn ihre Partei, was sind denn ihre Sekretariate und Zentralinstanzen anders als Behörden, von denen sie sich das Denken, das Handeln und die Freiheit haben abnehmen lassen ? Sieh mal zu, ob du den kleinsten Unterschied finden kannst. Zum Beispiel: die Regierung besteuert die Lebensmittel oder erklärt den Krieg; das Volk protestiert. Das Volk bildet sich auch ein, immer noch, trotz jahrhundertalten Erfahrungen, wenn andere Personen oder Parteien regierten, könnte es besser werden. Es wird aber nicht besser, sondern nur immer schlimmer, weil das Volk sich immer mehr das eigene Eingreifen abgewöhnt und gar nicht mehr weiß, wie die Einrichtungen der Selbstbestimmung aussehen müssen. Genauso aber steht's mit den jungen Regierungen, die sich die Arbeiter noch zu den Staatsregierungen dazu in unserer Zeit für ihr Arbeiterleben selbst gegeben haben. Die Vertreter schließen z.B. einen Tarifvertrag mit den Prinzipalen, der über Wohl und Wehe von Zehntausenden entscheidet. Die Vertreter haben das Recht dazu; die Gehilfen haben es ihnen vorher übertragen, sie haben freiwillig abgedankt. Was tun sie nachher ? Sie schreien, sie protestieren, sie lehnen die Verantwortung ab. Wenn's hoch kommt, wählen sie einmal andre Vertreter, die sich ganz notwendig gerade so entwickeln müssen wie ihre Vorgänger. Warum ? Weil die Arbeiter nicht lebendig sind und ihre Sachen nicht selber besorgen. Wo Massen da sind, aber nicht leben, da muß sich Fäulnis entwickeln. Alle Fäulnis in den oberen Regionen steigt immer von unten auf. Wo regiert wird, da stinkt es; und wie sollte es anders sein ? Nur weil unten Verweste sind, darum gebieten oben Verweser!
26. Was also sollen die Arbeiter machen, um sich vorzubereiten, den Krieg zu verhindern ?
Antwort: Sie sollen sich sagen: das kann ja niemandem schaden und damit können wir keinem und keinerlei Richtung unrecht tun, daß wir einmal erproben, ob es wahr ist, was hier gesagt ist: daß die Arbeiter, daß eine große, zusammenhängende Masse über den Krieg ganz gleich denkt und ebenso gleich denkt über das einzige Mittel der Arbeiter, den Ausbruch des Krieges unmöglich zu machen. Sie sollen sich sagen: das ist nun wirklich eine Frage, bei der es auf Theorien, auf gelehrte Sachen, auf Programme und sogenannte Wissenschaft gar nicht ankommt. Da ist das arbeitende Volk, und es soll ganz einfach und volksmäßig sich auf etwas rüsten, was den Arbeitern selbstverständlich ist und im Herzen jedes rechten Arbeitsmannes lebt. Sie sollen sich sagen: ob die Sozialdemokraten recht haben oder die Anarchisten, ob die Marxisten eine echtere Wahrheit lehren oder die Revisionisten, das können die ja untereinander ausmachen. Hier geht's um etwas, das dringender ist, das das Allerdringendste ist und wo für uns keine Möglichkeit des Streits und kein Grund zum Warten und Geschehenlassen ist. Hier wollen wir selber zugreifen und nach dem Rechten sehen.
27. Damit die Arbeiter sich das sagen und sich dann gegenseitig durch feste Abmachungen versichern und binden, müssen sie aber zusammentreten. Wie denkst du dir die Möglichkeit dazu ?
Antwort: Ich meine, die Arbeiter müssen den ersten Anfang machen, eine große Tagung vorzubereiten, wie noch gar keine gewesen ist. Bisher war immer zwischen den Arbeitern und ihrem Ziel etwas andres eingeschoben, war's eine Partie oder eine Gewerkschaft oder ein Reichstag, gleichviel; es war immer, wie wenn sich zwischen den Frommen und seinen Herrgott der Priester eindrängt. Da wird dann immer nicht das Interesse lebendiger Menschen gewahrt, sondern es wird vielmehr Rücksicht genommen auf die Größe und das Gedeihen der Organisation, der Kirche, des Götzen. Jetzt soll einmal alles Fremde, alles Erdachte beiseite gelassen werden. Da sind Arbeiter, wie sie in der Werkstatt, in der Fabrik, auf dem Bauplatz beisammen sind. So sollen sie sich besprechen, sollen ihre Einigkeit feststellen, die ganz ohne Zweifel vorhanden ist, sollen alle Erfordernisse des Plans erwägen, ganz bestimmte, ins Einzelne gehende Fragen beantworten, sollen einander erst von Gruppe zu Gruppe, dann von Branche zu Branche, dann von Ort zu Ort Boten senden, bis die Klarheit so scharf und bestimmt hergestellt ist, daß in allen Provinzen an einem und dem nämlichen Tag in großen Versammlungen der Beauftragten festgestellt wird, was im gegebenen Fall getan werden soll.
28. Ja, das gefällt mir, und das wäre ein Anfang der Freiheit und des Zusammenschlusses, oh, von wie großer Bedeutung wäre solch ein Anfang! Mir ist, als wehte mich frische Luft an, wenn ich mir das ausmale. Da wären ja wir Deutsche zum erstenmal nicht das deutsche Volk, als das wir verrufen sind: wir träten in Freiheit zusammen, um unser Schicksal selbst zu bestimmen. Freiheit! Freiheit! Haben wir doch fast vergessen und verlernt, welche Wonne es ist, in Freiheit einig zu sein. Aber es muß doch ein Beginn sein. Wie soll denn das nur anfangen?
Antwort: Es hat schon angefangen. Dieser Aufruf zum freien Arbeitertag ist ergangen; und die allerersten, die ihn vorbereiten und rüsten wollen, haben sich zusammengetan. Aus verschiedenen Lagern sind Männer und Frauen zusammengetreten und haben Ausschüsse gebildet. Da sind schon Maurer, Bauarbeiter, Zimmerer, Fliesenleger, Rohrer, Glaser, Tischler, Möbelpolierer, Tapezierer, Metallarbeiter, Töpfer, Bäcker, Buchbinder, Schuhmacher, Gärtner, Buchdrucker, Musikinstrumentenmacher und Handelshilfsarbeiter dabei, da sind Männer zusammengetreten, die sonst vier-, fünferlei Richtungen angehören, die einander manchmal fast feindlich entgegenstehen. Solche Ausschüsse sollen überall ins Leben kommen, in großen und kleinen Städten; jeder soll alles tun, was zur Erweckung und Angliederung getan werden kann und soll auf kein Kommando von keiner Zentrale warten. Und zu gemeinsamen Schritten werden sie sich verbinden. Dann werden sie bald zu groß sein, um immer im Ganzen zusammenzuwirken, sie werden in Bezirke auseinandertreten. Und alle Berufe werden in jedem dieser Bezirke vertreten sein, und jeder wird in seinem Berufe wirken. Ich prophezeie nichts; ich ergehe mich nicht in phantastischen Schwärmereien und Hoffnungen. Aber ich sprechen unsern Willen aus; so wollen wir tun, so soll es geschehen!
29. Weißt du, woran mich das erinnert, was ihr da begonnen habt, wie du sagst? Weißt du, was ihr da für ein Vorbild habt?
Antwort: Jawohl ich weiß es, obwohl wir, als wir anfingen und taten, was sich ergab, weil es notwendig war, nicht daran gedacht haben. So waren die Distrikte und Sektionen in Paris und den anderen Städten in der großen Revolution gegliedert, so haben sie permanent getagt und ihre Vertreter dauern kontrolliert und beraten, so haben sie ihre Selbstbestimmung gesichert und haben nicht nur der Zukunft ein kostbares Werk bereitet, sondern sich selbst eine Gegenwart, ein lebendiges Tun, ein freudiges öffentliches Leben beschert.
30. Ja, das meinte ich. Ich sehe, unsere Gedanken gehen zusammen. Und so, lieber Kamerad, reich mir die Hand, wir wollen zusammenhalten und miteinander ans Werk gehen. Nun aber laß mich noch eines fragen. Wenn die Arbeiter also zum erstenmal seit langer, langer Zeit erkennen, daß man, was man in der Welt haben will, selber tun muß, daß, was durchgesetzt werden soll, von denen, die es wollen, begonnen und getan werden muß, daß der große Feind alles Lebens die Regierung, die Behörde, die Schablone und also der Zentralismus ist, wenn die Arbeiter in diesem einen Falle wissen, was das heißt: frei sein und Freiheit ausüben, wird dann nicht mehr geschehen sein, als daß die Arbeiter Vorsorge treffen, um den Ausbruch des Kriegs zu verhüten ?
Antwort: Ja, es wird viel mehr, es wird noch ganz anderes geschehen sein. Alles, was zu einem guten Zweck das gute Mittel ist, ist in sich selbst gut. Der freie Arbeitertag ist nicht bloß das Mittel, durch das die Arbeiter ihren Willen und ihren Weg zur Sicherung des Friedens erfüllen. Haben wir nicht gesehen, daß keine Lehre von außen gebracht werden, daß sie nur innen, wo sie immer wohnte, erweckt werden kann ? So ist es auch mit der Freiheit, dem Glück und Gedeihen, der Eintracht und dem Bunde der Völkern Sie sind nicht ein Ziel, das draußen irgendwo am fernen Ende der Geschichte wartet und erobert werden muß. Wenn wir uns rüsten, um die Freiheit heimzuholen, wenn wir uns in der rechten Art, der einzigen Art, die nicht neue Unfreiheit und Regierung schafft, organisieren und vorbereiten, so entsteht in dieser Vorbereitung, in dieser freien Organisation eben schon die Freiheit und die Freude und das Glück. Wer eine Braut will, muß sie draußen suchen, denn die Menschen sind in zwei Geschlechter auseinandergerissen. Aber ganz anders ist es mit der Braut der Menschheit, der Freiheit! Keiner findet die Freiheit, der sie nicht in sich hat. Und desgleichen: nichts, was wirklich die Menschheit angeht und also die Verbrüderung und gegenseitige Gerechtigkeit, kann irgendwie von Menschen durchgeführt werden, ohne daß diese Menschen in Freiheit zusammenwirken. In der rechten Art soll Arbeit und Frieden gesichert und also geschaffen werden. und siehe da: die rechte Art heißt Freiheit im Zusammenwirken! Noch ganz andre Dinge werden damit für Arbeit und Menschheit getan sein, daß die Arbeiter tun, was an ihnen ist, um für dieses eine zu sorgen: daß sie sich nicht selber gegenseitig ermorden.
Aber werden die Arbeiter denn ihre eigene Sache tun ? Werden sie einmal frei sein ? Werden sie zu ihrem freien Arbeitertag zusammentreten ? Werden sie einmal selbst reden und selber handeln ? Werden sie beschließen, ihr Geschick selbst zu bestimmen?
Darauf sollen die Arbeiter die Antwort geben.
1911
1912
Von der Dummheit und von der Wahl
Schnee liegt über Feld und Wald. Der Boden ist zu Stein gefroren. Finken, Hänflinge, Lerchen kommen in die Dörfer und Städte und suchen da die Nahrung bei den Menschen, die ihnen die Natur verweigert. Viele verhungern und erfrieren; einige, die sonst zu Grunde gegangen wären, bleiben am Leben, weil die Menschen mit Absicht oder zufällig ihnen den Tisch decken.
Es ist nicht auszudenken, wäre eine unsinnige Phantasie, sich eine Lerche vorzustellen, die den andern Vögeln predigte: so sei es immer gewesen, aber es müsse nicht so bleiben; wenn sich alle Vögel zusammentäten, könnten sie im Herbst Vorräte aufstapeln, könnten auch mit ihrem Gefieder den Schnee weg schaufeln usw. Der Verstand, die Erinnerung und Abstraktion dieser Tiere ist nicht so beschaffen, daß derlei je zu erwarten wäre.
Was dagegen die Menschen angeht, so ist ihr ganzes Leben auf Verkehr, Meinungsaustausch, Erinnerung der Generationen und Erfahrung, Überlegung und Vorsorge gestellt.
Was aber machen die Menschen für einen Gebrauch von ihren besonderen Eigenschaften, Gaben und Möglichkeiten ?
Zum Teil ohne Zweifel den richtigen: sie kleiden sich warm, haben Häuser gebaut und heizen den Ofen gegen die Kälte, sie sorgen für ihre und ihrer Angehörigen Ernährung, sie machen einander Mitteilungen über Gefahren, die drohen, sie überliefern sich von Geschlecht zu Geschlecht nützliche Kenntnisse.
Aber zum andern Teil machen sie von ihrer besonderen Natur, die Verstand heißt, den sehr unzulänglichen und sehr verkehrten Gebrauch.
Die Menschen unterscheiden sich nämlich von solchen Tieren, wie wir sie genannt haben, nicht nur durch den Verstand, sondern ebensosehr durch die Kehrseite des Verstandes: die Dummheit und deren traditionelles Weiterleben. Keineswegs ist die Dummheit bloß Abwesenheit von Verstand, bloß etwas Nichtvorhandenes, Negatives. Es ist darum auch falsch, Tiere dumm zu nennen, weil ihnen der Menschenverstand fehlt. Es gibt, bildlich gesprochen, im Kopf des Menschen keine leere Stelle; das soll heißen, kein Mensch leidet an Abwesenheit des Verstandes, der nicht dafür etwas anderes hätte: manche haben eine Art Instinkt, die meisten aber ganz positive, veritable Dummheit.
So wie sich die Ergebnisse der menschlichen Überlegung, Berechnung, Fürsorge durch Tradition weiter vererben, genau so hat die Menschheit ihre Einrichtungen traditioneller Dummheit.
Daß die Menschen Zustände haben, auf Grund deren Tausende ihrer Brüder in der glasharten Kälte ohne Obdach, ohne Arbeitslust oder äußere Arbeitsmöglichkeit, ohne rechte Nahrung sind, kommt von einer seit Jahrhunderten weiter vererbten und gesteigerten Dummheit; die Dummheit springt noch mehr in die Augen, wenn man die Wohltätigkeitsveranstaltungen sieht, die diesen Schrecknissen entgegengesetzt werden: die Blumentage im Sommer, die Wohltätigkeitsfeste und Bazare der vornehmen Gesellschaft im Winter, und die albern grausamen Ergebnisse dieser kindischen Bemühungen: die Asyle für Obdachlose, die Wärmehallen, die Zuchthäuser und die aller neueste Mißgeburt, die vom grünen Tische gefallen ist: der Arbeitszwang. Unter Menschen, die, wenn's ginge, gar keine Liebe und gar keine Scham und gar kein Gefühl der Selbstachtung hätten, bloß unter Menschen mit Verstand bestünde in ihrer vom Verstand geleiteten Gesellschaft ein durchaus natürlicher Zwang zur Arbeit, der, wie jedes Stück Natur seine äußere und seine innere Seite hat: die Notwendigkeit zum Mittel der Arbeit zu greifen, um den Zweck des Lebensunterhalts zu erreichen, von außen; und die dem gesunden Organismus eingeborene Lust zur Betätigung und zum Fertigmachen von innen, von wo aus die Arbeit doch wieder kein bloßes Mittel, sondern ein Zweck ist. Hier ist übrigens der Augenblick zu merken, daß es eine bloße Verstandesgesellschaft natürlich nicht geben kann. Wo wirklicher gesunder Verstand ist, da ist auch gesunde Lust; und wo Lust ist, da sucht Kind wie Frau wie Mann sich Genossen der Lust, und wo Gleiche im Ausdruck des Gleichen geeint sind, da stellt sich die Erkenntnis der Gleichheit in aller Verschiedenheit und Getrenntheit ein, die Liebe heißt. Zum rechten Verstand gehört die rechte Liebe, wie die Bosheit sich neben der Dummheit spreizt.
Unter gesund entwickelten Menschen sieht die Fürsorge, die Ordnung, die Gemeinschaft immer so aus, daß außen eine Not ist, der von innen her die Lust antwortet und entspricht und daß diese Lust die Einrichtungen der Liebe und der Gemeinde schafft. Darum ist es in dieser wunderlich-schönen Welt so bestellt, daß gar nichts ein bloßes Mittel ist: was immer geschieht, aus Lust wird es getan, und in einer Wirtschaft solcher Menschen wird jedes Gefäß zum Kunstwerk, weil es nicht bloß geschaffen ist, um ein drängendes Bedürfnis zu befriedigen, sondern weil die Arbeitsfreude sich in jedem Gegenstand selbst darstellt und um jeden Gegenstand spielt. In solcher Wirtschaft und Gesellschaft sind Arbeit, Spiel und Sport, sind Gebrauchsgegenstand, Ornament und Arabeske immer beisammen, immer und in den verschiedensten Graden bereit, in einander umzuschlagen.
Auch in solcher Gesellschaft, wo die Arbeit selbst von Lust und Liebe unzertrennlich ist, wird es Feste geben, wo man die Werkelsachen ruhen läßt und sich der Freude und Gemeinschaft rein um ihrer selbst willen hingibt, wo man Innigkeit und Herzensbedürfnis und Jubel und Überschwang nicht mehr mit nützlichem, sondern mit erfundenem Werk verbindet, wo die Arbeit zum Tanz, der Entwurf zum Himmelssturm, die Lust zur Seligkeit wird. Da habt ihr nun, ihr Menschen der lieblich duftenden Neuzeit, da habt ihr nun zum Beispiel euren Verkehr und habt zum Beispiel eure Eisenbahnministerien. Wie wenig aber habt ihr damit begonnen, habt ihr nur bisher daran gedacht, aus diesen Tatsachen alles zu schöpfen, was darin liegt. Ihr habt lauter Dinge, lauter Einrichtungen, lauter Erfindungen und Möglichkeiten, die nicht sind, was sie sind, die mehr nicht sind als sind. Ihr habt Eisenbahnen, habt Telegraphen, habt Zeitungen: aber habt ihr Volksfeste, habt ihr Menschheitsfeste, habt ihr auch nur auf dem lumpigen Papier eine wahre Versammlung wahrer Menschheit ? In euren Erfindungen lebt die Menschheit; aber ihr habt sie darin eingeschlossen, weil ihr sie nicht in euren Herzen, in eurem Bedürfen, in eurer Fülle, weil ihr sie nicht in euren Gemeinden und Versammlungen habt.
Als von euren großartigen Erfindungen und Möglichkeiten noch gar nichts da war, in den verrufenen primitiven Zeiten, wo man zu Fuß ging und allenfalls ein Pferd vors Wägelchen spannte, da war all das lebendig, was ihr jetzt gefangen gesetzt habt. Eine einfache Landkirche, wohin die Bewohner etlicher Dörfer sich sonntags begaben, ein Marktplatz in einem Städtchen oder der Raum um eine Dorflinde haben mehr von Kunst und Religion und Menschheit gesehen, als ihr euch mit all euren Wundermaschinen schaffen könnt, ihr Esel, die ihr Gefangenenwärter und armselig Gefangene in einer Person seid.
Früher stellten die Männer das Werkzeug in die Ecke und nahmen die Waffe oder den Stock zur Hand und gingen zum Thing. Da berieten sie über bestimmte Dinge der Gemeinschaft, und all ihre überschüssige Arbeitslust strömte nun zusammen zu den öffentlichen Angelegenheiten. So traten die Dorfgemeinden und die Stadtgemeinden zusammen, so gaben die Beauftragten Rechenschaft, so wurden neue Beauftragte ernannt, so gab es heiße Köpfe und Streit und Wut und Einigkeit und Beschluß. Und das war eine freie, öffentliche Sache, und jeder stand seinen Mann und stand bieder und ehrenfest in seinen Stiefeln und dachte und wirkte fürs gemeine Ganze.
Heute! heute geht ihr, alle fünf Jahre einmal, zur Wahl! Nichts wird euch vorgelegt, kein Gesetz, kein Entwurf, gar nichts. Ihr geht mit einem amtlichen Wahlkuvert ins Klosett, steckt behutsam einen Zettel mit vorgedrucktem Namen hinein, klebt zu, daß keiner sehe, was ihr denkt und beschließt, und werft das Briefchen in einen verschlossenen Topf. Was nun diese so gewählten Männer zu beschließen bekommen und wie sie sich entschließen, das geht euch nichts an, da habt ihr nicht mitzureden. Und die Männer sind so gewählt, wie es der Mehrheit entspricht: ein Recht der Minderheit, sich nun von der Mehrheit zu trennen und, sei's auch nur auf diesem wahnsinnig verkehrten Wege dessen, was ihr Wahl heißet, eigenes durchzusetzen, gibt's nicht. Die Mehrheit geht alle fünf Jahre ins Klosett, um abzudanken; die Minderheit hat nicht einmal dieses Recht, sie hat gar keines. Der Telegraph, es ist so sonnenklar, hat die Bestimmung in sich, getrennte Menschen zusammenzubringen, ihnen die Möglichkeit zu verschaffen, sich während ihrer Entschließungen in Verbindung zu halten. Heute dient er dazu, daß die Menschen nach geschehener Lächerlichkeit erfahren, diese Lächerlichkeit sei mit den und den Ergebnissen in ganz Deutschland vor sich gegangen.
Und welche Aufregung, welches Gegacker um dieses Windei alle fünf Jahre! Und wie setzt immer sofort die Enttäuschung und der Katzenjammer ein, bis nach fünf Jährlein die Narretei auflebt und so wieder und wieder. Und was sie für Worte haben für dieses feige, inhaltslose, knechtische, überdumme Getue: Wahlschlacht, Wahlsieg, Triumph; es ist, wie wenn sich Affen in einem Zeughaus Ritterrüstungen über das braune Fell gezogen hätten.
Es wohnt viel Dummheit bei den Völkern dieser Zeiten, viel Abgeschmacktheit und viel Schamlosigkeit. Aber gibt es denn wirklich noch Einfältigeres, noch öderes, noch Plebejischeres als das, was sie Wahl nennen ?
1912
Zum Thema: Sozialismus und Wissenschaft
Lieber Franz Oppenheimer!
Ich lese in Ihrem Buche oder eigentlich in Ihren beiden Büchern, die ja zusammengehören [1], und ich möchte nun endlich auf eine Frage die Antwort suchen, die mir, und ich weiß, auch Ihnen in all den Jahren manchmal gekommen ist. In all den Jahren - was für Jahren ? Wo wir nebeneinander hergeben ? Oder wo wir einander oft, immer wieder begegnen ? Da bin ich schon bei meiner Frage! Wie kommt es, daß wir einander so nahe sind, einander immer wieder begegnen und doch nicht zusammenkommen ?
Nehmen wir das Wort »begegnen« weit genug, so treffen Menschen einander entweder, wenn sie aus verschiedenen Richtungen her sich verschiedenen Zielen zuwenden oder wenn sie einen und den nämlichen Weg wandern, der eine aber den andern überholt. Beides scheint unser Fall nicht zu sein, denn wir müßten schon recht krause Pfade einschlagen, wenn wir bei diesem Verfahren uns öfter, uns immer wieder treffen sollten. Also es gibt noch eine dritte Möglichkeit. Wir wandern nebeneinanderher, in verschiedenen Tälern. Lange Strecken sind wir einander entschwunden, Sie auf Ihrer Straße, ich in meiner Schlucht, und wir müßten schon einen Tunnel durch Urgestein graben, um miteinander in Berührung zu kommen. Da hören wir einander nicht, sehen uns nicht und ahnen uns nicht einmal. Aber dann werden die Täler enger und führen aufwärts, und mit einemmal stehen wir, jeder auf seinem Höhenzug, und erblicken uns und rufen uns Wandergrüße zu. Und dann geht's wieder herunter von den Wasserscheiden und bis zum nächsten Mal sind wir einander entrückt.
So wird's wohl sein; aber warum ist's so? Was sind das für Täler, Schluchten und Höhen, oder, um endlich aus dem Bild herauszukommen, was ist es, das uns eint und trennt ?
Mich dünkt, wenn Menschen dies von sich sagen können: sie seien zugleich geeint und getrennt, kann es dafür nur dreierlei Erklärung geben. Erstens, sie sind in den einen Dingen verbunden, in den andern geschieden. Dies aber ist unser Fall eben nicht: wir fühlen uns im Wesentlichen unsrer Auffassung wie unsrer Tendenz verbündet, wir denken »gleich« über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft, von Ausbeutung und Gewalt, von Boden und Kapital, von Genossenschaft und Sozialismus und wiederum von Großgrundeigentum und Feudalstaat und von Bodenfreiheit und Sozialismus.
Nun gibt es nur noch zwei Erklärungen dafür, daß wir als Geeinte und zugleich Getrennte erscheinen. Entweder muß nämlich unsre Trennung nur Schein sein, Vorspiegelung, entstanden vielleicht durch verschiedene geistige, literarische Abstammung und daraus sich ergebende Verschiedenheit der Terminologie, oder aber unsre Einigkeit ist Täuschung und es gibt ein Letztes, Feinstes, Tiefstes, was uns wirklich auseinander hält. Ich halte diese dritte Erklärung für die richtige; wir sind beide erwachsen, stolz und einander liebevoll zugetan genug, daß ich kein »leider« hinzuzufügen brauche.
Soll eine Erklärung stimmen, so kommt's auf den Versuch an. Probieren wir's also. Lassen Sie mich Ihnen erklären, was ich für unsre wahrhafte Trennung halte.
Es wird sich darum handeln zu zeigen, daß wir verschieden geartete Geister sind. Nicht ums Temperament geht's hier, sondern um die Menschennatur. Verschieden temperiert sind alle Menschen; besser gesagt: verschieden im Tempo, - denn die Wärme kann ja auf Bewegung zurückgeführt werden, und Tempo und Rhythmus des Blutes scheinen mir ein noch besseres Bild für das Temperament als seine Temperatur. Aber das Temperament scheint mir nicht zu sein, was duldsame Menschen trennt, - darum könnten wir doch zwar nicht gleich sein und noch weniger eins, aber doch anders einig, als wir es sind. Andres, Entscheidenderes dünkt mich in uns verschieden. Erlauben Sie mir, daß ich mich für diese Auseinandersetzung auf Ihr Gebiet begebe. Nicht vom Geist und der Natur sei die Rede, sondern vom Kopf. Lassen Sie mich Ihnen wissenschaftlich kommen; der Augenblick wird nicht ausbleiben, wo ich aus der Wissenschaft fortgehen will und wo Sie erklären, drin bleiben zu wollen; und dann werden wir am Ort unsrer Trennung stehen.
Ich habe gelernt, daß es auf allen Gebieten verkehrt, zugleich ungenügend und unmöglich ist, nach den Ursprungsursachen zu suchen. Suche ich die Ursprungsursache einer konkreten Erscheinung, so werde ich weiter und weiter zurückgeführt und komme nur ans Ende, entweder wenn ich müde bin oder wenn ich zu meinem Anfang, nämlich zu irgendeiner mir eigenen Voreingenommenheit komme. Darüber sind wir, ich brauchte es nicht erst durch Ihre Methodenlehre zu erfahren, noch ganz einig. Wir wissen noch mehr miteinander: uns ist beiden geläufig, daß man zwar z.B. nicht den konkreten preußischen Staat auf seine erste Ursache zurückführen kann - wann sollte die gewesen sein ? und wie sollte nichts noch vorher gewesen sein, was zu seinen Bedingungen gehörte ? - daß man aber den Staat als solchen erklären kann, nämlich durch die Zurückführung auf die Psychologie der Menschen. Merken wir uns das : handelt es sich um äußere Zustände, um Einrichtungen, die wie Dinge und Dingkomplexe aussehen, so sind wir zufrieden, wenn wir diese nur scheinbare Außenwelt auf eine Innerlichkeit, auf unsre Psychologie, auf unser Ich zurückgeführt haben.
Mir scheint nun, hier machen Sie - und mit Ihnen die meisten Soziologen - einen Schritt zuwenig. Sie benutzen nämlich nur die Vergleichung mit der allgemeingültigen Menschenpsychologie, um doch noch zu einer Ursprungsursache zu kommen. So und so, da und da, dann und dann ist der Staat entstanden, ist die Ausbeutung in die Welt gekommen; Sie führen die heutigen Zustände auf einen Entstehungsort, eine Entstehungszeit und eine Entstehungsart zurück. Irgendwo, irgendwann oder in der transzendenten Maskierung von Raum und Zeit, in der Modalität, irgendwie also soll alles einmal entstanden sein.
Ob und inwiefern man von der einmaligen Entstehung irgendeines Dings oder Scheindings reden kann, untersuche ich hier nicht. Sicher ist, daß ein einmaliger Veränderungsvorgang, der irgendwo und irgendwann eintrat, das Bestehen keiner Sache erklären kann. Das ziehen Sie nicht genug und oft gar nicht in Betracht: daß jedes Bestehen ein immerwährendes Entstehen ist; daß jeder Moment eines Daseins seine Erklärung nicht findet in irgendeinem vergangenen Moment, sondern in den lebendigen Beziehungen seines inneren Kraftkomplexes zu den Einwirkungen der Außenwelt.
Ich glaube nicht, daß Sie schon einsehen, was für einen ungeheuren Unterschied es macht, ob man von einer einmaligen oder von der immerwährenden Entstehung ausgeht.
Jeder, der auf dem Gebiete der Menschengeschichte von der einmaligen Entstehung ausgeht und die immerwährende nicht zur Grundlage seiner Betrachtung macht, wird zu irgendeiner Form der materialistischen Geschichtsauffassung geführt. Erklärung durch immerwährende Entstehung heißt ja dagegen nichts andres als Zurückführung auf Psychologie.
Nachdem für Sie der Staat und seine wirtschaftlichen Folgeerscheinungen erst einmal geworden sind, operieren Sie mit diesen festen Dingern wie mit in letzter Linie entscheidenden Ursachen, aus denen alles abzuleiten ist. So ist für Sie z.B. die Verfassung der Geister in den christlichen Jahrhunderten zwischen 1000 und 1400 so etwas wie eine Folge oder Begleiterscheinung der Staats und Wirtschaftszustände.
Diese Betrachtungsart wirkt ungemein simplifizierend, und darum hat sie bei den Männern der Wissenschaft so außerordentliches Glück gefunden. Ohne die wundervolle Vereinfachung der Sprache durch den Materialismus ist in der Tat keine Wissenschaft möglich. Ich habe gar nichts gegen, sondern sehr viel für den Materialismus; es gibt keine wirkliche Wissenschaft als die materialistische. Nur daß die Wissenschaft, die, absichtlich oder ohne es zu merken, wesentliche Beziehungen übersieht und sie lange Zeit jeweils übersehen darf - weil sie nämlich in dem stecken, was als Substanz in die Rechnung eingeht - kein letztes Wort, sondern eine Grundlage ist; hinter der Wissenschaft kommt eine andre Art geistiger Arbeit, die jene zu korrigieren und psychisch umzudeuten hat.
Es gibt nur exakte, gibt nur materialistisch-mechanistische Wissenschaft; eben darum gibt es weite Gebiete, die nicht wissenschaftlich zu erfassen sind. Und so ist auch Ihre Nationalökonomik eine täuschende und oft genug blendende Pseudowissenschaft.
Der Unterschied zwischen Sinnentäuschung und Verstandesirrtum ist Ihnen gewiß geläufig. Die substantielle Welt, mit der sich die echte Wissenschaft beschäftigt, beruht auf den Angaben unsrer Sinnen Es gehen in diese Wissenschaft unaufgelöste Beziehungskomplexe verwickeltster Art ein und bleiben trotz aller atomistischen oder elektronischen Scheinanalyse unaufgelöst. Mit diesen Täuschungen unsrer Sinne, mit diesen Wirklichkeiten operiert die Wissenschaft und, wie sich zeigt, mit Erfolg. Wer aber die Verhältnisse zwischen den Menschen, den Staat, das Kapital z.B. die ein Verhältnis immerwährender neuer geistiger Beziehungen zu den ererbt und lastend, aber noch lange nicht dinglich gewordenen Beziehungserbschaften sind, die man Zustände nennt, als Dinge nimmt und sie mit Hilfe der wissenschaftlichen Kausalerklärung begreifen will, unterliegt nicht der Sinnestäuschung, sondern dem Verstandesirrtum. Er stellt damit eine Scheinwissenschaft her, die falsche Diagnosen und noch verfehltere Prognosen geben muß, weil alle Wirklichkeiten verschoben und viele Wesenheiten nicht beachtet sind.
Das Verhältnis z.B. zwischen den bäuerlich-handwerklichen Verhältnissen und der Freibürgerschaft der mittelalterlichen Jahrhunderte einerseits und dem Geiste des Christentums andrerseits ist unsäglich viel komplizierter und ist im Wesen anders als Sie es sehen. Sie wissen selbst, wie eng Sie sich in all diesen Deutungen mit der Stockwerkstheorie der Marx und Engels berühren. Aber dieses Wort von dem ideologischen Überbau ist ja nur eine Verschämtheit und ein Schwanken. Man sieht ja doch ein, daß man gar keine Möglichkeit hat, die Wirtschaftsprozesse rein materialistisch-mechanistisch, das wäre zum mindesten atomistisch, zu erklären! Wenn das ginge, wäre es ja gewiß richtig, zu sagen: alles Geistige lassen wir ganz beiseite, das ist eine andre, wissenschaftlich nicht zu handhabende Ausdrucksform der nämlichen Sachen Es wäre ja gewiß richtig, in Spinozas Sinn eine echt materialistische Wissenschaft zu gründen, - wenn es nur im allerentferntesten ginge! Aber Sie wollen, genau wie Marx und Engels, die Wirtschaft, von der Sie bei näherem Betrachten gar nicht leugnen können, daß sie geistige Elemente genug enthält, zur Ursache der rein geistigen Formen und Bewegungen machen und wollen es doch wieder nicht so kraß ausdrücken, weil Sie doch ahnen, daß verzerrte Unmöglichkeiten herauskämen.
Was Sie als quasi-materiell auffassen, ist nichts andres als Überlieferung, Gewohnheit, Vergangenheitserbe. Gewiß sind diese lastenden, ruhenden, oft starren Einrichtungen große Komplexe, die von bestimmendem Einfluß auf die Gemüts- und Geistesbeschaffenheit der Lebenden sind. Und gewiß können und müssen wir, da wir reden müssen, von einer bestimmenden Einwirkung der Zustände auf Anschauungen, Gedanken, Religionen, Künste usw. sprechen. Nur dürfen wir die Gegenseite nicht übersehen: daß auch diese Denkgebilde Komplexe fester und ruhender Art werden, und daß wir mindestens so sehr von der immerwährenden Einwirkung z.B. des Christentums auf die Wirtschaft wie vom umgekehrten Verhältnis reden müssen. In der echten Wissenschaft gibt es keine Wechselwirkung: es ist das Kennzeichen der Gebiete, die der Wissenschaft nicht erreichbar sind, daß man auf ihnen immer wieder zur sogenannten Wechselwirkung zurückgeführt wird.
Überall, wo diese Wechselwirkung sich uns zunächst aufdrängt, ist das ein Signal für uns, daß die kausale Erklärung aus Anfangsursachen unzulässig ist, daß die Wissenschaft, d.h. der Materialismus ausgespielt hat, und daß alle Scheindinge und Zustände auf immerwährende Seelenvorgänge zurückzuführen sind. Mit wahrem Triumph erklären Sie an einer Stelle, wo Sie sich gegen eine gewisse Gestalt der Theorie des Malthus wenden, Vergangenheit und Gegenwart könnten nicht aus der Zukunft abgeleitet werden. Darauf, und was Sie damit eigentlich sagen, will ich jetzt nicht eingehen; wir kämen in die schwierigsten Probleme der Teleologie, und vielleicht glauben Sie, daß man die Zweckmäßigkeit kausal erklären könne, obwohl auch Sie gewiß schon gemerkt haben, daß das warnende Kriterium der Wechselwirkung einem nirgends so fortwährend über den Weg läuft wie hier; aber genug, ich jedenfalls glaube trotz oder wegen des Kirchenvaters Darwin an die Möglichkeit einer kausalen Rückführung der Zweckmäßigkeit nicht und kann mir unter einer Theorie, die Vergangenheit und Gegenwart vom Kommenden her erklärt, schon etwas Vernünftiges denken. Aber das nur nebenbei, um Ihnen zu sagen: der Aberglaube, das Bestehen einer Gegenwart aus Vorgängen der Vergangenheit erklären zu können, ist genau so groß, wie die Erklärung der Gegenwart aus der Zukunft, über die Sie lachen! Wenn die Teleologie einen Sinn haben soll, dann jedenfalls nur, wenn das Ende schon im Anfang, wenn der Zweck schon im Prinzip, wenn die Zukunft irgendwie in der Vergangenheit steckt. Und genauso mit der Kausalität: der Staat ist nicht entstanden, sondern er entsteht in jedem Augenblick, durch Dulden und Handeln, durch Seelenverfassungen ; wobei allerdings das Erbe der Vergangenheit, die lebendig weiterwirkende Vergangenheit von gewaltiger Bedeutung ist.
Sieht man die Dinge aber so an, so wird alles wesenhaft anders und alles hat fortwährend die viel stärkere Tendenz, aus der Sphäre des Wissens in die des Willens zu schwingen. Der Glaube, von dem auch Sie trotz redlichem Bestreben und trefflichen Einsichten nicht loskommen: die Wirtschaftsgeschichte sei ein Mechanismus, der sich zum Sozialismus auslaufen müsse, wird nicht mehr gegen die Erkenntnis aufkommen können, daß wir mit der Zurückführung auf die Wirtschaft noch nichts erklärt haben, daß der Bestand dieser Wirtschaft selbst erklärt, aus dem Geisteszustand erklärt werden muß, und daß es noch gar nicht ausgemacht ist, ob der Geisteszustand die erwünschte Wirtschaftsentwicklung nicht aufhält. Denn so viel Materielles birgt die Wirtschaft in sich, daß sie sich unglaublichen Schwierigkeiten anpassen kann: auch wenn die Ökonomisten tausendmal vor Augen sehen, daß ein gewisser Zustand zu seinem eigenen Ende führen müsse, folgt daraus noch lange nicht, daß dieses Ende nicht ein immer tieferes Versinken sein wird, das ein Versinken, aber kein Tod, sondern ein in aller Schmach kräftiges Leben ist.
Kurz, die Welt und die Menschheit ist viel rätselhafter und dunkler, als sie in Ihren Lehrbüchern steht. Gäbe ich zu, daß die Wirtschaft ein Mechanismus mit einer Entwicklungstendenz wäre, so müßte ich ergänzend hinzufügen, daß der Geist ein starres Ding sei, das sich dieser Tendenz in den Weg rollt. Die verkehrte Welt: die Wirtschaft ein lebendiger Organismus, der von einem erstarrten Ding, dem Geist, aufgehalten wird! Aber das ist auch nicht meine Sprache.
Nun, meine Sprache kennen Sie, und Sie finden viele der Formen, in denen ich meine Art, die Dinge zu sehen, ausdrücke, unwissenschaftlich und dilettantisch. Hier haben Sie die Erklärung, warum ich meine Unwissenschaftlichkeit für notwendig und für wahrer halte als Ihre Wissenschaftlichkeit. Hier die Erklärung, warum ich an keinerlei Kommen von irgendeinem Sozialismus im entferntesten glaube, ehe nicht ein neuer, gewaltiger, umgestaltender Geist über die Menschen gekommen ist. Hier die Erklärung, wieso wir in verschiedenen Tälern unsres Wegs gehen.
Vielleicht antworten Sie: Aber wieso? Meine ich das denn nicht auch ? Würde ich denn meine dicken Bücher schreiben, wenn ich nicht zu meinem Teil an der Umgestaltung des Geistes mitwirken wollte ?
Gewiß, habe ich darauf zu versetzen; und eben darum sage ich, daß, was uns trennt, nichts Grobes ist, sondern Feines und also Starkes. Und eben darum wollte ich in diesem Vorläufigen erst einmal das Verhältnis der Soziologie und des Sozialismus zur Wissenschaft untersuchen. Denn wer einsieht, daß nichts so vor allem not tut als die Erneuerung des Geistes und aus ihr heraus das Werk, der braucht das wissenschaftliche Wissen als Material und Kontrolle, aber er kann in den Schranken der Wissenschaft nicht bleiben: sie genügt ihm ebensowenig für die wahre Erkenntnis wie für das wahre Werk.
Ich hoffe, durch dieses Vorläufige dazu beigetragen zu haben, daß wir uns jetzt besser sehen als zuvor und also einander näher sind. Ein Vorläufiges ist es, auch wenn Sie nicht antworten wollen; ich habe über dieses Allgemeine und über Ihre Bücher im besondern noch mehr und allerlei Gutes zu sagen. Ich wünsche, daß wir einander so nahekommen mögen, als es sein kann, und grüße Sie herzlich.
1912
1 Theorie der reinen und politischen Ökonomie. Ein Lehr und Lesebuch für Studierende und Gebildete. Berlin 1910. Der Staat (Band 14, 15 der Sammlung sozialpsychologischer Monographien: Die Gesellschaft). Frankfurt an M.
Arbeitselig
Die Wörter der Sprache haben alle außer ihrer groben Bedeutung noch feinere Beimischungen, Schattierungen, die Begleitgefühle ausdrücken, von der Lust über die Neutralität bis zu den verschiedenen Gestalten der Unlust. So wie in einer und der nämlichen Zeit eines Volkes verschiedene Schichten der Kultur neben und über einander gelagert sind, so gibt es in gleichzeitiger Geltung noch feinere Differenzen, die in voller Wirksamkeit da sind, wiewohl die Menschen ohne ausdrücklichen Hinweis nicht darauf achten. In dem Worte »Heim« zum Beispiel, das schon anfängt aus der alltäglichen Sprache zu verschwinden und »poetisch« zu werden, steckt im Zusammenhang mit dieser Subtilisation die Nuance nicht mehr der gewohnten Lust und des Behagens, sondern schon der Ungewöhnung und Sehnsucht, die uns seltsam erklärt wird, wenn wir darauf achten, wie in »Heimarbeit« das Wort »Heim« etwas Schlimmes, Armes, Entbehrungsreiches ausdrückt. Dieses Wortes Nuance sagt nicht etwa, daß das traute Heim durch die Anwesenheit der Arbeit um Anmut, Wohnlichkeit, heitere Ruhe gebracht werde, sondern umgekehrt, daß die sonst erträgliche, annehmbare Arbeit dadurch, daß sie im Heim geschehe, schlimm und gefahrvoll werde. Wer auf das Verwehende und die feineren Beziehungen achtet, der erfährt dadurch an empfindlicherer Stelle der Seele, was ihn freilich auch die groben sichtbaren Tatsachen lehren können: daß das Heim in diesen Zeiten manchem eine schöne Wirklichkeit, allen manchmal eine dem Vergangenheitsheimweh verwandte Sehnsucht, Teilen der arbeitenden Klassen eine Plage und ein Notstand ist.
Wie ist's mit der Arbeit? Das Wort ist heute neutral und erst in der Anwendung, im Satze, ergibt sich, welcher Unterton mitschwingt. Da sind's freilich arg verschiedene Dinge, ob etwa der Künstler oder Organisator nach Mißhelligkeiten im Hause oder nach trüben Erfahrungen mit Freunden sich zusammennimmt, die Muskeln spannt und in ernster Befriedigung sagt: Ich hab' meine Arbeit; oder ob der Fabrikarbeiter sich den paar Minuten, die er morgens mit Frau und Kindern zusammensein kann, mit den Worten entreißt: Ich muß zur Arbeit.
Das Wort »Arbeit« hat im Mittelhochdeutschen mehr als heute den Begleitsinn des Schweren, der Plackerei und Mühsal gehabt, so wie auch das lateinische Wort labor mehr Mühe als Tätigkeit ausdrückt; die Nuance der Plage ist im deutschen Fremdwort »laborieren« erhalten und bezeichnenderweise heißt französisch »labourer« nicht allgemein arbeiten, sondern nur auf dem Acker arbeiten und überdies: geplagt sein. Die Arbeiten des Herkules sind seine Mühen und Plagen mehr als seine Leistungen; Arbeit ist eine Prüfung. Für Schaffen, Fertigmachen, Leisten, Produzieren hat die alte deutsche Sprache andere Ausdrücke, die uns wieder ins Dichterische und Feierliche gesteigert sind oder gleichzeitig nur noch spezielle Anwendung finden, wie z.B. Wirken und Werken, Werk. Das ganze Mittelalter in all seinen Wendungen lernen wir kennen, wenn wir den Wortstamm »froh« betrachten. Der Fro ist zunächst der Herr, sowohl der Herrgott (Fronleichnam = Leib des Herrn), wie der gnädige Herr, der Adlige, der Milde, der Freigebige. Froh ist dann die Stimmung des Herrn, und auch Freude ist zunächst das Gefühl der Herrlichkeit. Heute frönt man einem Laster, denkt aber nicht daran, daß damit dem Laster wie einem Herrn gehuldigt wird, obwohl wir auch diese Wendung haben: dem Laster huldigen. Diese Huldigung ist Anerkennung der Dienstbarkeit, und so ist die schlimmste Form der mittelalterlichen Arbeit, die einer nicht für sich, sondern für andere tut, die Herrenarbeit, die darum Fron heißt, wiewohl sie nur den Empfänger, nicht den Arbeiter froh machen kann. Haben wir in dem Wort die Kirche, den Feudalismus, die Freude und die Arbeit, so fehlt auch das letzte Element nicht, damit wir das ganze Mittelalter mit dem kleinen Wortstamm erwecken können: die Frau. Denn die frouwe oder Frau ist gar nichts anderes als die Genossin oder Vertreterin des fro, die Herrin.
Ist Arbeit für den mittelalterlichen Menschen mehr der Ausdruck für Mühsal als für uns heute, so ist es um so erstaunlicher und zu allerlei Nachdenklichkeit anregend, daß diese mittelhochdeutsche Sprache trotzdem ein Wort hat, das unserer Sprache, wie unserer Kultur verlorengegangen ist, das Wort arbeitsälig. Es heißt freilich auch, so wie unser mühselig, das von Mühsal kommt, in steter Not lebend, geplagt; -sal in solchen Wörtern wie Trübsal, Mühsal dürfte dasselbe Wort sein, das wir in Geselle, Gesellschaft haben und wird so etwas wie Versammlung, Vereinigung bedeuten. Daß Saelde von diesem Sal, daß also das Wort für Glück und Heil von dem Ausdruck für Gemeinschaft, Genossenschaft, Gesellschaft komme, soll nicht behauptet werden, wiewohl auch hier ein Ausblick ist, der uns zu Stille und Besinnung einladet: Arbeitsaelec, arbeitsälig jedenfalls hat diese ganz zweierlei Bedeutung: gesammelte, das heißt gehäufte Plage erduldend, aber daneben wird einer im Anschluß an den noch erhaltenen Sinn des Wortes selig, das keineswegs von Seele, sondern von Saelde, Glück, Heil, Segen stammt, ein arbeitsäliger Mann genannt, wenn er bei harter Arbeit beglückt, trotz Plage freudig, in seinem Werk, durch seine Mühe froh ist.
Was kann man den Menschen unserer Zeit Besseres wünschen, als daß solche Arbeitseligkeit zu ihnen kommen möge, daß Fron und froh, Arbeit und Freude und herrenmäßiger Stolz in einer neuen Art verwandt und vereint werden mögen ? Und ist es für uns, für unsere Besten, nicht bald so geworden, daß sie ihre Freude, ihr bestes und erlesenes Glück nicht in der Gesellschaft, nicht an der Arbeitsstätte, nicht in der Versammlung finden, sondern in der Einsamkeit. Und wie wenige wissen, daß diese Einsamkeit Sammlung ist, und daß sie, wenn sie allein und in sich versenkt und konzentriert sind, zwar die Gesellschaft der Zeitgenossen fliehen, aber je mehr sie in sich einkehren, um so mehr im tiefsten Kern des Individuums die Sammlung aller Zeiten, das Volk und die Menschheit als Wesen in sich finden ? Wie wenigen ist der Gedanke und die Tat vertraut, daß all solche Versunkenheit und Heimkehr nicht das Letzte, sondern nur ein erster Akt sein darf, damit aus der Gemeinschaft, die jeder in sich findet, die Gemeinschaft werde, die wir als versammelte Gesammelte untereinander zu gründen haben.
Sind wir Arbeitselige, so nur dann, wenn eines jeden Arbeit ihm Verantwortung, Selbständigkeit, Intelligenz und Organisation bedeutet. Die Massenhaftigkeit und das Zusammenarbeiten Tausender kann nur so zur Freude werden, daß aus der Saelde die Gesellschaft, aus der Konzentration die Gemeinschaft und wieder aus der Gemeinschaft das Wohl und Heil des einzelnen entspringt.
Da ist noch an ein andres Wort zu denken: Spiel. Heute sind das Gegensätze: Arbeit und Spiel. Spielen aber heißt tummeln, sich bewegen, Leibesübungen machen, und als Jahn ein Wort für die Gymnastik suchte, hätte er ebenso wohl auf Spielen wie auf Turnen verfallen können. Arbeitselig werden die Menschen, wenn es nicht nur ein freies Spiel der Maschinen, zum Beispiel der von ihrer flinken Bewegung so genannten Spindeln oder Spillen gibt, sondern wieder die Arbeit ein Spiel und ein Sport, eine lustvolle Bewegung wird, die in der zweckmäßigen Herstellung der Güter zugleich Selbstzweck, ein nerviges Leben im Muskelspiel ist. Arbeitsälig werden wir sein, wenn auch diese Saelde zu uns kommt, daß wir im Spiel Gesellte, daß wir Gespielen in unserer Wirtschaftsarbeit und Arbeitsgemeinde sind. Gespielen nannte man einstmals ein Liebespaar; und heitere Liebe wird walten, wo Arbeit, Spiel, Selbständigkeit und Gemeinschaft den Menschen eine Seligkeit sind. Einstweilen werden wir arbeitsälig sein müssen, noch auf lange hinaus, in dem andern Sinne: daß unser Mühen und Kämpfen uns froh macht, daß wir in Gefahren und im Kampf gegen jeglichen Druck die Straffheit und die gesammelte Energie haben, deren Begleitgefühl immer die Freude ist. Wir wandern zwischen den Zeiten: erkennen und vollbringen wir die Aufgabe des Berufs, der uns geworden ist: Mühselige in mehr als einem Sinne zu sein.
1912
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1913
Peter Kropotkin (Auszug)
Im Anschluß an seinen Lebensgang ist bisher in großen Zügen das Wesen Peter Kropotkins geschildert worden. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß den Leitfaden zu dieser Darstellung Kropotkins eigene Lebenserinnerungen bilden mußten, die im Jahre 1900 unter dem Titel »Memoiren eines Revolutionärs« in zwei Bänden deutsch erschienen und seitdem öfter aufgelegt worden sind. Das ist eines der wundervollen Bücher Kropotkins, in denen die gefestigte Stille eines überlegenen Geistes alle Unruhe und allen Wirrwarr des Lebens bewältigt zu haben scheint. Alles, was der Erzähler innerlich erlebt und äußerlich treibt, ist in die Zeit, ihre Zustände, Bestrebungen und Spaltungen hinein verflochten; immer wird uns vom Dasein der eigenen Person des Verfassers nur das mitgeteilt, was zur öffentlichen Wirklichkeit gehört, nie haben wir, wie sonst so oft in Memoiren, den Eindruck, es werde die Zeit als Spiegel benutzt, in dem sich die Eitelkeit wohlgefällig betrachtet. Dabei steigert sich die Erzählung immer wieder zu spannenden, bald liebenswürdig heiteren, bald erschütternd aufregenden Episoden. Abschnitte, wie sein Erlebnis mit den jüdischen Schmugglern, die ihm die revolutionären Schriften, die er aus der Schweiz mitgebracht hatte, über die Grenze brachten, darf man nicht aus zweiter Hand kennenlernen; das muß man sich von ihm selbst erzählen lassen. Aber was einem nachdenklichen Leser bei solchen Erlebnissen Kropotkins auffällt und einfällt, diese Randbemerkungen sollen wohl mitgeteilt werden. Da hat Peter Kropotkin die Ehrlichkeit der gewerbsmäßigen jüdischen Grenzschmuggler kennengelernt und ergötzlich geschildert. Und überall in seinem Leben, wo er in mehreren Ländern mit den kleinen Leuten aus dem Volk zu tun hatte, gleichviel ob es Bauern, Industriearbeiter oder Heimarbeiter waren, hat er Hilfsbereitschaft, Güte, natürliche Liebenswürdigkeit gefunden. Es waltet da ein seltsames Verhältnis der Gegenseitigkeit zwischen innerem Wesen und äußeren Begegnungen, zwischen Charakter und Schicksal. Schließlich, wenn man in ein gewisses Alter kommt, wo die Illusionen und Gärungen schwinden, geht es doch jeglichem Menschen so, daß er nicht eigentlich mehr ein Mißverhältnis zwischen dem, was ihm von außen zustößt, und seiner inneren Natur findet: der Sehnsucht und des Unerfüllten, des Leids und der Entbehrung, des Verzichtes und der Entsagung bleibt wahrlich genug, und selbst wenn es nach dem Goethewort kommt: Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle, liegt darin noch Enttäuschung und Hohn genug: denn warum ist der Jugendkraft der schmerzliche Wunsch, der Erfüllung aber das Alter beigegeben worden ? Trotz alledem indessen: sind wir erst reif, ist es uns nicht mehr so, als sei eine unausfüllbare Kluft zwischen unsrer Bestimmung und unserm Los, vielmehr dürfen wir uns zu der Einsicht bekennen, daß - nehmt alles nur in allem - was uns von außen her fehlt, ein gar nicht übles Bild unsrer eignen Fehler, und was uns zuteil wird, der Ausdruck unsres Wesens ist. Ein höchst übler Spruch des Materialismus lautet: Der Mensch ist, was er ißt; eine bessere Wahrheit wäre zu sagen, daß der Gott, der uns unser Teil zumißt, solange wir leben, seinen Sitz in unsrer eignen Brust aufgeschlagen hat. Daß für uns dieses Eine, das unser Leben heißt, in diese scheinbar so völlig getrennten Zwei auseinander gefallen ist: die äußere Welt einerseits, die da Zufall der Geburt, des Vermögens, der Freunde und Angehörigen, des Berufs, der Zeitereignisse, des Wetters, der Krankheiten und Unfälle, der Begegnungen mit Menschen heißt, und unser inneres Wesen andrerseits, Charakter, Naturell, Temperament, Begabung, Neigung, Organisation oder wie man es nennen will, und daß doch, wenn's zum Schlusse kommt, all unser Leben so wird, daß wir, befriedigt oder gramzerfressen, ausrufen dürfen: mea culpa oder meum opus! meine Schuld oder mein Werk, und daß als nochmalige Steigerung aber dann noch dazukommt, daß das kleine Individuum sich an diesem seinem eigenen Wesen unschuldig fühlt und Schuld oder Verdienst für seine Anlage und Spannkraft wieder dem Weltganzen zuschreiben muß, - dieses Hin und Her, diese Verflochtenheit, diese Identität und doch Nichtidentität des unendlich Kleinen mit dem unendlich Großen macht das Wesen aller Tragik und aller Komik des Menschenlebens aus.
Wenden wir diese Betrachtung, die zu einem Bereich gehört, in dem man sich schon bewegt haben muß, um es recht zu ermessen, auf unsern Fall an, so ist zu sagen: Da ist Peter Kropotkin, der mit seinen Augen überall, wo er ursprünglichen Menschenschlag am Werke sah, Freundlichkeit, Güte, gegenseitige Verbindung gesehen hat. Und nun ist die Frage, die ich nicht zum erstenmal stelle: erwächst seine Theorie und Propaganda des Kommunismus und Anarchismus, der gegenseitigen Hilfe, die die Freiheit ermöglicht und der Freiheit bedarf, aus seinen Erlebnissen, die ihm von außen kamen, und hätte er etwa, wenn ihm nur lauter Haß, Widerwärtigkeit und Gemeinheit begegnet wären, eine Theorie des Hasses, des Kampfes aller gegen alle, der Menschenverachtung begründet? Das, wenn die Frage in dieser krassen Form gestellt wird, ist gleich zu erledigen. Oh, Haß, Wut, Verfolgung, Niedertracht hat er ja in allen Ländern, in denen er lebte, gegen sich und Nahestehende genug kennen gelernt. Aber war nicht seine eigene Natur so, daß er alle Gewalttat und Häßlichkeit auf Anerzogenes, auf Umstände und Bedingungen, alles Milde und Liebevolle aber auf die Selbstverständlichkeit der Natur zurückführen mußte ? Da erlebt er zum Beispiel, als nicht unmittelbar Beteiligter, die in ihren Einzelheiten grauenhafte Ermordung Alexanders II. durch die Männer des Exekutivkomitees. Die einen hätten dabei die entsetzliche Grausamkeit des Schicksals dieses unbeschränkten Selbstherrschers, die andern die heroische, vom Ideal geleitete Aufopferung der Terroristen vor allem gesehen. Worauf verweilte Kropotkins Auge ? Auf Emelianow!
Wer ist Emelianow? Hören wir den seltsamen Bericht aus Kropotkins eigener Feder: »Dort lag Alexander II. auf dem Schnee, von seiner ganzen Begleitung im Stich gelassen. Alle waren verschwunden. Nur ein paar Kadetten, die von der Parade zurückkehrten, hoben den sterbenden Zaren auf, legten ihn auf einen Schlitten und breiteten einen Kadettenmantel über den zuckenden Körper. Und mit ihnen eilte einer der Terroristen, Emelianow, mit einer in Papier gewickelten Bombe unter dem Arm, auf den Verwundeten zu, um ihm beizustehn ...«
Hier haben wir den Gegensatz klar und erschütternd heraus gearbeitet, in einer Anekdote, die ein Musterbeispiel für das ist, was man Tragikomik oder tragische Ironie nennt. Für einen Zuschauer, der hart und gleichmütig bleiben könnte, böte der Anblick des Terroristen, der eben ermorden wollte und nun, mit dem oberflächlich eingepackten Mordwerkzeug unter dem Arm, zu Hilfe und Rettung herbeieilt, etwas zum Lachen. Wer schneller denkt, tiefer blickt, besser das nur scheinbar Unvereinbare als dasselbe und nämliche erkennt, wird gewiß nicht mehr lachen können. Wie viele solcher Gegensätze, die uns Menschen zu Theorien des Kampfes ohne Ende oder zur Praxis des Geschehenlassens und Lachens bringen, liegen nur obenauf. In Wahrheit sind ja aber die Umstände im Leben unsrer Zeit so verworren und verheddert, daß es ein und die nämliche Regung der Liebe und Gegenseitigkeit war, die Emelianow zuerst zu der gesellschaftlichen Aktion des Zarenmords und dann zu der natürlichen Tat der Bruderhilfe trieb. Die gesellschaftliche Aktion ist untrennbar verbunden mit geschichtlich gewordenem Unrechtsgegensatz, mit Gedanken und Systemen, mit Vergänglichem, mit den besonderen Bedingungen der Nation, der Klasse, der Theorie; die natürliche Tat erwächst aus den unvergänglichen Zügen und Trieben des Menschenherzens. Der besondere Blick Kropotkins ist nun: durch all die Verwirrungen der zeitlich bedingten Gegensätzlichkeiten hindurch das Urwesen des Menschen als Verbundenheit und Gegenseitigkeit zu entdecken.
So ist für Kropotkin das Äußere, das er erlebt und gewahrt, das ihm das reiche Material zur Begründung seiner Anschauungen schafft, untrennbar verbunden mit seiner besonderen Menschenart, nur daß Kropotkin uns lehrt, daß diese seine Besonderheit das echte allgemeine Menschenwesen ist, das alle in sich tragen, so sehr es auch von Zeit und Umständen überwuchert sein mag.
Und so beantwortet sich schließlich die Frage nach der subjektiven Herkunft seiner objektiven Erkenntnisse mit der uralten Weisheit, der Goethe die Fassung gegeben hat: »Wär nicht das Auge sonnenhaft, Wie könnte es das Licht erblicken ?« Darum dürfen wir aber nicht fragen, was »zuerst« war: das Auge oder die Sonne? die Menschennatur oder ihr Erlebnis?, sondern wir haben zu erkennen, daß die Form, in der uns die Beziehung von Geist und Welt, von Innerem und Äußerem gegeben ist, eben der Schein der Wechselwirkung ist.
Etwas andres aber ist noch zu betrachten. Wir sehen, wie Kropotkin alles Unrecht und Gewalttat, geschehen sie von oben oder von unten, auf zeitliche, gesellschaftliche Umstände zurückführt, während er die uralte Menschennatur als von all diesen Trübungen unberührt erkennt. Das nämliche hat Leo Tolstoi erkannt; das meint er mit seinen Worten: Das Himmelreich ist in euch. Der Gott, den er kündet, das ist das tiefste Weltwesen, wie wir es in unserm besten Grunde, wenn wir nur Umstände und Lüge der Zeitbedingungen abstreifen, vorfinden.
So weit sind Tolstoi und Kropotkin im wesentlichen einig. Der Ausdruck zwar, den ihre Erkenntnis findet, ist sehr verschieden: spricht Tolstoi in der Sprache der Philosophie und Religion, so redet Kropotkin naturwissenschaftlich; beide indessen wieder schlicht, klar, mit dem Streben nach unmittelbarem Verständnis ohne das Kauderwelsch gelehrter oder theologischer Terminologie. Und doch deutet schon die verschiedene Sprache der beiden darauf hin, daß die Folgerungen, die sie an ihre Erkenntnis anschließen, weit auseinander klaffen müssen.
Kropotkin sieht in der Menschennatur ursprüngliche, auch im Tierreich durchgängig waltende Gemeinschaft, Zusammengehörigkeit, Gegenseitigkeit. Er sieht, daß die Aktionen aller wirtschaftlich und politisch Unterdrückten die Hindernisse entfernen wollen, die diese ursprüngliche, echte Natur nicht zur Entfaltung kommen lassen; daß sie Zustände herstellen wollen, die dieser guten Anlage entsprechen. Er stellt sich als ein Lebendiger und Teilnehmender hinein in den Gegensatz zwischen Herren und Knechten, erkennt die Wege der Knechte als solche, die geschichtlich notwendig sind und nicht anders sein können, und wie er innerlich teilnimmt, schließt er sich ihren Kämpfen in den verschiedenen Gestalten an, sofern sie nur dem Ziel der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu streben. Kropotkin ist einer, der die Leiden und Qualen aufs tiefste mitfühlt, der die Echtheit guter Menschenart viel mehr in den Unterdrückten als in den Herren gewahrt und dem äußeren Ziel, den gerechten Zuständen, zusammen mit den Unterdrückten im Kampfe zustrebt.
Tolstoi aber scheint zu sagen: jawohl, in den Armen ist mehr Güte, sie sind Gott näher. Auf die äußeren Verhältnisse kommt nicht so viel an, und ihr Menschen denkt viel zu viel an die Umgebung, an die Zukunft, an die andern; viel zu viel ist euch Mittel und Ziel getrennt, als ob es ein Ende dieses Wegs gäbe. Viel zu sehr denkt ihr, zum herrlichen Ziel seien auch die bedenklichen Mittel recht. Aber es gibt ja für uns nur den Augenblick; opfert doch nicht die Wirklichkeit der Chimäre! Wollt ihr das rechte Leben, so lebt es eben jetzt; schwer wird's immer sein. Ihr sucht es draußen, in der Zukunft; und um der herrlichen Zukunft willen erfüllt ihr die Gegenwart mit Scheußlichkeiten. Ihr habt nicht damit angefangen, sagt ihr Revolutionäre? Was liegt daran? Wer hat denn überhaupt je angefangen? Ist es nicht wichtiger, daß jeder einzelne jeden Augenblick aufhören, aus dem Unrecht ausscheiden kann? Und sollte einmal fürs Ganze, für die Massen, für Volk und Völker die Herrlichkeit, das Reich Gottes auf Erden kommen, kann es anders kommen als so: daß man gleich beginnt, das Rechte zu tun ? Wenn man erst dazu entschlossen ist, ist nichts leichter, in jeder Lage; nur der Entschluß ist schwer. Wer da immer handelt auf Grund der Zeitbedingungen, der setzt diese Umstände des Unrechts fort; gleichviel ob er von unten nach oben oder von oben nach unten mit Gewalttat drückt; nur wer auf Grund der unverderbten Menschennatur handelt, der tut das Rechte. Und je weniger er sich darum kümmert, ob's Wert hat und ob's die andern ihm nachmachen, um so besser wird's sein, für sein Gewissen, für die Nachfolge, für die Wandlung des Zeitgeists.
Es ist hier absichtlich die religiöse Sprechweise Tolstois vermieden worden, wie er es übrigens selbst, gerade in seiner letzten Zeit, manchmal getan hat. Vieles bei Tolstoi ist Sprache und wird von solchen, die eine andre Sprache reden, besser verstanden, wenn man's in ihre übersetzt. Und so wird, glaube ich, zu verstehen sein, worin Tolstoi und Kropotkin entscheidend auseinander gehen. Tolstoi trägt das Absolute ins Leben hinein; Kropotkin ist Positivist und also Relativist und zieht die revolutionäre, auch Gewalttat, wenn's sein muß, nicht scheuende, Auflehnung der Unterdrückten der Fügsamkeit vor.
Hier sollte der Gegensatz dargestellt werden; den Fragen, die er enthält, soll nicht ausgewichen werden; aber sie sollen in anderm Zusammenhang behandelt werden.
Kropotkin bringt, wie aus seinem Buch über die russische Literatur hervorgeht und wie ich auch aus privaten Gesprächen weiß, Tolstoi die innigste Verehrung entgegen. Die russische Form des Hineinragens des Absoluten in unser irdisches Leben versteht er; sonst darf gesagt werden, daß das Organ für die Sprache der Philosophie, Religion und Mystik bei ihm nur schwach entwickelt ist. In seiner neuesten Schrift, der neuen, zunächst nur englisch vorliegenden Ausgabe von »Moderne Wissenschaft und Anarchismus« sind die Stellen, die von Philosophen handeln, ganz unbeträchtlichen Inhalts, und aus Mangel an Vertrautheit mit dem Gegenstand deckt er Anmerkungen mit seinem Namen, die aus der deutschen Ausgabe übernommen und besser gemeint als geraten sind. Wahrhaft erschreckend aber ist, wie er sich in dem Werk »Ideale und Wirklichkeiten in der russischen Literatur« zum Beispiel über Dostojewskij äußert. Da hat er seine Grenze überschritten. Seine Größe ist, daß er den Menschen im Grunde einfach sieht, und daß er dieses Eine hinter allen Verwirrungen entdeckt. Dostojewskijs Größe ist sein Blick für das Verworrene und Vielfältige, aus dem heraus er inbrünstig nach dem Schlichten und Einfachen begehrt. Wenn Kropotkin die Emelianow-Episode berichtet, weiß er nur die fast hilflos staunenden und doch ganz einfach begreifenden Worte hinzuzufügen: »Welche Kontraste birgt doch die menschliche Natur!« Was aber hätte Dostojewskij aus diesem echten Dostojewskijstoff gemacht! Der Bombenattentäter, der seinem Opfer zu Hilfe eilt, wäre nicht mehr einfach begriffen, simplifiziert worden, sondern er hätte in all seiner Zwiespältigkeit und Unreife, mit aufgedeckter, wunder Seele vor uns gelebt.
Ist Dostojewskij einer, der uns durch Peinigung und Höllenpsychologie hindurch zur himmlischen Einfalt geleitet, die er so meisterhaft zu gestalten vermag, wie nur je ein Dichter seiner Sehnsucht Leib und Seele verliehen hat, so besitzt Kropotkin solche Einfachheit als Eigentum.
1912/13
Die preußischen Wahlen
Vor zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren hatte sich in der Sozialdemokratie die »Opposition« gebildet, aus der dann später die »Jungen« und bald die »Unabhängigen« hervorgingen. Sie kämpften hauptsächlich gegen die Wahlbeteiligung, aber mit einer unverkennbaren Abstufung: für die Reichstagswahlen hatten sie immerhin noch etwas übrig: streng dachten sie über die Beteiligung an den Wahlen zum preußischen Landtag; und ihre ganze Wut und Verachtung schütteten sie über die aus, die Gemeindewahlen mitmachten. Das erklärte sich aus ihrem Standpunkt; sie hielten sich ganz abseits von sämtlichen Einrichtungen der Gegenwart, wollten lediglich die Revolution betreiben und betrachteten Parlamente und Wahlen höchstens als Gelegenheit zur Agitation.
Aber auch von diesem Ausgangspunkt aus wäre ich geneigt, die politischen Einrichtungen unserer Gesellschaft in der umgekehrten Reihenfolge einzuschätzen. Jene Oppositionellen waren doktrinäre Marxisten, die am liebsten über die Auslegung gewisser Worte ihres Meisters stritten, denen aber Neigung und Begabung fehlte, sowohl sich an vorhandene Wirklichkeiten anzuschließen, wie neue Wirklichkeiten zu schaffen. So wäre ihnen der folgende Gedankengang ganz fremd gewesen.
In der Gemeinde handelt es sich um Straßen, Brücken, Kanalisation, Wasserleitung, Gas- und Elektrizitätswerke, Schulen und so weiter, um wirkliche Angelegenheiten der Gemeinschaft. Wie viel den Gemeinden an Selbstverwaltung und Freiheit genommen ist, wie ungleich die Rechte der Bürger verteilt sind, braucht nicht erst gesagt zu werden. Trotz all diesen Beschränkungen und Entstellungen jedoch ist die Gemeinde gerade die öffentliche Wirklichkeit, wo es sich am wenigsten um Politik und Vergewaltigung, am meisten um das Leben der Gesellschaft handelt. Der Sozialist also kann nicht leugnen, daß hier eine Form und ein Inhalt ist, der sich lebendig von der Vergangenheit speist und in die Zukunft wächst. Dessen ist ein mehr äußerliches Zeichen, daß erstens auch bei uns in Deutschland, wie noch viel mehr in Rußland, gewisse Formen des Gemeinbesitzes und der Gemeinwirtschaft in Dorfgemeinden und Landstädten noch erhalten sind, wenn auch meist in Verkümmerung (Gemeindewald mit Holzrechten, Gemeindeäcker, Gemeindeweide und ähnliche Reste), daß zweitens gewisse neuere Einrichtungen unserer Gemeinden wie von der Gemeinde verwaltete Wasserleitung, Gas- und Elektrizitätswerk und so weiter in andern Ländern, wo diese Dinge der kapitalistischen Privatwirtschaft überlassen sind, sozialistische Forderungen sind. Der Föderalist oder Anarchist wiederum wird ebenfalls seine ganze Liebe der Gemeinde zuwenden, wie sein Haß dem Zentralstaat gilt. Und drittens schließlich kennt er neben der kapitalistischen Ausbeutung der notwendigen Bedürfnisse und der Zentralgewalt als blödem und niederträchtigem Surrogat des Gemeindegeistes noch einen weiteren schlimmen Schädling, der ebenfalls trotz allen erbärmlich komischen Anläufen in der Gemeinde nie recht Wurzel fassen kann: die Partei. Die Gemeinde ist die Brücke, die das Gedankengebilde unsres Ideals mit der Geschichte verbindet; und noch viel mehr, als es bisher geschehen ist, werden die Neubildungen, die wir vorhaben, an die Gemeinde anknüpfen müssen.
Es müßte nun zunächst von kleineren Kommunalverbänden, Zweckverbänden, Kreisen und Provinzen gesprochen werden, um auch hier aufzuzeigen, daß es sich in diesen Organisationen, so sehr sie der Staat beengt und verfälscht, doch um Dinge handelt, die natürlich, notwendig, menschlich sind, die der Gesellschaftsmensch von je betrieben hat und immer betreiben wird. Örtliche Nachbarschaft wird immer zur Zusammenlegung von Interessen, zu gemeinsamen Unternehmungen, zu gegenseitiger Rücksicht und zu Stammesgefühlen führen.
Wenn das nun alles von unten nach oben wüchse, wenn oben nur das gesammelt wäre, was von unten hergegeben wird, dann wäre es gut und dann könnte es mit der Steigerung zu noch umfassenderen Verbänden freudig und nützlich weitergehen. Aber wer weiß nicht, wie es im Gegenteil ist! Die Gemeinden und ihre Verbände sind nur kümmerliche Reste, die in einem jahrtausendjährigen Kampf immer noch nicht umgebracht werden konnten, im Kampf gegen ihre Feinde, die Herren! Nicht umsonst ist in vielen Sprachen der Name für die Gemeinen, das gemeine Volk nämlich, und die Gemeinden der nämliche. Es hat einmal einen Indianerstamm am Mississippi gegeben, der hat keinen besonderen Namen für den Adel gehabt; die Adligen oder Häuptlinge, das waren eben die wahren Menschen. Sich selbst aber, das gemeine Volk, nannten sie die Stinker; und so war das alte Verhältnis, wie es bei allen Völkern besteht, nur in umgekehrter Benennung da: dort die wenigen, die einer besonderen Rasse angehören, die blaues Blut haben, die Adligen; hier die Massen des gemeinen und stinkenden Volkes. Die Menschen sind nämlich nicht so dumm, daß sie nicht wüßten, wie sie sich von unten nach oben organisieren sollten; sie wissen ganz gut, daß sie lauter einzelne Individuen sind und daß es neben dieser ungeheuren und natürlichen Trennung nur noch zwei andere gibt, die wahre Wirklichkeit haben, nämlich die Trennung in Mann und Frau und in Erwachsene und Kinder, und daß diese beiden Trennungen in der herrlichsten Gemeinschaft, die die Gesellschaft aus der Natur heraus aufgebaut hat, zugleich erhalten und aufgehoben sind: in der Familie. Überdies aber sind die Menschen nach Recht und Anspruch Gleiche; und sie wissen es wohl und könnten sich zu ihren Zwecken der Gemeinsamkeit gar leicht über Familie, Berufsverband und Gemeinde hinaus weitere Bünde schaffen, wenn nur ihre Vernunft nicht von ihrer Kraft ab hinge. Die Menschen benehmen sich dumm, obwohl sie es nicht sind; schwach und feige sind sie. Daß der Staat sich von oben über die Gemeinen wälzt, geschieht zugunsten der Inhaber des Staates, der Adligen oder Privilegierten, die man heute nicht mehr bloß an dem Wörtchen »von« erkennt. Diesen modernen Adel, der, ob er sich zwar genauso vererbt wie ein Vermögen, doch kein bloßer Erbadel ist, erkennt man weder an der Gestalt, noch am Blut, noch am adligen Duft, sondern daran, daß er sich genau umgekehrt verhält, als es der Definition der Eigenschaft »Adel« entspricht. Was demnach »Adel« wäre, erfahren wir in folgenden Worten eines alten Lexikons: »Adel ist die Eigenschaft des Gemüts, nach welcher der Mensch, sich selbst vergessend, dem Wohle Anderer lebt, oder überhaupt sein physisches Wohl der Pflichtidee opfert.« Nach der vorgeschriebenen Umkehrung wissen wir jetzt also genau, wie die Herren, Adligen oder Privilegierten beschaffen sind, denen und deren Staat wir unsere Gemeinfreiheit und Gemeindeselbständigkeit zum Opfer bringen:
»Adel ist die Klasse der Gemütlosen und Unmenschen, die, nur an sich denkend, von der Arbeit und dem Unglück anderer lebt, oder überhaupt deren physisches Wohl ihrer Pflichtvergessenheit opfert.«
Die Natur ist nicht für uns Menschen geschaffen worden, und so können sich nur Abergläubische wundern oder beschweren, wenn das Wetter sich nicht nach den Wünschen oder Gebeten der Menschen richtet. Unsre menschlichen Einrichtungen aber sind von Menschen für Menschen geschaffen worden und doch geht es da toller zu als in dem Mißverhältnis zwischen dem Landwirt und der großen Natur mit deren Sonne, Regen und Wind der kleine Schlaumeier doch noch immer irgendwie zu recht kommt. In unsrer eignen Gesellschaft aber haben wir es so eingerichtet, daß alles Wasser von unten nach oben dunstet, daß ein beträchtlicher Teil aber nicht wieder zurückkommt, sondern die Mühlen der faulenzenden Götter treibt.
Aus diesem Zusammenhang ergibt sich, warum wir, wenn wir von den Gemeinden über Kreise und Provinzen nach oben steigen, immer mehr von der Wirklichkeit und Sachgerechtigkeit abkommen und uns in Politik, Partei, Gewalt und Unrecht verirren. Gewiß gibt es auch im Landtag, immer noch mehr als im Reichstag, Aufgaben der Kultur zu erfüllen; und gewiß könnte man sich einen Landtag von Gemeindedelegierten denken, der dem Gemeinsamen und Gerechten dient. Und gewiß könnte man, zum Entsetzen aller Entwurzelten, ferner sagen, daß das elende Landtagswahlrecht immer noch eher eine Spur Ähnlichkeit mit einer rechten Delegation hat wie das erbärmlichste aller Wahlsysteme, wie das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht zum Reichstag! Denn für den sozialistischen Landtag wird die Wahl allgemein sein; sie wird ungleich sein und wird indirekt sein, weil die Provinzen, Kreise und Gemeinden, die ungleich sind, ihre Mandatare entsenden; und sie wird öffentlich sein. Es werden Urwählerversammlungen in Öffentlichkeit tagen, wo nicht bloß gewählt, sondern beschlossen wird; es werden dann die erkorenen Wahlmänner zusammentreten und ihren Boten ihre festen Beschlüsse mit auf den Weg geben; diese werden sich mit ihnen und dem organisierten Volk in beständiger Verbindung halten; und wenn sie nicht tun, was ihres Amtes ist, werden sie heimgerufen und durch andere ersetzt.
Vor etwas über drei Jahren sollte eine Bewegung zur »Eroberung« des würdelosen und zentralistisch-atomistischen Reichstagswahlrechts durch das preußische Volk gehen und man nahm es dem »Sozialist« damals übel, als er schrieb: »Das Höchste, wozu sie es bringen können, ist eine Drohung, die nicht ernstgenommen wird.« Wie aber ist es gekommen ? Seit Jahrzehnten hat Preußen keine so flaue, apathische Wahlbewegung gehabt, und was jetzt ins Abgeordnetenhaus zurückkehrt, ist »dieselbe Couleur in Grün«. Es ist, wie der »Sozialist« damals schrieb: »Von einem festen Willen der Massen, der gegliederten Massen, von einem von bestimmtem Wissen getragenen Willen ist nicht die Rede. Wäre es der Fall, dann ginge man an das Tun und den Aufbau des Rechten, an etwas, das besser wäre als bloße Drohung mit Massengeschrei und blinde Massengewalt«.
1913
Vor fünfundzwanzig Jahren. Zum Regierungsjubiläum Wilhelms II.
Daemon: Erbt denn der Geist nicht fort?
Schlafender König: Das möcht ich von allen Erbfolgen am ersten bezweifeln.
Bettine von Arnim
Was für ein Tag in der Woche der fünfzehnte Juni vor fünfundzwanzig Jahren war, weiß ich nicht mehr; die Zeitungen, deren Gedächtnis besser ist, weil sie es nicht im Kopf, sondern in Makulatur haben, werden wohl auch das in den Gedenkartikeln dieser Tage feststellen. Aber daß er nicht, wie in diesem Jahr, ein Sonntag war, weiß ich; denn ich saß auf der Schulbank der Prima, kurze Zeit vor dem Abiturium, als zwischen 11 und 12 Uhr mit einemmal alle Glocken der Stadt zu läuten anfingen. Ich verstand gleich, was das bedeutete, und sah den Professor auffordernd an; er aber in philologischem Eifer verstand nicht oder wollte nicht verstehen und nörgelte weiter an Sophokles oder Plato herum, bis der Schuldiener die Tür aufriß und uns in die Aula rief, wo dann der Direktor den Schülern aller Klassen mit den unerläßlichen patriotischen Wendungen mitteilte, Kaiser Friedrich sei gestorben.
Wenige Monate vorher übrigens war ich auf dem Podium dieser nämlichen Aula gestanden und hatte, als Siebzehnjähriger, selber Patriotismus getobt. Die Großherzogin Luise nämlich hatte für unser Gymnasium schon Jahre vorher eine Stiftung gemacht: Schüler der Prima, soweit ihre vorher einzureichenden Manuskripte genehmigt wurden, durften alljährlich über ein vaterländisches Thema eine Rede halten und bekamen dann eine silberne Denkmünze mit dem Bildnis Fichtes; wer aber preisgekrönt wurde, erhielt die Münze in Gold und dazu noch Fichtes Reden an die deutsche Nation, welche die Großherzogin und ihre Ratgeber gewiß nie gelesen oder verstanden hatten. Diese Veranstaltung wurde Fichte-Akt genannt; und im Zeichen Fichtes hielt ich denn eine Rede über Friedrich Barbarossa, in der ich im schwarzrotgoldenen Geiste und unter feierlicher Anrufung des bei allen Schulmännern verpöntesten aller Dichter, Heinrich Heines nämlich, Vaterland, Einheit des Reiches und Revolution in eine überaus pathetische Gemeinschaft mit dem alten Staufenkaiser brachte. Ich bekam denn auch im schnödesten Tone vor versammeltem Publikum eine scharfe Zurechtweisung von seiten des Direktors, einen mitleidigen Händedruck des guten Mathematikprofessors und unter allerlei Vorbehalten die silberne Denkmünze; meine Mutter bewahrt sie noch auf; ich habe den von der Großherzogin geprägten Kopf Fichtes zu keiner Zeit bei mir haben wollen.
Noch etwas vorher hatte ich eine persönliche Begegnung mit eben dieser Landesmutter gehabt, und da das das einzige Mal in meinem Leben gewesen ist, daß ich mit einem gekrönten Kopf persönlich zu tun hatte, sei heute bei Gelegenheit des Jubiläums des Neffen von meinem Erlebnis mit der Tante erzählt. Unser Gymnasium feierte damals auch ein Jubiläum, nämlich sein dreihundertjähriges Bestehen, und wir Primaner führten den Philoktet des Sophokles in deutscher Sprache auf. Ich war erst ein paar Wochen vorher aus dem Realgymnasium in diese Anstalt übergetreten und hatte, ganz abgesehen von den Qualen der Langeweile, die mir die Schule bereitete, schon aus diesem äußeren Grunde keinen Anlaß mitzujubeln, da ich kaum Lehrer und Mitschüler kannte und durch nichts mit der Schule verwachsen war; aber ich wirkte doch bei der Aufführung als einer der Chorführer mit. Nachher wurden wir dem Großherzogspaar vorgestellt; die Oberprimaner ihm, wir Unterprimaner ihr. Die Art, wie Monarchen solche huldvolle Ansprachen rundum erledigen, kennt man heute aus dem »Feldherrnhügel« ; ich habe sie im siebzehnten Lebensjahr kennen gelernt. Die Großherzogin, deren preußischer Akzent mir auffiel, fragte sehr schnell jeden etwas und wandte sich, während einer seine Antwort vorbrachte, an den nächsten. So hatte sie meinen Vordermann nach Professor B. gefragt, der vor kurzem mit Tod abgegangen war, und wandte sich nun zu mir: »Und Sie haben auch den Unterricht des Professors B. genossen? Ehe ich noch erklären konnte, warum das nicht möglich war, da ich ja bisher einer andern Schule angehört hatte, nahm mir der Direktor diese Verneinung ab: »Nein, das ist noch ein ganz junger Schüler.« Worauf die Königliche Hoheit staunend an mir hinaufsah und die geflügelten Worte sprach: »Ach, und schon so groß!« Ich verbeugte mich, um das Lachen zu verbeißen, was indessen nicht nötig war, da sie schon mit dem nächsten sprach.
Solche Erlebnisse und alles, was mit der Schule zusammenhing, waren in meinem wachsenden Erleben nur Episoden. Die Schule nahm mir zwar mit den Hausarbeiten täglich sieben bis acht Stunden weg, aber sie bedeutete mir, Ausnahmen abgerechnet, nur eine Abwechslung von nervöser Gespanntheit und Erschlaffung und einen ungeheuerlichen Diebstahl an meiner Zeit, meiner Freiheit, meinen Träumen und meinem auf eigenes Erforschen und Versuchen gerichteten Tatendrang. Da ich auch sonst vereinsamt genug war, kamen mir Buben meine eigentlichen Erlebnisse alle vom Theater, der Musik und vor allem den Büchern. Um diese Zeit herum war es durch die billigen Reclambücher Henrik Ibsen, der einen ungeheuren Eindruck auf mich machte und mich und all die romantische Sehnsucht meines Herzens der gegenwärtigen Wirklichkeit zuwandten Lechzendes, Reinheit, Schönheit und Erfüllung Begehrendes war in mir gewesen und hatte in Richard Wagner Nahrung gefunden, dessen Musikdramen ich, so oft es nur ging, von meinem fünfzehnten Jahre an auf dem Juchhe, wie bei uns der vierte Rang oder Olymp hieß, in Mottls prachtvoller Wiedergabe mit Wonne einschlürfte. Je mehr dieser Zaubertrank aber wirkte, um so mehr zog ich mich scheu geradezu schon vom Anblick der schnöden Wirklichkeit zurück. Ibsen war es, der in dem Knaben, der ich war, aus dem Traum von der Schönheit die Lust zur Verwirklichung machte, der mich mit faszinierender Gewalt zwang, die reale Grundlage, die Gesellschaft und ihre Häßlichkeit nicht zu ignorieren, sondern zu gewahren und zu kritisieren und ihr den Aufruhr und Kampf des einzelnen entgegenzustellen. Vom Sozialismus verstand ich damals noch nichts und hatte keine Ahnung von national-ökonomischen Problemen; was mich in Gegensatz zu der umgebenden Gesellschaft und in Traum und Empörung brachte, war keine Klassenzugehörigkeit und kein soziales Mitgefühl, sondern das unausgesetzte Anstoßen romantischer Sehnsucht an engen Philisterschranken. So kam es, daß ich, ohne es so zu benennen, ein Anarchist war, ehe ich ein Sozialist wurde, und daß ich einer der wenigen bin, die nicht den Weg über die Sozialdemokratie genommen haben. Ibsen bekam zudem sehr bald Gesellschaft an Friedrich Nietzsche, vor allem durch den Zarathustra. Manches darin berührte mich wohl hauptsächlich so innig und stark durch die Erschütterung des Dichters über sein geistiges Erleben; ich lebte schon lange in den Philosophen und hatte schon als Gymnasiast Schopenhauer und Spinoza gelesen; nun begegnete mir einer, in dem nicht das Denken sich rein und klar über gärend dumpfes Fühlen erhoben hatte, sondern Denken und Gefühl so miteinander verbunden waren, daß alle Liebessehnsucht und Inbrunst wie einer Geliebten der Idee gewidmet schienen. Da war Lyrik, farbiger Reichtum der Sprache, üppige Bildkraft der Rede, Marschrhythmus und Tanz, Hingegebenheit und Überschwang, Wonne und Qual, - und all dieses tierhaft schöne und brünstige Werben ging um die Idee. Dazu aber doch wieder, wie bei Ibsen die Wendung zur Wirklichkeit hin: es lag Aktivität in diesem geistigen Ringen, und es sollte geschaffen und gestaltet und vernichtet und umgeworfen werden.
Aus dieser Geschichte meiner Jugend, von der ich hier auf den grundlegenden Teil, mein eigenes Wesen auf Grund von Erbe, Konstitution und persönlichem Erleben im Haus und mit Freunden nicht eingehe, sondern nur einige entscheidende Einflüsse von außen erwähne, erklärt es sich, daß mein Verhältnis zu den fünfundzwanzig Jahren Zeitgeschichte, die jetzt abgelaufen sind, so seltsam aus Unbeteiligung und Dabeisein gemischt ist. Ich bin allzufrüh mit Ekel gegen das Ganze gefüttert worden, als daß ich Entrüstung oder Haß gegen das Einzelne aufbringen könnte. Unter einem Künstler versteht man in dieser unsrer Zeit einen Menschen, der Gesichte hat, in dem Bilder und Rhythmen eigener Weltordnung leben, der diese innere Welt aus sich heraus zu Gestalten formt und aus Phantasie und Schöpferkraft eine neue vorbildliche, seine eigene Welt schafft; einen Menschen, der dann diese Gebilde, die so seinem Innern entstiegen sind, wie Pallas Athene aus Jupiters Haupt, gleich einem italienischen Gipsfigurenhändler in einen Korb packt, mit ihnen resolut in die andere Welt, die gemeine Wirklichkeit zurückkehrt, und die Gestalten des Traums und heiliger Sehnsucht feilschend, hausierend und erpressend, Reklame machend und jede Gelegenheit schlau abpassend und berechnend an eben die nämlichen Menschen verkauft, die in seinem schaffenden Dasein höchstens als Kobolde und Karikaturen vor kommen. Meine Mischung aus Unbeteiligung und Dabeisein ist eine andere als die des Künstlers unserer Zeit: ich möchte zu meinem Teil dazu helfen, aus dem Stoff der Wirklichkeit selbst ein Gebilde zu schaffen; eine Gesellschaft und ein Volk herzustellen, wo die Kunst mehr der Ausdruck der Gemeinschaft und die Verklärung und phantastische Umformung der Wirklichkeit wäre als die Sehnsucht der Verlassenen.
Obwohl es zum Memoirenschreiben noch etwas zu früh ist, da es mir zwar nicht an Erlebnissen, wohl aber noch an der rückschauenden Haltung fehlt, habe ich mir erlaubt, aus Anlaß des Regierungsjubiläums Wilhelms II. von mir selber zu reden und mir einen bescheidenen Fackelzug darzubringen. Wilhelm II. nämlich geht mich nichts an, und wenn ich versuche, ihn in diese letzten fünfundzwanzig Jahre deutschen Volkes hineinzustellen, so gewahre ich kaum etwas anderes, als daß er der Vater der Simplicissimus-Stimmung des deutschen Volkes ist. Das ist ein Geist der über ihren eigenen tatlosen Ärger vergnüglichen Resignation; der Geist der in der Tasche geballten Faust; der Geist, der aus dem deutschen Volk neugierig lungerndes Theaterpublikum gemacht hat, das dem Schauspiel »Deutsches Reich« machtlos zusieht. Ein Geist, der wenig zu tun hat mit dem prachtvollen Simplicissimus-Motto Grimmelshausens: »Es hat mir so wollen behagen, lachend die Wahrheit zu sagen«, weil dem Lachen unsrer Zeit jede Produktivität und jede Reinheit abgeht. Darum war der Höhepunkt dieser fünfundzwanzig Jahre Regierung der November 1908, wo zwei Tage lang im Reichstag die Abgeordneten aller Parteien gegen Wilhelm II. Gericht geübt haben, wo alle Parteien einmütig darin waren, daß der Kaiser Deutschland ernsthaft geschädigt habe und wo von den Vertretern einer Mehrheit Worte äußerster Bitterkeit, des Spottes, der kaum verhüllten Anspielungen gesprochen wurden und durch gewisse Betonungen stürmische Heiterkeit des ganzen Hauses erregt wurde, bis dann der Kanzler nach Potsdam fuhr und eine Art Versprechen mitbrachte. Das war ein Anlauf, war eine Kleinigkeit, war aber etwas. Wir wären etwas weniger Publikum und Gefolge und etwas mehr Volk, wenn in diesen Tagen die einzelnen sich darauf besännen, daß es für jeden nur einen einzigen Monarchen geben kann: der eigene Mensch in seinem Innern, der ihn zu seiner Bestimmung ruft und der noch viel herrischer das Regiment an sich reißen muß, wenn es mit uns besser werden soll.
1913
Von der Siedlung. Gespräch eines Siedlungsfreundes mit einem unwahrscheinlichen Gegner.
Gegner: Eine Siedlung! Mitten im Kapitalismus! Ehe die organisierte Massenbewegung des Proletariats den Sieg errungen hat! Glaubt ihr denn wirklich, dem Kapital ein Schnippchen schlagen zu können?
Freund: Was du Kapital nennst, ist zusammengesetzt aus viererlei: erstens dem Boden und der Naturkraft, zweitens der menschlichen Arbeit und ihren Produkten, drittens der Gegenseitigkeit zwischen den Menschen oder dem Kredit und viertens dem Aberglauben. Wenn du zugibst, daß wir den Aberglauben, den du wohl noch hegst, zu teilen nicht verpflichtet sind, könntest du weiter einsehen, daß wir kräftigen und willigen Menschen Arbeitskraft und Kredit zwischen uns haben, daß uns also zum Beginn nur der Boden und solche Arbeitserzeugnisse fehlen, die als Werkzeug, Wohnung oder sonstiges Inventar nötig sind.
Gegner: Ja, und da gilt, was Most gesagt hat: »Erst muß man den Blutegeln der Welt Salz auf die Schwänze streuen, auf daß sie wiedergeben, was sie geschluckt; hernach kann man kommunistisch wirtschaften.«
Freund: Sehr drastisch gesagt und für einen, der nicht nachdenkt, verführerisch. In Wahrheit aber streut man den Blutegeln nicht darum Salz auf, weil man haben will, was sie geschluckt haben, sondern damit sie nach vollzogener Entleerung von neuem Blut saugen können! Und so ist es noch jedesmal gekommen, wenn die geistlose Gewalt bloß Vorhandenes genommen hat, anstatt Neues zu bauen: es wurde von neuem und mit neuen Mitteln Blut gesogen. Allerdings: der Boden, der von Menschen nicht geschaffen werden kann, die Natur muß der arbeitenden Menschheit zurückerobert werden.
Gegner: Und wie wollt ihr sie erobern ? Durch mönchische Weltflucht?
Freund: Durch unsre vorbildliche Arbeit. Wir wollen, wenn's sein muß unter Verzicht und Entbehrungen, unter Verzicht auf vielerlei Überflüssiges, zeigen, daß der Sozialismus nicht bloß eine Idee für irgendeine Zukunft, sondern eine Wirklichkeit in jeder Gegenwart ist, wo Menschen in Gegenseitigkeit für gemeinsamen Bedarf wirtschaften.
Gegner: Verzicht? Ja, auf Zivilisation, Fortschritt, Technik wollt ihr verzichten. Wollt aufs Land gehen und wißt nicht, daß mit dem dauernden Landleben und seinem Idiotismus unerträgliche Langeweile verbunden ist!
Freund: Nein, das wissen wir wirklich nicht. Aber was für eine lästerliche Art des Fühlens und Denkens der proletarische Klassenkampf in der »revolutionären Arbeiterbewegung« der Industriestädte züchtet, das erfahre ich soeben von dir.
Gegner: Wir sind, wie wir sind. Glaubst du, die Arbeitslosen der Großstädte würden euch geruhsam euren Kohl bauen lassen? Sie würden euch förmlich überschwemmen, und ihr müßtet sie mit Nahrung und Kleidung versorgen.
Freund: Nun weiß ich wenigstens, wo deine Genossen, so wie du sie beurteilst, die Expropriation beginnen würden. In der Tat, solche Beispiele gibt es. Die Frage ist bloß, ob wir's uns gefallen ließen.
Gegner: Aha, so sieht eure Freiheit und Brüderlichkeit aus! Ihr wollt Arbeitszwang üben! Wollt gewaltsam exmittieren! Da werdet ihr also auch feste Normen des Zusammenlebens haben, was? Das heißt nichts andres als Gesetze und Regierung!
Freund: Fluch über eure Lehrer und Schmeichler, die in euch den pfuscherhaftesten Dilettantismus großziehen und euch Beifall spenden, wenn ihr nur Wörter fressen und Wörter von euch geben könnt! Ihr wißt ja nicht, was Ordnung in Freiheit heißt! Ihr wißt nur, was Aufruhr gegen die Unfreiheit heißt! Ihr wißt nicht, was Bund und freiwillige Einordnung ist. Wißt nicht, daß Knute, Disziplin, Gewalt, Staat und Regierung nur durch euch aufrechterhalten werden, durch euren Mangel an positiven, Ordnung in Freiheit schaffenden, schöpferisch-sozialen Kräften! Wenn ich dir nun gar noch sagen werde, daß wir von Stund ab sparen wollen, um zu den Anfangskosten beisteuern zu können, wirst du erst recht Zeter Mordio schreien.
Gegner: Beisteuern! Also Steuern wollt ihr einführen?
Freund: Ich hab's ja gesagt. Gesetzt den Fall, man würde wirklich in den abgelegenen Gegenden des flachen Landes durch längeren Aufenthalt idiotisch, - gestattet mir zum Schluß, denn ich habe nun genug von dir, eine Frage: In welcher Gegend hast du dich denn in der letzten Zeit aufgehalten?
Nachwort: Dem Verfasser dieses kurzen Gesprächfragments dürfte man gewiß mit großem Recht vorwerfen, er habe sich seine Sache dadurch viel zu leicht gemacht, daß er den Gegner lauter abgedroschene, längst widerlegte, geradezu alberne Dinge sagen ließ. Er wird aber wohl genügend entschuldigt sein, wenn darauf hingewiesen wird, daß der unwahrscheinliche Gegner, der so trostlos in seinen Großstadtproletarismus verbohrt ist, daß ihn kein auf Reputation haltender Polemiker hätte erfinden dürfen, ein wirklicher, sozusagen lebender Gegner ist. Alle wesentlichen Wendungen, die ihm in den Mund gelegt sind, stammen wörtlich aus einem Artikel, den »DER PIONIER«, das Organ der deutschen syndikalistischen Bewegung, in seiner Nummer 33 vom 13. August unter dem Titel »Ein Experiment auf die Utopie« veröffentlicht! Einen solchen Gegner zu erfinden, um seinen eigenen Gründen den Sieg leicht zu machen, wäre schamlos; mit einem wirklichen Gegner dieses Schlages sich einzulassen, ist immerhin genierlich, weswegen hier auch nur eine kleine Probe gegeben werden sollte. Der Leser dürfte begreifen und selbst gewünscht haben, daß das Gespräch mit diesem Gegner schroff abgebrochen wurde. Wir haben über Frage der Siedlung und des Beginns eine ernstere, tiefer gehende und fruchtbarere Aussprache zu pflegen, womit demnächst der Beginn gemacht werden soll.
1913
Sind das Ketzergedanken?
Ein Kennzeichen unserer Zeit ist, daß vieles im Geiste, aber wenig in Wirklichkeit fertig wird. Vielleicht entspricht sogar dem Mangel an tatsächlicher Durchsetzung eine besondere Regsamkeit des Geistes, der fortwährend darauf aus ist, seine eigenen Gestaltungen, ohne daß sie die Form der Phantasie und der Doktrin verlassen, zu überwinden. Man könnte sich eine also beschaffene Gesellschaft der Menschen denken, daß die Ideen in ihr Werkzeugcharakter hätten, d.h. daß sie wie ein Spaten oder ein Fahrzeug nur im Gebrauch Sinn und Leben hätten und auch nur durch die Anwendung sich abnutzen könnten. Bei uns haben die Ideen die Art nicht von dienenden Werkzeugen, sondern von Gestalten eines Dramas, das sich in der Luft abspielt: die Ideen wandeln sich, bekämpfen einander, bringen einander und sich selber um, setzen natürliche und unnatürliche Kinder in die Welt, und derweile liegt die Wirklichkeit stumpf und geistlos da und kommt nicht von der Stelle. Fast unser gesamtes Parteiwesen ist eine solche dramatische, meist tragikomische Fata Morgana als Ersatz wirklicher Lebensdramatik.
Man betrachte einmal z.B. die Geschichte des Sozialismus von diesem Standpunkt aus. Ist es nicht die Geschichte einer mit lebhaften Fiebergesichten verbundenen Gelähmtheit ? Fast die einzige Wirklichkeit, die in dieser langen Geschichte zu gewahren ist, ist die sogenannte soziale Gesetzgebung, das Arbeiterschutz- und Versicherungswesen, das der Realpolitiker Bismarck begann. Die Untätigkeit aber im Lager der eigentlichen Sozialisten ist so stark, und die Hemmungen, die sie vor allem in sich selber vorfinden, sind so gewaltig, daß eine eigene Theorie, die Entwicklungslehre der Marxisten, erfunden werden mußte, damit die Idee sich selber und ihr eigenes Scheinleben ertrug. Hier waltet ein Verhängnis über unserer Zeit. Die Ideen, die in den Einzelnen entstehen, sind sozialer Natur, d.h. es ersteht ein Plan im Geist eines Individuums, der sich aber nur durchführen läßt, ja der erst Blut und Nerv gewinnt durch die Beteiligung vieler am Beginn. Da kommt Theodor Hertzka oder Silvio Gesell oder Franz Oppenheimer oder Josef Popper nach intensivem Miterleben unserer drückenden und beschämenden Zustände, und jeder von einem andern Erleben, Denken und Wünschen her sagt schlicht, klar, eingehend, was zu tun, gleich jetzt zu tun sei. Aber sie haben in die Luft gesprochen, und ihr ganzer Erfolg wäre etwa, daß ihre Anhänger einander gegenseitig totreden.
Möglich, daß dieser Zustand eine Blüte starker Kunst herbeiführt. Denn produktiv geladene Naturen, die solche Vereinsamung erleben, mögen schließlich erkennen, daß der Gegensatz zwischen der individuellen Form und dem sozialen Inhalt ihrer Idee die Schuld an dem tragischen Mißverhältnis trägt. Schöpferisch und aktiv wie sie sind, mag ihnen nichts übrigbleiben, als in ihre Idee die Erfüllung mit hineinzunehmen und also allein in der Phantasie zu vollbringen, was in Wirklichkeit nur die vereinte Kraft stark Fortgerissener tun könnte.
Ich glaube zu gewahren, daß auch die Idee der Erneuerung des Judentums keinen andern Gang geht als diesen. Noch ist nicht der kleinste Anfang einer Verwirklichung da, und schon nimmt der Parteienkampf alles vorweg, was irgend an Wirklichkeiten aufeinander folgen könnte. Man nehme alle Parteien, die es in irgendwelchen Nationen gibt, und sehe zu, ob die jüdische Nation, die noch gar keine äußere Gestalt hat, nicht noch ein paar mehr hat als sie alle zusammengenommen. Kennzeichnend für das, was hier Partei genannt wird, ist eine Art masturbierende Selbstbefriedigung der sogenannten Bewegung in sich selbst; die Partei ist wie ein Binnensee, in den die Idee eingeströmt ist, aus dem sie aber nicht wieder hervorkommt. Die Aktivität der Idee verwandelt sich so in die unpsychologische und lieblos verketzernde Unduldsamkeit der Partei. Haben nun die andern Nationen wenigstens das Scheingebilde ihres Staates, so daß sich die Politik, der Schein der Wirklichkeit, aus all dem Streit der Unfruchtbarkeit ergibt, so geht der Schemenkampf der sich selbst verzehrenden jüdischen Ideologie in noch dünnerer Luft vor sich: es wird um Auffassungen, um ein unendlich variables und variiertes »Wenn ...« gestritten. Welches soll die Sprache sein, wenn wir in Zion sind? Welches werden die gemeinsamen Sitten und Bräuche sein? Ich zweifle nicht, daß schon irgendwo untersucht worden ist, ob die Schweinezucht zulässig sein wird.
Dazu kommt noch ein sehr Wichtiges. Je stärker wir uns unserer jüdischen Nationalität bewußt werden, um so mehr werden wir uns ihrer als einer Tatsächlichkeit bewußt, die erst dann volles, schönes, strömendes und all unser Wesen erfüllendes Leben hat, wenn wir es nicht mehr nötig haben, sie mit dem Bewußtsein zu halten und zu umklammern. Die starke Betonung der eigenen Nationalität, auch wenn sie nicht in Chauvinismus ausartet, ist Schwäche. Schreibt ein Deutscher über die Romantik oder den Sozialismus oder die Erhaltung der Energie, so schreibt er eben über die Romantik oder den Sozialismus oder die Erhaltung der Energie. Der bewußte Jude schreibt über Romantik und Judentum, über Sozialismus und Judentum, über die Erhaltung der Energie und das Judentum und auch noch über das Radium und das Judentum. Aber auch hier geht der Kreislauf der Idee, im Geiste verharrend, ohne eine Verwirklichung äußerer Art auch nur zu berühren, rasch vor sich. Schon sind wir dieser unausgesetzten Betonung dessen, was nur wahr und wertvoll ist, wenn es selbstverständlich ist, müde. Schon erkennen wir, daß unser Judentum zu den Dingen göttlichen Unwissens gehört, von denen Meister Eckhart sagt: »Der Mensch ist, das muß wahr sein, ein Tier, ein Affe, ein Tor, solange er im Unwissen verharrt. Das Wissen aber soll sich formen zu einer Überform, und dies Unwissen soll nicht vom Nichtwissen kommen, vielmehr: vom Wissen soll man in ein Unwissen kommen. Dann sollen wir wissend werden des göttlichen Unwissens, und dann wird unser Unwissen geadelt und geziert mit dem übernatürlichen Wissen!« Uns allen war es Bereicherung und Erhöhung und Befestigung unserer Tatsächlichkeit, als wir anfingen, mit vollem Bewußtsein Juden zu sein. Aber jetzt sind wir es so sehr, daß wir wissen: wir sind es in jeder geistigen und seelischen Regung und Tätigkeit, und sind es dann am wenigsten, wenn wir das Judentum für sich allein betonen. Nation ist eine Bereitschaft oder Disposition, die dürr und hohl und klappernd wird, wenn sie ohne Verbindung mit der Sachwirklichkeit, mit Aufgaben und Arbeiten auftritt und wenn sie anderes ist als deren Ursprung und Tönung.
Noch mehr also kommt dazu. Keiner, der eine Aufgabe in sich spürt, die ihm die Frage, wozu er lebe, erspart, vermag es, in suspenso zu leben. Man wirkt aus dem Grunde seiner Nationalität heraus für eine Sache, die wohl verschiedene Verzweigungen und Benennungen hat, aber in aller Vielfältigkeit die Sache der Menschheit ist, die zur Wirklichkeit werden soll. Wiewohl für diesen Kampf und Aufbau all das gilt, was eben über die Selbstverzehrung der Idee gesagt worden ist, gibt es doch eine Schar von solchen, die sich bereit halten und als Zusammengehörige fühlen. Nicht nur, daß sie aus allen Nationen kommen und sich eins und neu fühlen; zu wenig gesagt; sie fühlen sich so durch das Band des Geistes verbunden und von denen, die nicht mitgehen, getrennt, wie wenn sie eine neue Nation wären. Und sie nehmen das Beste, was sie von ihrer alten Nationalität fühlen, mit in diese neue auf. In jedem Volk sind heute entscheidende Trennungen zwischen den Vielen und den Wenigen; und dieser Riß geht durchs Judentum wie durch die andern Völker. In der neuen Nation, die im Werden ist, sind freilich eine überwiegend große Zahl Juden; aber diese Juden fühlen sich als Einheit, als einen Bund, der seinen Beruf an der Menschheit zu erfüllen hat; und je mehr sie das in sich spüren, um so mehr ist für sie Zion schon lebendig. Denn was anders ist die Nation, als ein Bund solcher, die von verbindendem Geist geeint in sich eine besondere Aufgabe für die Menschheit spüren? Nation sein heißt ein Amt haben.
Was da geschildert wird, ist ein neues Gebilde, etwas wie eine werdende Nation, die sich als neue Gemeinschaft zum Aufbauen der Anfänge einer gerechten, einer schöpferische Kräfte entfesselnden freien Gesellschaft empörerisch allen alten Nationalstaaten, dynastischen Staaten, Unrechts und Gewaltstaaten entgegenwirft. Sie, die so das Werdende in sich spüren und das Schaffende aus sich loslassen wollen, sind bewußt Abgesonderte, die all das uralt heilige Gut der individuell nationalen Organisation ihrer Leiblichkeit und Geistigkeit in den Dienst ihrer vorbildlichen Arbeit an der Menschheit stellen, die durch die Wirklichkeit werden soll. Die Bewußtheit und Betonung dieser, dieser erst werdenden Nation ergibt sich als immer frische Notwendigkeit, weil hier erst aus dem Geiste eine Wirklichkeit wachsen soll. Wir Juden nun, die wir geworden werdende Juden sind, können da nicht zweierlei und Getrenntes in uns finden; die neu werdende Als-ob-Nation, von der hier gesprochen wird, und das, was uns eint, wenn wir aussprechen wollen, was wir als Juden sind, das beides ist ein und dasselbe. Wir haben uns abgetrennt und finden uns beisammen; der Dienst an der Menschheit treibt uns, und unser Geist lechzt, mehr und anderes zu werden als Geist: Gesellschaft, Volk, Körperschaft, Organismus. So daß, je mehr wir unsere Nation aus der verborgenen Stille bloßer Tatsächlichkeit zu Worten des Willens und der Wandlung erheben, je mehr wir bewußte Juden werden, die unter Judentum unser Wesen verstehen, Judentum für uns zusammenfällt mit einer sachlichen Richtung einer Erfüllung zu. Je völliger und reiner und wirklichkeitsgesättigter wir dies unser Wesen und Drängen und Wissen und Bereiten aussprechen, um so zugehöriger werden sie aus allen Nationen zu uns stoßen und uns in liebevoller Gemeinschaft beibringen, daß das uralt Gewordene, das wir aus unserer Seele emporheben, der Weg der werdenden Menschheit ist, daß unserer gemarterten und sehnsuchtsvollen Herzen Tradition nichts anderes ist als die Revolution und Regeneration der Menschheit. Wie ein wilder Schrei über die Welt hin und wie eine kaum flüsternde Stimme in unserem Innersten sagt uns unabweisbar eine Stimme, daß der Jude nur zugleich mit der Menschheit erlöst werden kann und daß es ein und dasselbe ist: auf den Messias in Verbannung und Zerstreuung zu harren und der Messias der Völker zu sein.
Nation sein heißt ein Amt haben; und wo mein Amt ist, da ist mein Vaterland. Haben wir Abgesprengte als unser Judentum den Dienst an der Umwandlung der Gesellschaft, an der Begründung neuen Volkes und allererst neuer Menschheit entdeckt; haben wir gefunden, daß wir, im Suchen nach unserem inneren Wesen, der grenzenlosen und schrankensprengenden Erneuerung der Völker durch die Abstreifung oberflächlicher Gewaltbeziehungen und die Durchsetzung echter freudig-liebevoller Gemeinschaft begegnet sind; haben wir staunend und beglückt als das urältest in uns Versenkte nichts anderes als all die ungeheuer mächtigen und innigen Triebkräfte der Reinigung zum Licht gehoben, - wer, der so weit ist, wer also, der der Dumpfheit entronnen sich selbst vor Augen sieht und in der Hand hält als einen, der soll und will, wer wollte da nicht als den Ort seines Wirkens die Welt erkennen und als seine Welt die Gegenwart, in der es zu wirken gilt?
Kein rechter Mensch vermag es, sich nur als Brücke für kommende Geschlechter, als Vorbereitung, als Same und Dung zu wissen; er will selber etwas sein und leisten. Mag sein, daß die Muttersprache irgendwelcher aus meinen Lenden entsprossenen Nachkommen hebräisch sein wird; es rührt mich nicht; meine und meiner Kinder Sprache ist deutsch. Mein Judentum spüre ich in meiner Mimik, in meinem Gesichtsausdruck, meiner Haltung, meinem Aussehen, und so geben diese Zeichen mir die Gewißheit, daß es in allem lebt, was ich beginne und bin. Weitaus mehr aber - sofern es da ein Mehr gibt - als Chamisso der Franzose ein deutscher Dichter war, bin ich, der ich ein Jude bin, ein Deutscher. Deutscher Jude oder russischer Jude - diese Ausdrücke empfinde ich als schief, ebenso wie jüdischer Deutscher oder Russe. Ich weiß da von keinem Abhängigkeits- oder Adjektivitätsverhältnis; die Schickungen nehme und bin ich, wie sie sind, und mein Deutschtum und Judentum tun einander nichts zuleid und vieles zulieb. Wie zwei Brüder, ein Erstgeborener und ein Benjamin, von einer Mutter nicht in gleicher Art, aber im gleichen Maße geliebt werden, und wie diese beiden Brüder einträchtig miteinander leben, wo sie sich berühren und auch, wo jeder für sich seinen Weg geht, so erlebe ich dieses seltsame und vertraute Nebeneinander als ein Köstliches und kenne in diesem Verhältnis nichts Primäres oder Sekundäres. Ich habe nie das Bedürfnis gehabt, mich zu simplifizieren oder durch Verleugnung meiner selbst zu unifizieren; ich akzeptiere den Komplex, der ich bin, und hoffe noch vielfältiger eins zu sein als ich weiß.
Da ich aber jetzt lebe und wirke, also auch als Jude jetzt bin und tue, was zu tun mir obliegt, kann ich mich innerlich nicht auf eine Sache bereiten wollen, kann den Willen zu einer neuen Vorkehrung nicht in mir finden, die einen Teil meines Wesens auslöschen oder hemmen würde.
Andere sind anderer Herkunft und haben anderes zu beschreiben. Sie mögen es so aufrichtig tun, wie es hier geschehen ist. Noch wieder andere sind jetzt dabei, unsereins beibringen zu wollen, wir seien eine Halbheit und ein Mischlingsprodukt und müßten uns in Demut vor den östlichen Juden, den wahren Juden, beugen. Wer so geschwächt ist, daß er sich selber die Existenzberechtigung abzusprechen meint, soll nicht aufgehalten werden. Wir in unsrer Besonderheit und Vielfältigkeit werden unsre östlichen Brüder als ebenfalls, wennschon in anderen Abstufungen, Vielfältige erkennen. Russische oder polnische Juden gibt es nicht, wohl aber zumindest dreifach mit Nationalität Gespeiste: denn sie, die östlichen, sind Juden und sind Russen oder Polen oder Litauer und sind Deutsche eines besonderen Schlages (Mittelhochdeutsche, Jiddisch-Deutsche) zugleich. Trotz allen Verfolgungen und Entbehrungen fühlen sich die aus Rußland stammenden Juden, wenn sie bei uns wohnen, wie heimatlos und im Elend, nicht bloß und oft nicht in erster Linie, weil sie unter uns die ihnen gewohnten jüdischen Bräuche vermissen, sondern weil ihnen das russische Milieu, die spezifisch russische Güte und Weichheit fehlt; und wenn sie nicht die russische Zigarette und den Samowar und manche Einrichtung russischen Gemeinschaftslebens auch bei uns haben könnten, vermöchten sie es nicht bei uns auszuhalten.
Mag sein, daß eine Entwicklung kommt, die das Jüdische so um sich greifen läßt, daß unser Deutschtum, jenes Russentum erdrückt wird; mag sein, daß ein hebräisches Judentum kommt, das das jiddische vertilgt. Bloß - wer, der sich zu sich selbst bekennt, wer, der sich in all seiner Vielfältigkeit als eins und einmalig, als an seiner Stelle zum Dienst an der Menschheit berufen fühlt, kann es wünschen und herbeiführen wollen? Nur die Doktrinäre könnten es wollen; doktrinär ist, wer das Eine so für das All nimmt, daß er die andern Offenbarungen des Einen mißachtet und unterdrückt; wehrt sich aber nicht gerade, was wir jüdisch in uns finden, gegen die kalte Lieblosigkeit und das dumme Verstandestum des Doktrinarismus?
Nur Geworden-werdendes lebt; nur wer in seiner Gegenwart und Wirklichkeit Vergangenheit und Zukunft in eins begreift, nur wer sich selber, wie er wahrhaft und ganz ist, mitnimmt auf die Reise nach seinem gelobten Land, in dem nur scheint mir das Judentum ein lebendiges Gut zu sein. Die Nationen, die sich zu Staaten abgegrenzt haben, haben draußen Nachbarn, die ihre Feinde sind; die jüdische Nation hat die Nachbarn in der eigenen Brust; und tiefe Nachbargenossenschaft ist Friede und Einheit in jedem, der ein Ganzer ist und sich zu sich bekennt. Sollte das nicht ein Zeichen sein des Berufs, den das Judentum an der Menschheit, in der Menschheit zu erfüllen hat?
1913
Zum Beilis-Prozeß
Man macht Forschungsreisen ins Innere Asiens, Afrikas, zu den fernsten Inseln im Stillen Ozean und beschreibt gut und getreu die Sitten und Gebräuche sogenannter Wilder und Barbaren. Keine herzlosere Barbarei aber kenne ich als die, die von Gelehrten und Publizisten aller europäischen Völker gegen die mitten unter ihnen wohnenden Juden begangen wird. In Polen und Rußland wohnen sechs bis sieben Millionen Juden beisammen, deren Vorfahren im Mittelalter aus Deutschland eingewandert sind. Unsre Sprachforscher beschreiben jeden alemannischen, bayrischen, niedersächsischen Lokaldialekt, gehen aber achtlos an einer Sprache vorbei, die uns mindestens ebenso wie die Schweizersprache die Herrlichkeiten des mittelhochdeutschen Sprachgutes in Fülle bewahrt hat. Sie tun es, weil das gemeine Vorurteil gegen den Juden in ihren Gelehrtenherzen noch stärker ist als der wissenschaftliche Trieb; weil es für sie nichts Verächtlicheres gibt als den Jargon oder das Mauscheln. Es gibt Wörterbücher und wissenschaftliche Abhandlungen über die Sprache der Zigeuner, der Kunden, der Verbrecher, die alle nicht von Zigeunern und Kunden und Verbrechern und auch nicht von ihren Freunden oder in ihrem Auftrag, sondern von Gelehrten geschrieben sind; wenn aber nicht die Juden selbst angefangen hätten, ihre eigene Sprache zu erforschen und ihre Volkslieder zu sammeln, wäre dieses Gebiet der Wissenschaft noch heute unbekannter als die weiß gelassenen Stellen auf den Landkarten.
Dies ist ein Beispiel für die ganz allgemein geltende Tatsache: daß man vom wirklichen Leben, von den Sitten und Bräuchen der Juden nichts weiß und nichts wissen will. Ist es denn erhört und gibt es dafür irgend noch ein Beispiel, daß die Juden mitten unter anderen Völkern leben, daß es aber über ihr Leben, das ganz offen zutage liegt und sich gar nicht verbirgt, trotzdem nur Gerüchte gibt?
Wenn ein Missionar uns in einem Forschungsbericht erzählte, im Innern Afrikas lebe ein Volk von hunderttausend Seelen, das ein kleines Völkchen von etwa fünftausend Köpfen in einer gedrückten Stellung unter sich dulde, ab und zu aber schlachte eine Gemeinde der armseligen fünftausend ein Kind der hunderttausend und trinke sein Blut am Altar seines Götzen - würde man solchem abenteuerlichen Bericht ohne weiteres glauben?
Das Religionsleben der Juden kann jeder kennenlernen, der sich darum bemüht und sich den jüdischen Gemeinden in menschlicher Achtung nähert. Er wird hinter allerlei zäh festgehaltenen äußeren Bräuchen, die alle auf Entsagung und Einschränkung hinauslaufen und nur dem etwas zumuten, der sich an sie hält, als Wesentliches finden, daß in dieser Religion das Vertretungssystem des Priestertums, das in seiner antiken Form völlig verschwand, nicht eigentlich wieder aufkommen konnte, daß die Heiligung des Menschen und die Verbindung mit dem Unnennbaren und Himmlischen wirklich die ganze Gemeinde und den einzelnen im Schoß seiner Familie ergriffen hat. Ich will hier mit Absicht nicht von dem reden, was ich in mir selbst und meinesgleichen als unaustilgbare Züge jüdisch-nationalen Geistes vorfinde, und was sich von der Überlieferung des Konfessionellen und damit auch der Sitte losgemacht hat, sondern von den Sitten, Bräuchen und Lebensführungen in den Gemeinden, in denen die mosaische Konfession lebendig ist. Wenn ich in einem kleinen deutschen Dörfchen, dessen Bewohner mit Pflügen, Hacken, Dungfahren ihr Leben verbringen, aus der Mitte der kleinen Häuschen, die alle aus Backsteinen gebaut und weiß verputzt sind, auf der höchsten Stelle des Geländes eine weite romanische Kirche aus jahrhundertelang leuchtendem rotem Sandstein emporragen sehe, wenn ich im Innern ein hohes Gewölbe, Säulen, Bildwerke und Weihrauch finde, da denke ich nicht bloß an Aberglauben und Irrtum, sondern ich empfinde das Große, das die Sehnsucht und Gestaltung des Ewigen, das das Überschwengliche sich in diesem Dörfchen angesiedelt hat. Dann höre ich die Litaneien der Priester und sehe die dumpfe Untätigkeit der alten Weibchen und Greise, die ohne eigene Erhebung dabei sind. Bei den Juden, wo es sich um echte, unverderbte Gemeinden handelt, gibt es diese Trennung in Priester und Laien nicht. Vor Beginn seines Alltagslebens und mitten hinein in sein oft schmutziges Gewerbe stellt der fromme Jude die Viertelstunden, wo er alles Irdische abbricht und sich seinem Gotte zuwendet. In der »Schule«, wie man bei diesen Juden statt des Fremdwortes Synagoge sagt, ist es einheitlich und geschlossen die Gemeinde, die sich in Zerknirschung und Erhebung dem Heiligen zuwendet. Nirgends finde ich eine so das ganze Volk erfassende und bindende Selbständigkeit der Gesamtheit in der Sehnsucht nach Reinigung. Ich spreche von den echten Judengemeinden, nicht von denen, die unter dem Einfluß der Priestervertretung und der Sonntagsfeier des heutigen Christentums sich trivial modernisiert und die Weihe des Werktags abgewöhnt haben. Ich spreche von eben den Judengemeinden, denen man in allen Ländern immer wieder ab und zu nachsagt, sie büken Blut geschlachteter Christenkinder ins Osterbrot und äßen es auf! Da gilt immer, heute für Rußland, wie früher für westeuropäische Länder, was in dem vorerst vorletzten Ritualmordprozeß in Deutschland 1891 vor dem Schwurgericht in Cleve der Staatsanwalt gesagt hat: »Nicht weil es sich um einen Juden handelt, ist die Sache unaufgeklärt, sondern weil die Sache unklar ist, deshalb hat man zu einem Juden gegriffen.« Zu dem Juden, weil eine aus Aberglauben, Scheu, Furcht und Verachtung gemischte Verfassung das Wirtsvolk abhält, ihn zu kennen. Und weil diese noch immer ungeschwächt währende Verfassung der Unkenntnis von denen, die das Regiment führen, immerzu genährt und zur Ablenkung benutzt wird.
In wie ekelhafter Weise der zarisch-bürokratische Korruptionsstaat in Rußland diese Mischung aus Haß, Verachtung und Furcht, diese Unwissenheit ausnutzt, wissen wir und sehen es jetzt wieder. Mir aber sinkt die Feder, wenn ich an deutschen Geist appellieren will, der sich gegen diese Bestialität auflehnen soll. Diese Dinge sind auch in Deutschland heute noch möglich, weil auch in Deutschland selbst unter den Allerbesten die Eigenschaft des Jüdischen nicht natürlich erkannt und nicht so natürlich genommen wird, wie jede andere geistig-nationelle Differenzierung.
Judentum ist so wenig Schachergeist, wie Deutschtum Saufen ist. Judentum ist so wenig intellektuelle Kälte und Spitzigkeit wie Franzosentum Rhetorik und Phrase ist. Judentum ist nicht Auswuchs und Verderb des Judentums. Judentum ist so wenig Feigheit, wie Deutschtum Rauflust ist. Die Judenheit ist eine so kriegerische Nation wie eine, aber der kriegerische Geist hat sich, nicht erst durch die Zerstreuung und Auflösung unter fremden Völkern, nach innen gewandt. »Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert« das ist nicht bloß das Wort Jesu des Juden und Muhameds des Arabers, es ist vor allem das Worte Mose, der als der größte aller Kriegshelden in der Mitte des jüdischen Volkes steht. Von ihm an ist der Krieg um die Eroberung Gottes, der Krieg gegen die Sünde, der Krieg um Reinheit und Heiligung ins Herz des Volkes, in die Gemeinde, und ins Herz jedes Juden verlegt worden, ein Krieg, der keinem Vertreter, keinem Vorkämpfer, keinem Erlöser oder Heiligen, keinem Priester überlassen bleibt. Dieser Krieg wird mit Mitteln des Verzichtes, der Seelenwaschung, des Insichgehens, des flehentlichen Gebetes, der Einheit der Gemeinde in Stöhnen und Büßen geführt. Da ist viel sinnlos gewordener Brauch, der einmal Sinn hatte, aber da ist wenig wirklicher Aberglaube und gar kein Fetischismus. Nur wo Fetischdienst ist, können Reste des Kannibalismus versteckt erhalten sein, kann der heilige Seelenkrieg in den blutigen Krieg gegen Andersgläubige ausarten. Daß Juden um ihres Seelenheils willen Krieg führen oder andern Menschen als sich selbst Wunden schlagen, ist längst unmöglich.
Die seelische, die nationale Besonderheit der Juden war in all der Zeit ihr Eigentum. Wenn die Einzelnen zur Menschheit gegangen sind, haben sie sich bemüht, ihr Judentum zu Hause zu lassen oder zu verstecken oder zu überwinden. Die Bewegung, die, meist unter dem Namen Zionismus, durchs Judentum geht, sollte, gleichviel was sich äußerlich gestaltet und wandeln mag, diesen Sinn haben: daß die Juden unter der Führung geistiger und starker Naturen das besondere Wesen, das sie wie jede Nation in Jahrtausenden ausgebildet haben, rein und schöpferisch gestalten, daß sie die Freiheit, Selbständigkeit und Einung ihrer Seelen im Kampf um das Heilige vom Wust des Unverstandenen und äußerlich mechanischer Gewohnheit retten und mit drängendem Leben erfüllen und sich und ihr Wesen der entstehenden Menschheit schenken, der das Judentum so wenig fehlen darf wie irgendeine andere Stufe und Schattierung des Menschlichen. Menschheit heißt nicht Gleichheit; Menschheit heißt Bund des Vielfältigen.
Wie aber die Juden, wenn sie zur Menschheit gehen sollen, erst zu sich selber kommen müssen, so wird den andern Nationen der Erde herzlich und dringend zu sagen sein, daß sie nie wahrhaft sie selber und nie auf dem Wege zur Menschheit sind, wenn sie nicht die Juden, die zu zwölf Millionen zerstreut, zur Hälfte aber doch in großen Blöcken vereinigt unter ihnen wohnen und eine untrennbare Einheit bilden, in ihrem Inneren aufsuchen und in ihrer Wirklichkeit kennen lernen. Wer aber diese Wahrheit wenigstens schon weiß, daß die Juden keine kannibalischen Bräuche haben, daß Mendel Beilis, wie so viele andere vor ihm und neben ihm, unschuldig gepeinigt wird, der schweige nicht, sondern rede an der öffentlichen oder der privaten Stelle, an der er steht.
1913
1914
Der europäische Krieg
Der Krieg ist da, der europäische Krieg, der Krieg Europas gegen Deutsches Reich-Österreich. Niemand, der unser Blatt, auch nur in der letzten Zeit, gelesen hat, kann sagen, wir hätten nicht vorausgesehen, was gekommen ist und was kommen wird.
Italiens endgültige Stellung wird von einer vielleicht entscheidenden Bedeutung sein, - und was diese Regierung und mit ihr ihre Armee und ihr Volk tun wird, braucht sich nicht gleich im Anfang zu zeigen.
Die Welt hat schon mehr europäische Kriege gesehen - den siebenjährigen, den dreißigjährigen; wie lange dieser dauern wird, weiß niemand. Was für eine Art Krieg es sein wird, lehrt keine Geschichte des Krieges von 1870/71 und keine der verbreiteten Phantasiedarstellungen, - lehren auch nicht recht die letzten Kriege auf dem Balkan, wo besondere Verhältnisse gewaltet haben; lehrt vielleicht nur der Russisch-Japanische Krieg: Riesenschlachten, die nach Raum und Zeit kein Ende nehmen wollen und die schließlich trotz allen weittragenden Waffen in Nahkämpfen mit dem Kolben, dem Revolver, der Handbombe, dem Säbel und den natürlichen Werkzeugen unsres Tierleibes schließen. Nicht leicht wird sich eine von zwei Parteien für besiegt halten; der Kelch wird bis zur Neige geleert werden.
Die Menschheit darf nicht, wie die übliche billige Redensart lautet, ihr Haupt verhüllen; sie muß die harten Tatsachen sehen, wie sie sind; sie muß sich sehen lassen und muß im Kleinen und Großen helfen, wo sie kann. Unsern Freunden und denen, die nicht unsre Freunde sein wollen, sagen wir, daß wir keinen Haß, gegen keinen, im Herzen tragen. Es gilt für die einzelnen, gleichviel welche Stellung sie bekleiden, wie für die Nationen: keiner ist schuldig, alle sind schuldig. Alle, - auch wir sind schuldig. Noch mehr und das Höchste gesagt: selbst Buddha, selbst Jesus von Nazareth, der Friedens- und Gleichheitskünder, sind von der Mitschuld an dem Furchtbaren, das die Menschheit sich selber antut, nicht freizusprechen. Zu billig, zu billig, von den andern, von den Völkern zu sagen: sie haben Ohren und hören nicht; tiefer als es je geschehen ist, muß die Menschheit erschüttert werden. Nicht sagen: sie wollen nicht hören; nur sagen: wir haben allesamt noch nicht recht gesprochen; wir haben noch nicht recht getan. Wir alle nicht, von jeher.
Wir hier sind kleine Leute; aber unser Amt ist, das Große dadurch vorzubereiten, daß wir das unsre tun, rein, treu, ohne Markten, ohne pharisäische Überhebung und in Güte gegen alle.
Was hier jüngst bei einer andern Gelegenheit gesagt wurde, gilt jetzt vor allem: es kommt darauf an, bei allem subjektiven Nationalismus des gebotenen Handelns, das objektive Denken nicht zu vergessen. Nie vergessen, daß, was die einen tun, auch die andern nicht lassen: in Ausübung der Pflicht fest, hart, unerbittlich sein; es wird Momente geben, wo man keineswegs menschlich sein kann; aber man kann in unmenschlich hartem Todverfolgen die Achtung bewahren. Nie Mob werden, nie lynchen; in diesen Zeiten zeigt es sich, wie das Schlimmste des Schlimmen die tierische Wut ist, und was für Träger der Kultur doch wahrhaft die Richter und selbst die Scharfrichter sind. Handelt, ihr Menschen allesamt, wie ihr handeln müßt; aber denkt und fühlt, wie ihr sollt. Euer Gewissen, das sich äußert in eurer Haltung, ist eure Freiheit.
Helft, wo ihr könnt; helft vor allem in euren Gemeinden. Wir tragen andre Gemeinden, als jetzt sind, im Sinne; aber jetzt ist der Kreis unsres Wirkens außer dem, was kommen soll, auch das, was ist. Wirkt darauf hin, daß die Gemeinden offene Tafel einrichten. Nur für zweierlei tut jetzt not, daß die Gemeinde, oder, wo sie versagt, die private Initiative sorge: daß jeder Mann, der zurückgeblieben ist, jede Frau und jedes Kind nicht hungere und nicht friere. Ob die Kleidung mehr oder weniger dürftig oder gar zerfetzt ist, darauf kommt wenig an; der Arme darf seine Lumpen ohne Scham zeigen; wohnen wird man fast alle überall lassen; die Miete wird, wo es not tut, gestundet oder erlassen werden. Die Gemeinden oder frei sich bildenden Gemeinschaften sollen offene Tafel halten, wo es Kost gibt nach dem Muster der Volksküchen für jeden, der kommt; keiner soll sich scheuen; denn auch in den sogenannten besseren Klassen kann es bald vielen an Nahrung fehlen. Im Freien können die Tische aufgeschlagen sein, wo die dampfenden Kessel stehen; später, wenn der Herbst kommt, in geschlossenen warmen Hallen.
Keiner darf hungern; keiner darf frieren! Keiner darf erst fragen und betteln müssen, wo er Nahrung und Wärme finde!
Eine große, prachtvolle Aufgabe haben die Konsumgenossenschaften: für die Vorräte und für normale Preise zu sorgen. Jeder wirke dahin, daß da das Rechte großen Zuges geschehe und vorbereitet werde, ehe es zu spät ist. Gut und aller Ehren wert der Kampf der militärischen Generalkommandos gegen den Wucher; gut die Festsetzung von Maximalpreisen und die schnelle Justiz gegen die Spekulanten und Preistreiber; aber Unterdrückung allein genügt nicht; es gilt zu bauen.
Jeder fange an und fahre fort, aufs einfachste zu leben.
Von unten nach oben wie von oben nach unten sollen sich die Menschen verbrüdern.
Zeiten der Not sind Zeiten der Größe, trotz alledem; in Zeiten der großen Not und des Aufschwungs rücken die Menschen einander näher. Unausbleiblich und jetzt schon zu spüren, daß durch diese Annäherung, durch dieses Bangen und Verlangen, durch diese Düsterkeit und geschlossene Strenge auch ein erotischer Strom zieht. Möge es der Eros des Platon sein, der die Menschen zum Göttlichen eint; möge es auch die Liebe sein, die Mann und Weib in die Umarmung schlingt. Widerwärtig und ein Greuel war es uns von jeher, das Natürliche, das Menschliche, das Göttliche in den Kampf der Klassen hineinzuziehen und etwa Gebärstreik zu predigen; am ekelhaftesten wäre es jetzt, etwa zu lehren, da die Menschheit sich ausrotte, solle man dem Moloch keine Kinder mehr gebären. Nein doch, ihr Frauen und Mädchen, bleibt der Natur treu und dem besonderen Zug, der jetzt geheimnisvoll in der Luft und in euren Nerven weht. Es gilt große Erneuerung und großen Ersatz: gebt euch willig dem Drang der Menschheit hin, der euch zur Schwangerschaft ruft!
Wir, die wir von unsern Gefühlen und Wünschen her vereinsamt und abgesondert sind, beneiden alle, die in Aufschwung und echter Begeisterung geeint sind. Wir verachten nur die, die bloß leben wollen, um zu leben; wir achten alle, die ihr Leben an ein Ziel setzen. Es ist ein andres Ziel, als wir es der Menschheit wünschen; halten wir uns so, daß auch die uns achten, die unser Ziel nicht verstehen. Wer weiß, welchen unbekannten Keim die schwere Wirklichkeit geheimnisvoll im Schoße birgt, die jetzt über die Menschheit hereingebrochen ist? Wer weiß, ob nicht wir Vereinsamten und Verhöhnten, wenn die Stunde kommt, wo die uralte Liebe über all den Haß hervorbricht, ob wir nicht die Bewahrer des Keims gewesen sind ? Am Glauben liegt alles; wer jetzt nicht treu ist, verrät nicht nur sich allein.
1914
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1915
Stelle dich, Sozialist !
Anlagen sind tatbereite Möglichkeiten; daß diese Strebungen hinaustreten, Wirklichkeit werden und Wirklichkeit umschaffen, dazu ist Kraft nötig. Hätte jemand gezweifelt, daß unserm Geschlecht alle Anlagen, zum Edelsten wie zum Verruchtesten, noch eigen und daß die Kraft zum Beginn und Durchführen, Initiative und Ausdauer, Schwung und Organisation in den Völkern noch lebendig seien, diese unsre Zeit gäbe ihm beruhigende Sicherheit. Ja, die Möglichkeiten sind da; und danach haben wir unsre Aufgabe, unsre Hoffnung und unsern Vorsatz zu bemessen, nicht nach irgendwelcher zufälligen, ich sage: zufälligen, Wirklichkeit, die jetzt breit, kolossal und verheerend allen Sinn überschwemmt und doch bald wieder als Nichtigkeit gespenstischer Art verronnen sein wird.
Für diese ungeheure Bereitschaft der Kinder und aller wachsenden Jugend und aller Lebendigen zu völlig anderm als was gerade da ist, kenne ich kein schlagenderes Bild als das Gleichnis Tolstois, das jedem, der will, Trost bringt: »Es gibt viele Kirchenchristen, die eher sterben wollten, als daß sie die Hostie in die Mistgrube schütten würden, und wenig wahre Christen gibt es, die eher zu sterben bereit wären, als sich am Menschenmord zu beteiligen. Wenn man imstande war, Menschen vor einem bloßen Ding so viel Ehrfurcht anzuerziehen, so könnte man ihnen doch ebensoviel Ehrfurcht vor dem Menschenleben beibringen.«
Seit einem Dreivierteljahrhundert hat sich unter unsern Völkern eine Lehre verbreitet, die, trotz allen Verschiedenheiten der Ausprägung, in eben diesem eins ist und darum ihren gemeinsamen Namen Sozialismus führt: daß die Welt, die Geister, die Seelen, die Beziehungen der Menschen untereinander mit einem Schlage, zwischen zwei Generationen anders werden, daß die Menschen sie selbst sein, daß die Möglichkeiten ausschlagen könnten, wenn die sozialen Zustände, wenn die wirtschaftliche Grundlage, wenn die Verhältnisse geändert würden. Diese Lehre erkennt, daß die neuen Geschlechter mit all ihren Anlagen jeweils hineingeboren werden in die fest und bedingend gewordene Hinterlassenschaft der Vorfahren und daß es zwar, unter schwersten Kämpfen, den genialen Naturen gelingt, aus dieser Verstrickung ihr eigenes Selbst herauszuarbeiten und, in der Epoche der Jugend wenigstens, zu wahren; daß aber die großen Massen in allen Schichten gar nicht zu sich kommen, sondern von den Bedingungen, wie sie jetzt sind, zu Dingmenschen, zu Gedungenen und zu Knechten und Masken der Verhältnisse gemacht werden. Das scheint mir die wahre, die umfassende Einsicht des Sozialismus zu sein, welcher durchaus allen Menschen im einzelnen wie der Menschheit im ganzen und ihren großen Gestalten Befreiung und Wirklichkeit bringen will und an keinerlei enge Klassentheorie oder Geschichtsauffassung gebunden ist, und welcher nicht lehrt, es seien die Menschen jeder Zeit, allewege und schlankweg Produkte ihrer Verhältnisse, sondern es seien die Verhältnisse unserer Zeit so beschaffen, daß die Menschen allermeist, sozialistische Theoretiker und Praktiker aber keineswegs immer ausgenommen, zu so gut wie nichts als bedingten Zeitgeschöpfen werden.
Diese Lehre ist nun - je nachdem man den Verlauf der Zeit in der Geschichte bemißt - eine lange Zeit oder eine Zeitlang da und hat sich an den wahrhaften Beginn ihres schöpferischen Werkes in all der Zeit nicht gemacht; das sehen in dieser unsrer Zeit wohl auch solche jetzt deutlich, die es bisher nicht sehen wollten. Diese unsre Zeit hätte einen andern Inhalt, als sie ihn hat, wenn der Sozialismus schon mehr wäre als das Bild der Schauenden. Nein, auch das kann er nur den allerwenigsten sein; wenn Völkerteile und Führende den Sozialismus auch nur schauten, müßte diese unsre Zeit einen andern Inhalt haben, als sie ihn hat.
Wahrlich, seltsam ist es der neuen Lehre unter den Menschen ergangen. Sie ist die Einsicht in das Verhältnis der überlieferten und geronnenen gesellschaftlichen Bedingungen zu den natürlichen Möglichkeiten des an sich immer der Freiheit und immer der Gebundenheit fähigen Menschengeistes. Über den Umfang nun und die Formen der Bedingungen, die gewandelt werden müssen, damit irgendwo eine Anzahl Menschen sich von Unsinn, Verkehrtheit und Qual erlösen, ist von Haus aus nichts ausgemacht. Sicher ist nur, daß quantitativ und qualitativ der Kraftaufwand und die Betätigung verschieden sein müssen, je nachdem sich die Zahl derer, die die sozialen Grundlagen ihres Gemeinlebens ändern wollen, verschiebt. Wie entzückend ist das Bild der Leichtigkeit, das man in der Vorstellung haben kann, wenn man sich ausmalt, es könnte eine Internationale von Völkern ihre Gesellschafts- und Wirtschaftszustände revolutionär umwälzen! Wie leicht und schnell scheint die Wandlung eines Ganzen vor sich zu gehen, wenn zunächst nur ein einzelner Staat sich zu sozialistischer Wirtschaft entschlösse! Wie schwer und vielfach gehemmt wäre die Aufgabe einer Schar, die sich sammelte, um, soweit es nur irgend ginge, aus Staat und Kapitalismus auszuscheiden und in neuer Gemeinschaft zu leben!
Noch etwas kam zu dieser Betrachtung, die irgendwo und irgendwie in den Sozialisten vor sich ging und ihnen das Breiteste als das Leichteste und das Kleinste als das Schwerste zeigte, hinzu, um sie unsäglich zu Untätigkeit (die geschäftig genug sein konnte) und abwartender Haltung zu verführen. War nicht das das erschütternd Große am Sozialismus und etwas, was ihn von allen Erneuerungslehren der Vergangenheit zu unterscheiden schien, daß er seine Erfüllung im völlig Konkreten vor Augen sah? Daß er von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlicher und sicherer gewahrte, wie die technischen Bedingungen, wie die Entwicklungsbahnen der Geschichte zur einigen Menschheit, zum Ineinandergreifen aller Räder, zu einer Gesamtheitswirtschaft allerumfassendster Art führten ? Buddha, Jesus und wie sie alle hießen hatten den Ausnahmemenschen das Unmögliche, das Wunder, das Heroische, das Opfer und die Selbstüberwindung zugemutet; nun aber kam der Sozialismus, der, glatt und plan, leicht und wunderbar wirklich, den Dutzendmenschen das schöne Leben auf der Grundlage der Gerechtigkeit bringen sollte. Der Sozialismus mußte kommen; nicht als Forderung, sondern als naturgeschichtliche Notwendigkeit mußte er; er war unterwegs, die Entwicklung trug ihn auf ihren Wellen; und keineswegs war er irgendwann früher denkbar gewesen; jetzt erstmals war er in den Bereich des Möglichen gerückt, und er mußte vom Kapitalismus ausgetragen werden, bis die Geburtsstunde schlug; er war durchaus abhängig von den Bedingungen, die ihn schufen und die er erst durch sein Dasein überwinden würde.
So wurde aus dem Bild der Schauenden, aus der Vision des Sozialismus eine Bildersprache, in deren Verfänglichkeit und Schematismus die Sozialisten hängenblieben und dürr und trocken wurden wie die ausgesogenen Fliegen im Netz. So hörten sie allermeist bald auf, Visionäre zu sein, verkapselten den Sozialismus in eine Wissenschaft von der in der Vergangenheit wohlgebetteten Zukunft und beschäftigten sich einstweilen nicht mit Sozialismus, sondern mit der Anpassung der Arbeiterschaften an die kapitalistischen Bedingungen - bis zu der Anpassung, die wir in dieser unsrer Zeit erleben.
Nun aber zeigt es sich: Nein! So kommt nie eine Wandlung, so ist nie Verwirklichung geworden und wird nie eine werden. Zu den Bedingungen, die vor dem Sozialismus liegen, zu den Bedingungen, die uns die Geschichte als Unrecht, Niedrigkeit und Schlendrian hinterlassen und zum Gefängnis ausgebaut hat, gehört vor allen die Bedingung, daß die Massen, die Völker, die Staaten als Breites und Ganzes zur Umgestaltung, zum Auswirken der Möglichkeiten, zum Aufbau des Neuen vorerst tat- und willensunfähig geworden sind. Wozu sie sich fortreißen lassen und worin sie ausdauern, sehen wir: sie stehen im Gewordenen. Das Werdende ergreift sie nicht wahrhaft, weil es nicht in ihnen lebt; und wie sollte es in ihnen leben, da es in den Führenden und in den Schöpfern der Idee nicht das Wunder der Lebendigkeit vollbracht hat? Der Sozialismus handelt vom Tun und Verhalten der Menschen, zunächst vom Tun und Verhalten der Sozialisten; von den lebendigen Beziehungen der Wirtschaft und Gemeinschaft, die sie unter sich schaffen. Werdendes, und nun gar werdender Sozialismus, lebt nur in den Menschen, wenn es aus ihnen heraus lebt. Natur und Geist lassen ihrer nicht spotten und lassen sich nicht vertagen; was werden soll, muß wachsen; was wachsen soll, muß keimhaft beginnen; und was die ersten einer Sache für die Menschheit schauen, müssen diese ersten um ihrer eigenen Menschheit willen - und als ob es für sie selber allein wäre - beginnen. Ist es nicht wundersam ? Der Sozialismus ist ein Bild der Schauenden, die vor sich klar die Möglichkeit sehen, das Ganze zu wandeln; er beginnt aber als die Tat der Tuenden, die aus dem Ganzen, wie es jetzt ist, ausscheiden, um ihre Seele zu retten, um ihrem Gotte zu dienen. Wir sind Sozialisten, das scheint gar nichts andres zu bedeuten als unsere helle Einsicht, daß die Welt, die Geister, die Seelen im ganzen gewandelt werden können, wenn die sozialen Grundlagen geändert werden (und der Anarchismus fügt ergänzend hinzu, daß die neuen Grundlagen so sein sollen, daß diese Grundlagen schon, wie jeder wachsende Organismus, Beständigkeit und Erneuerung, kosmische und chaotische Kräfte, das Prinzip der Erhaltung und des Umsturzes vereint in sich tragen); wir gehen eine Weile, eine lange Weile auf nichts andres aus, als den Menschen dieses Vollbringen zu künden und abzufordern, und schließlich ergibt sich, daß auch an dieser Erkenntnis des Geistes das Wesentliche nicht ihr Inhalt ist, sondern eben die Haltung und Richtung des Geistes selber. Das Wesentliche am Sozialismus ist seine Produktivität, sein Gestaltungswille. Wesentlich kommt den echten Sozialisten aus der Erkenntnis, daß die Menschen unsrer Zeiten Produkte ihrer Verhältnisse sind, der Wille und die Not, sich nicht unterkriegen zu lassen, sondern produktiv ihrem Leben neue Verhältnisse zu schaffen. Der Sozialismus vereint in sich die Anschauung einer Regel mit dem Willen, sie zu überwinden; die Erkenntnis der Gebundenheit an unwürdige Zustände war schon der erste Schritt zur Befreiung aus diesen Zuständen. Jetzt aber zeigt es sich: eben vor dieser Wahrheit, daß der Sozialismus Schöpferkraft, Opferkraft ist, daß er Innigkeit und Heroismus verlangt, daß er im Anfang das Werk der Wenigen ist, hat man ein paar Jahrzehnte lang Angst gehabt; die Angst, die jeder Produktive kennt, Angst vor dem Dämonischen, das die schwache Seele im schwachen Leib ergreift, über die Grenzen zwingt und auf den Weg der Vollbringung schickt. Diese Werkangst des zur Schöpfung Berufenen hat die Produktivität des Sozialismus entstellt in eine Theorie von den Entwicklungsgesetzen mit daranhängender politischer Partei; und all das geschäftige Wesen war unwesentlich, und all das Reden und Treiben mit unzugehörigen und irreführenden Dingen war zaghafte Ausrede dessen, der sich gerufen hörte und sich hinter der Hecke der Angstbeschäftigung niederkauerte.
Aber es bleibt nichts andres übrig, als sich aufzurichten und das Ziel in unsre Mittel zu legen. Die Welt, in der sich der Geist den Körper baut, ist auch im Maschinenalter mitnichten mechanisch geworden. Das Wunder, an das der Aberglaube, wie er sich auch nenne, glaubt, das Wunder, das Materialismus und Mechanismus annehmen: daß das Große ohne große Anstrengung komme und daß der ausgewachsene Sozialismus nicht aus den Kindheitsanfängen des Sozialismus, sondern aus den Riesenmißgeburten des Kapitalismus erwachse, dieses Wunder kommt nicht, und bald werden jetzt die Menschen den Glauben daran nicht mehr kennen. Der Sozialismus ist zuerst die Tat der Sozialisten; die Tat, die um so schwerer sein wird, je kleiner die Zahl derer ist, die ihn wagen und versuchen wollen. Wer anders soll tun, was er als recht erkannt hat, als der Erkennende? Wir sind allezeit abhängig und allezeit frei. Wir sind keineswegs zum einstweiligen Nichtstun, Warten, bloß Propagieren, Fordern und Auffordern verdammt; sehr vieles können wir, kann eine geschlossene Schar unter sich einrichten und durchführen, wenn sie vor Mühen, Nöten, Verfolgungen und Verlachungen nicht zurückschreckt. Stelle dich nun endlich deiner Aufgabe, Sozialist! Für die Massen, für die Völker, für die Menschheit, für die Umwandlung der Geschichte, für Anstand in den Beziehungen der Wirtschaft, des Gemeinlebens, der Geschlechter und der Erziehung brauchst du, da ein Anfang anders nicht kommt, fürs erste nicht die breiten Massen, sondern nur Gefährten. Sie sind heute da, wie sie immer da sind, wenn du nur da bist: die Aufgabe ist da, du aber folgst deinem Ruf nicht, du läßt auf dich warten. Wenn sie sich gesellen und das Reich dessen, was ihrer kleinen wachsenden Schar heute, in diesem Augenblick möglich ist, abschreiten, werden sie inne werden: da ist kein Ende.
1915
Zum Problem der Nation. Brief an Herrn Professor Matthieu in Zürich.
Lieber Herr Matthieu!
Schönsten Dank sage ich Ihnen für Ihren Vortrag [1], der mir mit seinem Schwung, seiner Liebe zum behandelten Gegenstand und seiner intimen und ausgebreiteten Kenntnis dieses Gegenstandes sehr behagen mußte. Ich finde in Ihnen eine so ausgesprochene Begabung zu solchen völkerpsychologischen Untersuchungen, daß ich den Wunsch aussprechen möchte, dieses nämliche Thema von Ihnen noch ausführlicher und anders behandelt zu haben. Sie haben alles und noch einiges mehr getan, was von einem lebendigen, das Thema vielseitig umspülenden Vortragsfluß zu erwarten ist, was ich also erbitte, ist kein Vortrag, sondern eine Abhandlung, die leicht ein Buch werden könnte.
Für uns alle nämlich, denen die nationale Differenzierung eine Sache von großer Bedeutung gerade für die kommende Verwirklichung der Menschheit ist, für uns alle, die wir die schöne, gedeihliche, friedliche Tatsache der Nation von dem wüsten Ungetüm Staat trennen und erretten wollen, ist es künftig recht wichtig, Kriterien und Methoden zu finden, um das Bezeichnende einer Nation, ihre Beschränkung und positive Besonderheit ausdrücken zu können. Eine Wissenschaft also von der Nation; wozu? Nicht Sie sollen diese Frage, sondern ich soll sie mir selber stellen. Kennten Sie mich länger, kennten Sie mich gar so, wie ich mich selber, so müßten Sie sich in der Tat wundern, daß ich eine wissenschaftliche Behandlung eines Gegenstandes, an dem ich mit Herzen, Trieb und Phantasie hänge, für erwünscht erkläre; an einer Überschätzung der Wissenschaft, zumal Gegenständen geschichtlichen Werdens gegenüber, habe ich bisher nicht gelitten. Aber überall, wo eine falsche Wissenschaft trübend und entstellend am Werke war, muß unerbittlich scheidende Wissenschaft den Boden wieder säubern; Moors Geliebte kann nur durch Moor sterben, und selbst Apollon, der prophetische Dichtergott, muß sich, wenn er auf die Jagd geht, eines Hundes bedienen. Sogar aber die allgemeine Politik, so übel es um sie steht, ist nicht so schlimm dran, wie die Kunde von den Nationen. Habe ich vorhin vom Staat mit einem Wort der Abwendung geredet, so weiß jeder, der sich nur ein wenig mit der Politik befaßt hat, daß ich in meiner Sprache damit nicht jede dem öffentlichen Wohl, der öffentlichen Ordnung und Sicherheit vorgesetzte Organisation bezeichnet habe, sondern nur eine bestimmte, zeitlich bedingte, vergängliche und zu überwindende Abart. Wer aber weiß, wenn in einem Zusammenhang von Nation gehandelt wird, was der Schreiber oder Sprecher damit meint? Ich habe ihren klaren und sprühenden Vortrag gelesen; aber kann ich denn nun in Wahrheit sagen, was Sie unter französischer Nation verstehen? In Wahrheit, nicht im geringsten; weder waren Sie auf eine strenge Definition aus, noch konnten Sie sich auf eine stützen. Sicher aber ist eines: brächte ich Ihnen eine Kiste oder einen Eisenbahnwagen voll Menschen, auf die all die Eigenschaften, die Sie dem französischen Geiste zuschreiben, und an denen also doch wohl dieser Geist kenntlich sein soll, zuträfen, so würden Sie, zum Beispiel, aus meiner Lieferung Milton, Carducci, Benjamin Franklin, Cicero, Seneca, Junius, Herwegh ausscheiden und würden sagen: das sind keine Franzosen; Voltaire, Mallarmé, Victor Hugo und viele andere würden Sie aber belassen. Ja das haben wir freilich vorher gewußt! Nicht damit aber ist uns fernerhin gedient, daß man Repräsentanten einer Nation allerlei Eigenschaften nachsagt, die durchaus auf sie zutreffen, sondern daß man an diesen Repräsentanten scharf das spezifisch Nationale, das sie mit dem allgemeinen Volkscharakter verbindet, heraushebe. Aber schon die Auswahl der typischen Vertreter ist bei der jetzt geduldeten Behandlung ganz willkürlich. Ist man einig darüber, die Männer, die ich eben nannte, als Vertreter echten Franzosentums zu nehmen, so wird man etwa bei Rabelais, Claude Tillier, Proudhon schon schwanken, wird da lieber von Gaulois, als von Franzosen reden oder gar von keltischem Einschlag fabeln; bei Rousseau und Verlaine wird man gern deutsche, bei Merimée und Stendhal italienische Einflüsse annehmen. Das aber, da es doch immerhin alles der Literatur, also der französischen Sprache angehört, ist ein Kinderspiel gegen die Gebiete, die nichts mit Sprache zu tun haben, sondern in andern Ausdrucksformen an den Tag treten. Wenn Sie - oder andere - von Bildhauern und Malern reden und an ihnen das französische Wesen demonstrieren, bin ich immer geneigt zu rufen: Halt Taschenspielerei! Das Französische, das du herausholst, hast du vorher hineingesteckt; oder genauer gesagt: du nimmst alle hervorragenden Eigenschaften dieser Künstler und hängst ein blau-weiß-rotes Zettelchen daran. Du weißt ja im voraus, daß diese Werke Franzosen geschaffen haben. In der Tat müßte man es einmal umgekehrt versuchen, um die erforderliche Bedenklichkeit gegen dieses Verfahren zu lernen. Man müßte zum Beispiel jemanden, der nach sicherem Gefühl und etwa überdies noch nach den Kriterien, auf die ich gleich weisen will, mit dem Wesen jüdischer und deutscher Nationalität genau vertraut wäre, vor die ihm unbekannten Gemälde und Radierungen Max Liebermanns führen und nun zusehen, ob er deutsche und jüdische Elemente trennen oder überhaupt als gut und sicher zu beschreibende Eigenschaften darin finden könnte. Und genau so entsprechend mit Courbet, Manet, Rodin usw.
Ich behaupte durchaus (gebe nicht nur zu), daß die Nation eine durch gemeinsame Geschichte entstandene Gemeinschaft ist, nenne darum auch moderne Juden, gleichviel, welche Sprachen sie reden, Schweizer trotz der Viersprachigkeit, Holländer (deren Sprache nur eine deutsch-friesische Dialektmischung ist) und Belgier eine besondere und einheitliche Nation; bin sogar geneigt, Katholiken und Protestanten (nebst dem, was sie sonst sind) als durch charakteristische Unterscheidungsmale von einander getrennte, unter sich geeinte Nationen aufzufassen. Ich sage also, indem ich von Geblüt und Rasse als entweder wissenschaftlich ungreifbar oder als einer Teilung anderer Art, die durch die Nationen hindurchgreift, ganz absehe, daß keineswegs bloß die Sprache die Nation macht. Trotzdem jedoch: Nation ist die besondere Art, in der in einer auf Grund gemeinsamer Geschichte zusammengehörigen Gemeinschaft das allgemein Menschliche und das individuell Einmalige sich ausdrücken. Wollen wir für diese Ausdrucksbesonderheit Kriterien suchen und dazu Methoden finden, so werden wir zunächst weder Religionen noch Sitten noch Einrichtungen noch bildende Künste brauchen können, weil wir da ganz wahllos oder gemäß unserer wählenden Neigung alles zusammenwerfen oder sorgsam auslesen, wovon wir äußerlich wissen, daß es in Deutschland, Frankreich, England usw. zu Hause ist, ohne das international Gewanderte vom Einheimischen sorgsam zu scheiden. Wir werden uns vielmehr durchaus methodisch, systematisch zunächst, um eine sichere Handhabe zu schaffen, an die Sprache halten müssen, an den sprachlichen Ausdruck in allen Gestalten, wozu auch Mimik und Gestikulation, das Verhältnis von Ruhe und Bewegtheit gehören, von der Lautbildung (die für den Gesichtsausdruck und sogar für das Temperament in Betracht kommt) und der Umgangssprache bis zur Sprache der Dichtung, Wissenschaft und Gesetzgebung. Und da ist, um vom Simpelsten, nämlich einer einzelnen Vokabel anzufangen, die Tatsache, daß die Franzosen z.B. raison haben, das heißt die Erfassung von Recht, Rechnung, Grund, Vernunft und Verhältnis als ein und dem nämlichen, mir für das wahre Verständnis französischen Wesens wichtiger als alle Hymnen oder Bosheiten der Welt. Nation ist eine Ausschließlichkeit; und die unübersetzbaren Wörter, Wendungen und Nuancen der Sprache, die unnachahmlichen Verkettungen im syntaktischen Bau der Sätze schicken uns auf den Weg zur Bekanntschaft mit dem Inhalt dieser Besonderheit, besser gesagt, mit dem Spezifischen dieser Form, die Nation heißt. Wissen Sie nun zum Beispiel, wo ich bei meinen vielfachen Übersetzungen aus dem Französischen am verzweifeltsten war wegen der völligen Unübersetzbarkeit? Nicht bei Dichterischem, Schwungvollen, Impulsiven, Pathetischen, Innigen, Kunstvollen, - sondern wenn es sich um das juridische, gesetzgeberische, kaufmännische und bürokratische Französisch handelte. In Ausdrücken und Wendungen waltet da eine elegante Sicherheit der Logik, eine Perlklarheit im Erfassen von Verhältnissen und im Definieren von Gebieten, eine Zweifellosigkeit der Abgrenzung und Geltung, eine Mannigfaltigkeit der Unterscheidungen, die im Deutschen ganz unnachahmlich ist, und lieber will ich noch ein Gedicht von Verlaine übersetzen, was wahrhaftig auch zum eigentlich Unmöglichen gehört, weil da im Original schon das deutsche Lied in die Form des französischen Chansons gebracht wurde, als etwa eine juridisch-kaufmännische Stelle bei Proudhon, die ich französisch klar und scharf verstehe, aber deutsch nur verschwommen, plump oder umschrieben wiedergeben kann. Hier sind wir einem entscheidenden Kriterium der Nationalität sowohl wie der guten Verträglichkeit mehrerer Nationalitäten in einem Individuum auf der Spur: in dem Augenblick, wo ich, ohne übersetzen zu können, eine französische Wendung bis aufs Letzte verstehe, bin ich Franzose und ich zweifle nicht, daß in mikroskopischer Winzigkeit von meinen Sprachwerkzeugen her auch mein Gesichtsausdruck und mein Tempo sich für den Moment den französischen nähern. Sie könnten freilich zu meinem Beispiel der Unübersetzbarkeit sagen, es handle sich da nicht mehr um eine positive Eigenschaft der französischen als um ein Manko der deutschen Sprache. Ja, das gebe ich zu und gerade darauf will ich ja hinaus. Nation ist eine Beziehung, ein Verhältnis, und nur dadurch, daß wir systematisch die Nationen untereinander vergleichen, werden wir das Wesen dieser Nuancen erfassen. Ein Engländer oder Italiener, der aus dem Französischen übersetzt, wird andere Erfahrungen machen, und nun gar ein alter Lateiner, der, auch wenn keine römische Vokabel mehr da wäre, aus dem Bau der Sätze noch immer die Kindschaft erkennen müßte! All diese Erfahrungen sind jeweils für ein Nationenpaar bezeichnend, und erst wenn wir nach lauter solchen gründlichen und feinen Vergleichungen zu einer Fülle von einander durchkreuzenden Proportionen kommen, haben wir zu einer Nationenkunde den ersten Grund gelegt. Steigen wir hier, wo es sich nur um einen Wink handeln kann, noch einen Augenblick von den simplen Beispielen zu den höheren, denken wir an das Verhältnis Frankreichs zu Shakespeare, an die schon erwähnte Unmöglichkeit, das Spezifische der deutschen Lyrik französisch wiederzugeben und umgekehrt. Was heißt das aber? Es heißt, daß Béranger und Verlaine, die selbst durch Meilen getrennt sind, in einem geeint sind, daß also nicht die ganze Breite und Tiefe im Wesen des einen oder des andern französisch ist, sondern nur etwas ganz besonderes, es kommt nicht darauf an, ob wir es klein oder groß nennen, es ist jedenfalls wirklich. Sie werden mich gewiß nicht so gröblich falsch verstehen, als sagte ich, irgend etwas an Béranger oder Verlaine sei unfranzösisch! O nein, alles an dem Angehörigen einer Nation ist bis aufs Letzte tingiert vom Nationellen, präsentiert sich nur in der Form der Nation, kann sich nicht anders ausdrücken. Aber nicht die Inhalte alle sind französisch oder indianisch oder bengalisch, sondern das Gefäß, aus dem die Inhalte herauskommen, wobei freilich Gefäß wie Form ungenügende Bilder für eine lebendig gewachsene und wachsende Funktion sind. Wie auch immer, betreiben wir die Sprachvergleichungen für alle Nationen fein und genau, so werden wir uns immer mehr der Fähigkeit annähern, wirklich ausdrücken zu können, was eine bestimmte Nation von den andern unterscheide. Aber nur im Verhältnis zu allen Nationen, die einen zusammengehörigen Kulturkreis bilden, kann die Besonderheit einer einzelnen bestimmt werden; Nation ist nichts Absolutes, sondern eine vielfältige Relation.
Ich will für das, was ich hier meine, noch ein Beispiel aus der Beziehung zwischen Deutschen und Franzosen geben. Der Deutsche ist geneigt, dem Franzosen, ganz besonders dem Franzosen seit der Revolutionszeit einen Hang zur pathetischen oder sentimentalen Phrase vorzuwerfen: das heißt zu klingenden und viel versprechenden Worten, hinter denen nichts steckt und die für nichts einstehen. Ich habe sehr häufig, zumal auf öffentlich-rechtlichem Gebiet, bemerkt, daß dieser Vorwurf nur zutrifft für die deutsche Übersetzung, die bestimmte Nuancen nicht wiedergeben kann, aber nicht für das Original. Die französische Sprache, die Sprache des ordnenden, organisierenden, ins konkrete Leben eingreifenden und mit großem Gefühl untrennbar verschmolzenen Begriffsverstandes kennt eine ganze Reihe Abstraktionen, in denen durch den Lauf der Sprach- und Volksgeschichte konkrete Betätigungen festgebannt sind, während in den entsprechenden deutschen Ausdrücken die Abstraktionen längst leer und nichtig geworden sind. Ich wähle als Beispiel das Wort droit = Recht in einer und der nämlichen zwiefach gespaltenen Anwendung aus den Jahren 1789 und 1848. Glaubt man dem deutschen Publizisten, so sind die droits de l'homme, die Menschenrechte, eine klingende, verführerische Phrase ohne Inhalt. Das ist ganz falsch, und der Irrtum kommt daher, daß droit lebendig eine Bedeutung enthält, die dem deutschen Wort Recht abhanden gekommen ist. Recht ist lediglich eine Erlaubnis, für die der andere, der das Recht erteilt oder anerkennt, keinen Finger zu rühren braucht. Ganz anders im Französischen. Da enthält das Wort droit eine Fülle sehr konkreter Leistungen, wie jeder weiß, der das Wort droit im Zusammenhang etwa des Feudalrechts unzählige Male aus Bequemlichkeit mit Abgaben, Leistungen, Lasten übersetzt hat, während es ja eigentlich nicht von den bezahlten, sondern von den eingenommenen Gebühren spricht. Die droits des Grundherrn sind nicht bloß Rechte, d.h. Ansprüche, sondern solideste Tatsachen in Geld oder Naturalien. Und demnach sind auch die droits de l'homme keine unbestimmten Worte, sondern verbürgte Rechte, der allgemeine, konstitutionelle Ausdruck für eine Neueinrichtung, dem die Ausführungsbestimmungen folgen müssen und ja auch tatsächlich gefolgt sind. Und genauso steht es mit dem seit 1848 geforderten Recht auf Arbeit. Dem deutschen Professor klingt das lediglich wie eine demagogische Phrase ohne Verbindlichkeit. Für den Franzosen liegt in dem Ausdruck keineswegs bloß die negative Zusicherung, daß das Recht auf Arbeit keinem Menschen abgesprochen werden soll, sondern die positive Bürgschaft, daß Rechtseinrichtungen getroffen werden sollen, die der erzwungenen Arbeitslosigkeit der zur Arbeit Bereiten ein Ende machen. Das aber versteht der Deutsche nicht, daß mit der Anerkennung des Rechtsgrundsatzes für den Franzosen die Hauptarbeit getan ist, da dieser durchaus seiner Findigkeit und Ehrlichkeit, seiner, französisch zu reden, Loyalität, d.h. Rechtlichkeit vertraut, die Ausführung dem schwer erkämpften Grundsatz unverzüglich folgen zu lassen.
Nun ist wohl klar genug, was mit dem Wort gemeint ist: Nation ist nichts Absolutes, sondern eine vielfältige Relation. Denn ich müßte mich sehr irren, wenn Vergleichungen dieser Art, bei der Angehörige der verschiedensten Nationen einander helfen sollen, nicht erhellend wären für alle daran beteiligten Nationen, wie diese Vergleichung, die ich eben vornahm, gewiß nicht minder bezeichnend für den deutschen als für den französischen Sprachgeist ist. Und es braucht kaum gesagt zu werden, daß in keinem einzigen Fall die vergleichende Begriffsgeschichte von der sonstigen Geschichte der Völker getrennt werden kann. Wie sollte es denn auch möglich sein, das Wesen von Nationen zu ergründen, ohne auf die Geschichte dieser Nationen zurückzugehen ? Ohne davon auszugehen, daß dieses Wesen geworden-werdend ist, im Fluß und in der Spannung der Wandlung steht, abhängig also in seiner Gegenwart von der Zukunft, dem Weiterweg, nicht minder ist als von der Vergangenheit, dem Bisherweg? Das Wesen jeder Nation ist Richtung, die nicht lediglich exakt durch den Blick auf das Vorliegende festzustellen ist, da sie abhängt vom Willen der Betrachteten wie des Betrachters.
Folgen wir solchen Methoden und sind wir in ihnen geübt, so werden wir etwa auch künftig in Stand gesetzt sein, in einem genial Produktiven seine geniale Besonderheit von dem national Typischen zu scheiden. Läuft uns ein Geschrei in den Weg, wie es zum Beispiel der zeitweilig in den Stand der Unreife herabgefallene deutsche Dichter Richard Dehmel von sich gegeben hat, von der Dekadenz der Franzosen (»die französische Nation hat sich überlebt, tragisch, aber wohl kaum zu ändern, wenn sie sich nicht noch rechtzeitig durch einen Blutbund mit Deutschland auffrischt«), so ist es allerdings ganz recht und genügend, mit der bloßen Antwort »Rodin!« die lästige Wespe wegzuscheuchen (Die schlechtsten Früchte sind es nicht, woran die Wespen nagen). Denn der Schreier hat ja gar nicht vom spezifisch französischen Einschlag, sondern vom gesamten Menschentum der Franzosen geschrieen. Für die Untersuchung, die ich meine, aber müßte allerdings anders geredet werden, als Sie zum Beispiel in Ihrer Schutzrede für die Franzosen von Rodin sprechen. Die Eigenschaften nämlich, die Sie hervorheben, gehören vielleicht nicht dem Franzosen Rodin an, sondern dem Rodin Rodin; es werden die Franzosen von ihm an mehr durch ihn als er durch sie geworden ist; seine Hauptzüge sind fürs künftige Franzosentum produktiv, aber vielleicht nicht vom vorgängigen Franzosentum produziert. Er gehört sicher mehr der Nation der Bildhauer als der Franzosen an und hat am Ende mehr von der (denn doch nicht ausschließlich französischen) Gotik und den Griechen Einflüsse empfangen als vom französischen Geiste. Aber ganz gewiß hat er auch in allem, was er ist und schafft, etwas davon; die Frage ist nur, ob wir es bestimmen können. Keine Frage aber ist mir, daß wir auf dem falschen Wege sind, wenn wir mit so einer genialen Besonderheit schlankweg das bisherige Wesen einer Nation bezeichnen. Etwas anderes ist es, wenn wir wollend, prophetisch, gestaltend, verlangend über der eigenen Nation ein Soll aufhängen und durch die Beschreibung ihr wachsendes Wesen bestimmen, das heißt wandeln wollen. Goethe ist ganz und gar hineingestellt in die Beschränkungen und Besonderheiten deutscher Nation; aber nicht kann ich umgekehrt ohne weiteres alles Goethische oder sein Entscheidendes der deutschen Nation zugute schreiben. Deutsch an Goethe ist, was er vom Deutschtum empfangen, und außerdem alles das, was er dem Deutschtum gegeben, aber auch wirklich gegeben hat: was nämlich die Deutschen seit und durch Goethe bleibend anders geworden sind. Aber das ist in Wahrheit noch unterwegs und kann nur im Sinne des Wollens, nicht aber schon wissenschaftlich zur Bestimmung gebracht werden.
Ich will Ihnen noch ein Beispiel geben. Sie fordern mit Recht jeden heraus, das französische Wort »débrouillard« ins Deutsche zu übersetzen. Ja, das kann man nicht; und das ist für das Verhältnis deutscher und französischer Nation gewiß bezeichnend. Zwar muß man sich hüten, bei solcher Vergleichung des Wortschatzes mechanisch vorzugehen und die Rolle, die, mit Verlaub zu sagen, der Zufall in der Wortgeschichte spielt, zu übersehen. Die Franzosen z.B. haben kein eigenes Wort für »stehen«; die Schlußfolgerung eines journalistischen Windbeutels, es könne also mit ihrer Standhaftigkeit nicht weit her sein, würden wir nicht ernst nehmen. Man wird jeweils zusehen müssen, ob es sich um Wendungen spezifischer Art handelt, in denen sich der Geist der Sprachen verrät, oder nicht. Ein solcher Ausdruck ist nun Ihr débrouillard sicherlich, und ich würde nur noch hinzufügen, daß der débrouillard die französische Besonderheit des Originals ist, der schnell gefaßte und entschiedene, entscheidend eingreifende Initiator, während der Deutsche, ebenso unübersetzbar, die genau umgekehrte Originalität etymologisch mit demselben Stamm ausdrückt: Eigenbrödler. Dieses beides zusammen scheint mir für das Verhältnis der beiden Nationen sehr bezeichnend: es ist das Verhältnis einer mehr zentrifugalen zu einer mehr zentripetalen Kraft.
Sie sehen - und ich habe es gleich mit freudiger Zustimmung wahrgenommen -, daß ich mit sprachlichen Beobachtungen zu den nämlichen Hauptkennzeichen des Franzosentums komme, die Sie in Ihrer Darstellung hervorheben: erstens formale Sicherheit, Kunst des Definierens und Abrundens, logische Begrenzung; zweitens Impuls, Initiative, Vereinigung von Organisation und Freiheit. Ich möchte nur noch die Frage aufwerfen, ob die erste dieser Eigenschaften nicht einer sehr alten, die zweite aber einer noch recht jungen Schicht der französischen Nation angehört. Ich finde, daß die Franzosen mit ihrer ersten Eigenschaft ganz und gar die Erben der römisch-lateinischen Ausdrucksbesonderheit sind; die Universalerben dieser Art geschliffener Verstandeskultur; denn Italienern, Spaniern, Rumänen sind höchstens kleine Legate übriggeblieben, die andern Vermächtnisse anderer Herkunft waren zu mächtig. Die zweite Eigenschaft der Franzosen aber, diese zentrifugale Kraft der freien Initiative scheint mir erst der neuen, der zweiten französischen Nation anzugehören, die durch die französische Revolution fertig wurde und deren deutliche Spuren schon in den Kämpfen der Monarchomachen sichtbar sind. Und aus der Vereinigung der Wesenszüge des jungen und des alten Frankreich, des Impulses und des Fertigmachens, ergibt sich die Kraft des französischen Geistes, auf der eine große Hoffnung der Menschheit beruht: die Kunst, dem Geist und seinen Tendenzen, die bei andern Nationen leicht in der Sphäre der Phantasie und Philosophie bleiben, zu einer äußeren Gestalt zu verhelfen; den Geist, wenn er zur schaffenden Begeisterung wird und die Massen ergreift, vor der Überschwemmung und dem Wirrwarr zu retten und ihn zu zwingen, sich ein geformtes und begrenztes, ein wirkliches Bett zu graben. Ich gestehe, auf die Gefahr hin, verkannt zu werden, daß mich Mirabeau, aber der ganze Mirabeau, vor allem auch der, dessen letzte Ziele uns nur in verwegenen vorbereitenden Handlungen vorliegen, der größte Vertreter dieses modernen Franzosentums dünkt: der Mann, dessen Geist überschäumt und Grenzen sprengt, dessen Geist eindämmt und Grenzen setzt, der leidenschaftlich gewaltige Mann des Chaos und des Kosmos, der Revolution und der Organisation.
Sie könnten mit meiner Auffassung echt französischen Wesens noch nicht zufrieden sein, dem französischen Geist noch mehr zusprechen wollen und etwa sagen: Hat nicht ein Mann wie Pascal auch der zentripetalen Kraft, der Einkehr und Versenkung genug? Gewiß hat er sie, hat sie wie Meister Eckhart (nur schwächer) oder wie Dostojewski (nur schwächer). Dieses sein Grundwesen hat er mit genialen Mystikern andrer Nationen gemein, und die Ausdrucksform dieser Mystik gehört der Nation der Christenheit an, nicht der französischen. Französisch ist an ihm, wenn ich recht sehe, nur das, was die sprachliche Ausdrucksform seinem Grundwesen der Mystik und ihrem christlichen Ausdruck als Bedingung hinzufügt, worunter ich keineswegs bloß die Form seiner Schriften, sondern die vom Genius der Sprache bedingte Form seiner im übrigen persönlich einmaligen geistigen Haltung und Richtung verstehe. Mystiker wie Pascal erstanden in genialer Besonderung in allen Nationen; einen Mystiker, der zugleich ein deduzierender und analysierender Mathematiker und ein Verfasser von Lettres provinciales war, gab es nur in französischer Gestalt.
Ich meine also, man sollte nicht elogiös sagen: Frankreich hat Pascal hervorgebracht, sondern man sollte zu bestimmen suchen, was an Pascal die spezifisch französische Nuance ist.
Die Frage könnte noch gestellt werden, ob ich die Sprache nur als Kriterium, als Symptom des in der Nation waltenden Geistes nehme, oder ob ich sie für die Ursache oder Erzeugerin dieses Volksgeistes halte. Diese Frage löse ich nicht, weil ich auf dem Gebiet lebendiger Kräfte, die in Symbiose stehen, mit dem Begriff erster Ursachen nicht operiere. Aber einmal muß doch dieses Wechselverhältnis angefangen haben? Ja gewiß, als die Welt anfing –
Mit dieser Anregung, lieber Herr Matthieu, wollte ich Sie zur Fortführung von Untersuchungen ermuntern, zu denen Sie mir auf Grund nationaler und individueller Prägung besonders berufen scheinen.
Übrigens stehen wir beide in einer werdenden neuen Nation, die sich ihre Angehörigen in allen Völkern sucht. Und so grüße ich Sie! Ihr Gustav Landauer
1915
[1] Die Kulturbedeutung Frankreichs. Vortrag, gehalten vor der Züricher Freistudentenschaft Zürich, Orell Füßli 1915.
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1916
Martin Buber. Eine Studie.
Martin Buber hat innig Schönes getan, das bleiben und wachsen wird. In seinen Büchern vom Baalschem, vom Rabbi Nachman und vor allem in seinen Drei Reden über das Judentum ist er, um seine eigenen, leicht variierten Worte auf ihn selbst anzuwenden, der Apostel des Judentums vor der Menschheit. Er hat keinen Appell losgelassen, hat nicht zur Scham und zur Einsicht oder zur Duldung und Menschlichkeit aufgerufen; er hat nur öffentlich zu den Juden gesprochen und ihnen an einem groß zusammengefaßten, verklärten, fast zum Mythos gestalteten Bild der Vergangenheit und aus den Tiefen seiner eigenen Seele heraus gesagt, was sie damit sind, daß sie Juden sind. Er ist kein Streitlustiger und hat nicht geeifert; er hat Seiendes, Verschüttetes, Unterirdisches heraufbeschworen und hat dürstenden Schatten den Trank des Lebens, der Schönheit und der Verwirklichung gereicht, der ihnen wieder zu einem Leibe verholfen hat. Und für Juden und Nichtjuden ist das Bild jüdischen Wesens anders geworden. Da ist nun vielleicht noch wichtiger als der Inhalt von Bubers Eröffnungen, wesentlicher als all das Erweckende, Mitteilende, Offenbarende und die Gewissen und das tiefste Wissen Erschütternde der bezwingende, unvergeßliche, nicht umzustoßende Eindruck der Wahrheit, den Martin Bubers Rede auf alle macht, die sie hören. Das, was er jüdisches Wesen nennt, im Laufe von Jahrtausenden immer nur an wenigen in Fülle hervorgetreten ist und durch sie auf Volk und Menschheit gewirkt hat, ist gewiß kein Einwand gegen den Blick, den er in die Zeiten tut, und gegen die Erneuerung, die er kündet: denn so stehn alle Völker in der Geschichte da und schreiten ihren neuen Geschicken zu. Eines wird bleiben, eines, das Buber nicht geschaffen, das er geschaut und in sich gefunden und mit dem Zwange und der Stärke der Wirklichkeit gestaltet hat: daß dieses Volk vor sich selbst und den andern in Reinheit steht, und daß die Menschheit in diesem wie in jedem echten und lebendigen Volke sich selbst und ein Abbild ihres Wesens gespiegelt findet.
Mit seinen Legenden aus dem Kreise der chassidischen Lehre und des chassidischen Lebens und seiner Darstellung des Chassidismus hat Buber uns eine neue Gestalt der Mystik gegeben. Gleichviel, wie weit er da Entdecker, wieweit er Schöpfer ist, er ist in den magischen Kreis einer Überlieferung eingetreten und hat aus Trümmern und Entstellungen ein Ganzes und Neues gegossen. So ist er immer, daß er uns, gleichviel zu welchen Völkern oder entlegenen Kulturen er reist, etwas mitbringt, was wie aus ihm selbst gewachsen ist und uns ein Bedürfnis ist. Nie ist er Historiker oder Alexandriner, immer erlebt und gestaltet er das Einstmalige als ein Heutiges und als ein Ewiges. Wenn man von den Legenden des Baalschem und des Rabbi Nachman herkommt, diesen so ganz weltlichen, zugleich kosmischen und irdischen Geschichten von dem, was niemals war und immer ist, diesem Einklang von Landschaft und Menschengeist, von Natur und Seele, dann merken wir selbst in den liebsten, köstlichsten Legenden von Franziskus und den ersten Franziskanern noch einen Rest konfessioneller Enge, eine Unausgeglichenheit zwischen zufällig-geschichtlicher Anekdote und dem Gleichnis heiliger Wahrheit. Aber selbst wenn das alles nicht so wäre, wenn diese jüdischen Legenden nicht diese völlige Freiheit und Tiefe hätten, wenn es nur ein modernes und also vergängliches Element wäre, was uns Heutige zu diesen Geschichten, die uns ein Zeitgenosse gegossen hat, besonders hinzieht, so bliebe doch, daß wir in ihnen eine neue Gestalt der Mystik hätten, deren wir nie genug haben können. Diese Mystik hat nicht die leidenschaftliche Innigkeit und trotzig-gesunde Wucht verbindende Gewalt Meister Eckharts, der sich mit sausenden Flügelschlägen aus der Scholastik emporschwingt, um wie ein Cherub, von Feuer umflossen, in der blauen Stille zu kreisen; sie hat nicht die ekstatisch-erotische Färbung, die uns wie eine Mischung aus Derwischtanz und wildem Raubvogelschrei anmutet, wie wir sie aus manchen orientalischen Überlieferungen kennen. Die Weisheit und Abgründlichkeit dieser neujüdischen Mystik ist erfüllt von Melancholie, von sanfter Schönheit, und die Stille, die in ihr wie in jeder Mystik den Atem anhält, ist zugleich eine himmlische Ruhe und eine Sehnsucht aus irdischer Gedrücktheit heraus. Es lebt in ihr ein Pathos der Verbannung und Verstoßung, eine Hingebung ans Leid, eine Erschütterung bis zur Zermürbung, und dazu aus dem Verlangen und Bangen und inständigem Sehnen heraus das Wissen um kindlich dankbar empfangene Freude ohne Ende. Die Leidenschaft ist ganz innig, der Flug ganz geistig geworden, und alles irdisch Grobe, alles metallisch Dämonische, alles Vulkanische und derb und entschieden die Fesseln Sprengende, alle Wildheit und alles, was jauchzender Überschwang und Wonneverzückung ist, fehlt durchaus. Wir finden nie starke Unbändigkeit, nie volle Herzhaftigkeit, nie den Schrei oder die Brunst; es ist immer Gemessenheit, Gefaßtheit, Gehaltenheit, ein in aller Abstufung gleiches Pathos auf dem Grunde der Trauer.
Unter Juden im Exil sind diese schwermütigen mystischen Gebilde entstanden; die gebannte Seele eines Juden hat sie in unsrer Zeit zu ihrer Vollendung erhoben; und die Worte, die hier gesagt wurden, bezeichnen nicht nur die Art dieser Gleichnisse und Legenden; gemessene Haltung mit einem Einschlag von Leid und Erhabenheit ist das Siegel all dessen, was Martin Buber uns sagt und formt.
Da ist in einer dieser Legenden ein Rabbi, der aus all seiner Weisheit und Überlegenheit heraus schließlich zu fassungslosem, herzbrechendem Weinen gedrängt wird, und der mit diesem Weinen die Seelen der Gemeinde zur himmlischen Klarheit, zur Weihe und Einung mit sich emporträgt. Man könnte mit nur scheinbarer Umkehrung sagen, was in Martin Buber Rabbi und Weisheit, Bild und Musik, ja sogar Kraft und Tat und schließlich Harmonie und gefaßte Freude ist, sei wie aus dem stillen Wimmern eines ausgesetzten Kindes, aus der Tränenqual und Erleichterung eines im Elend schmachtenden, von sich selber verlassenen und sich selber suchenden Volkes geboren...
Gegenständlichkeit und der reiche Zusammenhang des extensiv und intensiv Einzelnen lebt in diesen Darstellungen, wennschon fast nur in den oft ganz wonnesam eindringlichen und sinnlichen Bildern und Gleichnissen; und all diese Bilderwelt ist wiederum aufgegangen im Rhythmus der Rede. Und sosehr wir uns mit Buber im Allgemeinen und Abstrakten bewegen, daß wir manchmal vermeinen, in einer Welt zu verweilen, deren kleinste Atomsplitter Begriffe seien, so kommt doch jeweils der Augenblick starker und bezwingender Gegenständlichkeit: da nämlich wird dieser seltsame Geist konkret, wo ihm, nachdem er ein Fundament von Begriffen gelegt hat, die Abstraktionen zu großen Zusammenhängen wachsen. Es ist, wie wenn einer, der sich auf tief vertrautem Boden bewegt, einem Zugereisten, den er führt, von einem Gipfel aus die Einheit einer Landschaft zeigen wollte und ihn mit verbundenen Augen an den Einzelheiten vorbei bergauf führte: sind wir oben, dann fällt die Binde, und wir schaun das Ganze klar und beisammen.
Diese Vertrautheit mit dem Abstrakten steht in unlöslicher Verbindung mit der Liebe zum gefühlsmäßigen Ausdruck und seiner Bevorzugung vor dem logisch Bestimmten scharfer Terminologie. Von dieser Seite her möchte man ihn, wenn man nur hoffen dürfte, verstanden zu werden, einen Gnostiker nennen, eben einen Denker der Art, wo die Abstraktion sich nicht mit dem Verstand, sondern mit dem Gefühl gattet.
Martin Buber ist ein Starker, der keine genießende Hingebung brauchen kann, sondern nur leidende und zu Aufschwung und Tat bereite. Und solche Leser braucht er, die mit sich selber das festhalten, was ihnen geboten wird; die nicht bloß so träumerisch hinschwimmend oder sich zärtlicher Massage überlassend mit den Augen, sondern die fest und ordnend und unterscheidend, wie laut lesen und dem Rhythmus des Sprechers mit dem eigenen Tempo erwidern. Wohl ist Bubers Werk Musik, und wohl gibt es keine Musik, die nicht aus Leid und Innigkeit geboren wäre: aber doch gibt es heroische Musik, und aus Not und Trauer und feiner Empfindlichkeit steigt dieses Menschen Fühlen und Denken und Gestalten zur Schau und zum Willen der Tat empor, dieses Menschen, der im Maßstab unserer Zeit und als ein erst Beginnender, dessen Wachstum wir noch erleben sollen, uns repräsentiert, was die Propheten waren: den heroischen Juden.
Es wäre leicht und würde doch nur vom Wesentlichen ablenken, zu Bubers Grundgedanken Vorgänger aufzustöbern. Man könnte an Heraklit erinnern als den die Welt in ihrer Fülle und Gegensätzlichkeit stark akzeptierenden Gegner aller Hinterweltler, der dem Schattensystem der Monisten von Elea sein en kai pan, sein Ein und Alles entgegenrief, der in all und jedem das Eine und im Kleinsten das Ganze gefunden hat; an spätere ähnlichen Schlages, die gestaltender Hand und schreitendem Fuß den Weg auf der »klirrenden Heerstraße« des Lebens nicht von den grauen und dürftigen Gespinsten der Abstraktion verlegen lassen wollten, könnte man denken, an Nicolaus Cu anus vor allen, selbst an manches bei Leibniz und Herbart; aber man käme durch all diese Reminiszenzen nicht weit in Bubers Welt hinein, da sie uns in Verstandesmetaphysik, in Naturphilosophie oder Erkenntnistheorie führen würden, statt zu dem Mittelpunkte, der Ethos heißt.
Denn nun sehn wir: dieses Denken, das vom Allgemeinen aus zu großen Zusammenhängen aufsteigt und die Welt der Sinne fast nur im Bilde verträgt, dieser Geist, der im Abstrakten zu Hause ist, hat sich auf den Weg gemacht, um der Abstraktion zu entrinnen und im Jungbad des Gefühls und der lebendigen Regsamkeit eine Wirklichkeit zu finden, in der das Allgemeine und gebietend Zusammenhaltende nicht mehr ein Gedankengebilde aus der dünnen Luft unsrer von der Oberfläche verdunstenden Denkatmosphäre, sondern der zutiefst in verborgenem Schacht unsres Innern gewachsene Kern unsres Wesens ist. Er sucht und akzeptiert nicht das Eine, das gedacht wird, so wenig wie das Eine, das resigniert wird, sondern die Ganzheit, aus der heraus die Welt ergriffen und das Leben bezwungen wird. Man möge an das denken, was Nietzsche seinen dionysischen Pessimismus genannt hat, ob wir schon bei Buber von solchen inferior und doch allzu keck gestellten Fragen wie Optimismus und Pessimismus weltenweit entfernt sind, wenn hier Bubers Lehre im Gegensatz zu den Ruhegelegenheiten sämtlicher Monismen ein heroischer Dualismus genannt wird. Ja doch, scheint er sich und der Welt zuzurufen, mag doch das Zweifache, das Geteilte und Auseinandergefallene in der Welt sein, und wenn es nicht wäre, so soll es da sein, von uns nach der Einheit verlangenden und sie nicht habenden Menschen gerufen und gewollt, denn wir sind berufen, die Einheit, die ist und nicht ist, aus unsrer inneren Ganzheit heraus zu schaffen und zu tun. Wie ich sie nicht in mir finde, sondern in mir gestaltend und mich ergreifend und haltend zu wirken habe, so habe ich sie aus mir, dem Selbstschöpfer, heraus wie einen Bogen und ein zwingendes Band um die Welt zu schlagen, um nun erst das, was nicht ist, sondern nur durch mich wird, das Welt-Ich zu schaffen. Es gibt keine Einheit in meinem Innern als die Spannung meiner gerichteten Kraft; es gibt keine Einheit der Welt als die zusammenschaffende, ordnende und gebietende, haltende und zerstörende und wieder aufbauende, aus dem magisch geeinten Innern heraus erneuernde Tat ...
Hier ist, was uns wahrlich dringender not tut als die vielen Talente, deren wir herzlich überdrüssig sein dürften, eine produktive Natur, die, nicht zufrieden mit dem überkommenen Weh, aus dem sie aufstieg, bereit ist, sich um ihrer Ganzheit und äußersten Formung willen von sich aus noch immer weher zu tun, auf daß die Welt nicht draußen lagere wie ein drückender Koloß, sondern sich aus dem eigenen Innern emporhebe und sich ausspreche wie eine erwachende und zu sich kommende Urgestalt.
Wir ehren diese produktive Kraft, die sich selbst in Strenge und Arbeit geschaffen hat, die nicht sein, sondern werden will, am besten, wenn wir alles, was erreicht ist, als einen Beginn und ein Gelöbnis nehmen. Wir danken ihr am besten, wenn wir ihr sagen: du bist einer, an den wir Forderungen stellen dürfen und von dem wir viel zu verlangen gesonnen sind. Wir wollen dich nicht mit andern vergleichen, sondern mit dir selbst.
Die Zierlichen, die Preziösen, die süß-modisch-schwermütig Plätschernden, die Virtuosen und Bequemen, die sich längst vor der grauenhaften Gefahr der Genialität und des abgründlichen Mutes wehleidig in ihr schönes und abbaufähiges Talent gerettet haben, werden ihn mit aller liebreizenden Wortanmut ihres Beifalls besäuseln und als den Ihren haben wollen. Wir aber vertrauen, daß er halten wird, was er verspricht.
Und zu ihm darf man als ein Fordernder kommen, nicht nur, weil er uns hoffen läßt, daß all dieses Reiche und Starke erst ein Beginn ist, sondern weil er sich als ein wundervoll Arbeitskräftiger erwiesen hat. Darauf muß nun zum Schlusse wenigstens hingedeutet werden, was alles Buber uns an Wertvollem und Förderndem als Nebenwerk leistet: mustergültige Übersetzungen, Sammlungen und Neuausgaben, sein großes Sammelwerk »Die Gesellschaft«, seine Arbeit auf den verschiedensten Gebieten allgemeiner wie jüdischer Wissenschaft und Organisation, seine Hilfe, die er unausgesetzt Männern und Frauen bei wissenschaftlichen und literarischen Arbeiten angedeihen läßt. Er ruht sich, mit seinen Worten zu sprechen, vom Unbedingten und dem starken Schaffen aus, indem er im Lande der Orientierung nützliche Arbeit tut, und wenn er vom Drang und Wehtun der Produktion kommt, geht er zum Fleiß und zur Treue der Leistung über. Martin Buber ist ein kategorischer und ungenügsamer Mann; wir dürfen ihm keinen Beifall spenden, dessen er sich schämen würde; wir wollen das Ganze und Äußerste, das Große und Hohe, das uns völlig Unbekannte, weil ursprünglich Seine von ihm erwarten und ihm sagen, daß wir es ihm zutrauen und daß er uns Teile davon, die aus der Ganzheit stammen, schon gegeben hat.
1916
Friedensvertrag und Friedenseinrichtung
Der Friedensvertrag bildet die Grenze zwischen der Gewalttätigkeit, welche Krieg heißt, und dem friedlichen Neben und Miteinanderleben der Völker: er gehört ebenso noch dem Krieg wie schon dem Frieden an.
Es ist darum unmöglich, daß der Friedensvertrag je etwas Vollkommenes, je ganz und gar Sicherung des Friedens werde: er enthält immer die Elemente der gewaltsamen Auferlegung oder Erpressung und der Not, der man sich knirschend und mit bösen Vorsätzen für die Zukunft fügt; er gibt den Frieden nur als infiziertes Erbe des Krieges.
Der Versuch, ein wirkliches Gleichgewicht zwischen den Staaten Europas herzustellen, ist auch 1648 im Westfälischen Frieden gemacht worden; Ideen des Völkerrechts haben ihren Einfluß auf die Diplomaten der kriegführenden Mächte ausgeübt. Beim Wiener Kongreß ist der Versuch wiederholt worden, und die Ideen nicht nur des Völkerrechts, auch des Konstitutionalismus, ja sogar der Brüderlichkeit und christlichen Liebe als eines Elements auch des öffentlichen Lebens und der Völkerbeziehungen haben ihre Wirkung versucht: ein gewisser Einfluß blieb nicht aus, aber doch war von irgendeinem entscheidenden, durchgreifenden Ergebnis nicht die Rede.
Kein Zweifel, daß es auch diesmal wieder so ähnlich kommen wird: die Notwendigkeit, dem Kriege ein Ende zu machen, wird auf allen Seiten so drängend empfunden werden, und andererseits werden die streitenden Interessen so auseinandergehen, daß wiederum kein andrer Rat sein wird, als dem Haus der Menschheit ein kümmerliches und geflicktes Notdach aufzusetzen. Eine Möglichkeit, feste Sicherheit gegen die Wiederholung eines so furchtbaren und wahnsinnigen Krieges durch den Friedensvertrag zu schaffen, wird nicht bestehen. Man wird allerseits glücklich sein, wenn der Krieg aufhört, und gerade die Freunde und Vorkämpfer des dauernden Friedens werden innerlich nicht imstande sein, um der Durchsetzung der Bürgschaften willen den Krieg unabsehbar zu verlängern.
Ein Weg bleibt übrig: im Friedensvertrag wenigstens dafür zu sorgen, daß in der Zeit des sogenannten Friedens, die dann folgen soll, die Arbeit für den wirklichen Frieden obligatorisch weitergeht. Diese Bestimmung des Friedensvertrags, von der nun im folgenden die Rede sein soll, wäre überdies geeignet, den Abschluß des Friedensvertrags nicht zu verzögern, sondern sogar zu beschleunigen: ist der Friede an die Bedingung einer solchen permanenten Friedenseinrichtung geknüpft, so wird irgendeine Änderung der Karte Europas, in die sich der eine oder andere Staat vielleicht wird finden müssen, leichter zu ertragen sein, weil von nun an alle Staaten die Gemeinbürgschaft für die Freiheit und Selbstbestimmung aller Völker übernehmen sollen, an der sie alle als Gemeinschaft interessiert sind. –
Der Europäische Krieg hat sich vorbereitet und ist 1914 ausgebrochen, weil Europa sich von 1870/71 an das ruchlose System des bewaffneten Friedens, der steigenden Kriegsrüstungen, des jahrelangen Aufenthaltes fast der gesamten männlichen Bevölkerung im Bau einer festgegliederten Körperschaft, die das Zerstörungswerk als Beruf und Technik betrieb, das System dieser sowohl stehenden als flüssigen Millionenheere in einer vorher nie gekannten Art hat auferlegen lassen. Deutschland hat seine Einheit nicht wie die andern Völker auf dem Wege der inneren Befreiung und Erneuerung, sondern durch den Krieg gegen ein Nachbarvolk zustande gebracht; seine Leiter haben nachher - mit Recht oder Unrecht, gleichviel geglaubt, die Stellung des Deutschen Reiches im Konzert der Mächte auch fernerhin nur der gewalttätigen Drohung verdanken zu können, und die andern Staaten haben sich Jahre und Jahrzehnte hindurch einschüchtern lassen, sind dem Beispiel gefolgt und haben unsäglich viele Mittel materieller Art und schöpferische Produktivkräfte des Geistes und der Seele für dieses System der Drohung verschwenden müssen.
Die Haager Konferenzen waren ein viel zu schüchterner Versuch, diesem System der permanenten Kriegsdrohung ein Ende zu machen. Nicht die verantwortlichen und wirklich leitenden Staatsmänner waren zu einem Staatenkongreß zusammengetreten, sondern einer Art von politischen Akademikern räumte man einen Nebenschauplatz ein, auf dem sie teils unwesentliche, teils nicht bindende Beschlüsse fassen durften. So war eine konstituierende Versammlung, die ursprünglich berufen war, an die Stelle der rohen Gewalt die Erklärung der Völkerrechte, die dringend gebotene internationale Ergänzung der Erklärung der Menschenrechte, zu setzen, auf ein totes Gleis geschoben. Wie außerordentlich schwer die Schuld des Deutschen Reiches an diesem Verlauf war, weiß jeder, der die Tatsachen kennt; aber die andern Staaten haben sich wiederum öffentlich diese Einschüchterung gefallen lassen und haben dann nur im geheimen ihre Maßregeln getroffen und sich im Lauf der kommenden Jahre zueinander gefunden, so daß das Ergebnis nicht eine prinzipielle und einheitliche Änderung des Zustandes in Europa, sondern eine immer feindseliger ausartende Stellung zweier Mächtegruppen gegeneinander war.
Es hat also in diesen Jahrzehnten keine wirkliche Friedenspolitik gegeben; jede friedliche Verständigung irgendwo in der weiten Welt zwischen Staaten, die der außerdeutschen Mächtegruppe angehören, hatte entweder in Wirklichkeit hauptsächlich oder nebenbei eine Spitze gegen Deutschland oder wurde wenigstens von Deutschland so aufgenommen. Nie hat man in dieser Zeit den Versuch gemacht oder nie wenigstens ist es gelungen, durch friedliche Energie nachzuholen und gutzumachen, was 1871 von den Friedenschließenden nicht nur, sondern vor allem auch von den damals Neutralen versäumt und schlecht gemacht wurde.
Jetzt sollten die Regierungen aller am Krieg beteiligten, d.h. der kriegführenden und nicht minder der neutralen Staaten im Einverständnis mit ihren Volksvertretungen darauf bestehen, daß im Friedensvertrag bedungen wird, es müsse unverzüglich, innerhalb einer bestimmten Frist, ein internationaler Staatenkongreß einberufen werden, dessen Beschlüsse bindende Kraft haben sollen und der, ganz unabhängig von dem provisorischen Friedensvertrag, zwei Gebiete, die man bisher verhängnisvollerweise als innere Angelegenheiten der einzelnen Staaten behandelt hat, als gemeinsame Sache aller Völker dauernd unter seine Jurisdiktion bringen soll:
1. Das Rüstungswesen und
2. die Überwachung des Verfassungsrechts der einzelnen Staaten in der Hinsicht, daß die Verantwortung des gesamten Volkskörpers für die Politik und Regierung seines Reiches durch gesicherte Einrichtungen gewährleistet sein muß.
Zu 1. : Art und Stärke der Rüstungen eines Staates sind keineswegs, wie die gewalttätige Einschüchterung und Verwegenheit in mehr als vierzig Jahren sogenannten Friedens behaupten durfte, lediglich seine eigene innere Angelegenheit; alle Staaten sind an dem Heereswesen, d.h. an den Drohungen jedes einzelnen wesentlich interessiert; und der Zustand, daß man aus Furcht vor dem Krieg schweigt und gerade dadurch den Krieg notwendig macht und sich vorbereiten läßt, der beschämende, gefährliche und die besten Kräfte erschöpfende Zustand, daß man, um den Frieden zu erhalten, den Krieg vorbereitet, was nichts anderes heißt, als daß man gar keinen Frieden hat, sondern nur die Kriegsrüstung, die das erste Stadium des Krieges ist, dem der völlige Ausbruch folgen muß, dieser Zustand darf nun nicht wieder begonnen werden. Ihm kann aber das Ende gemacht werden nicht durch Verhandlungen von Regierung zu Regierung und noch viel weniger dadurch, daß man die Regelung den einzelnen Staaten überläßt, sondern nur durch die öffentlich-rechtliche Institution eines internationalen Kongresses, dessen Beschlüsse obligatorisch sind und erzwungen werden können. Es ist zu erwarten, daß sie in allem Wesentlichen durch moralische Mittel und in jedem Lande durch die Energie des eignen Volkes erzwungen werden, wenn die Verhandlungen des Kongresses sofort nach der Heimkehr der Armeen beginnen, wenn diese Verhandlungen öffentlich sind und wenn auch das zu 2. genannte Gebiet unter die Entscheidungshoheit des Kongresses fällt.
Zu 2.: Die Frage nämlich, ob in einem Staat politische Privilegien bestimmter Schichten, Einschränkung und Unterdrückung andrer Volksteile bestehen, ist ebenfalls nicht bloß innere Angelegenheit dieses einzelnen Staates: alle Völker sind wesentlich daran interessiert, daß für die Schritte, die ein Staat nach außen unternimmt und für alle vorbereitenden Handlungen und Einrichtungen das gesamte Volk die tatsächliche und verfassungsmäßig verbürgte Verantwortung übernimmt. Was für eine internationale Gefahr Geheimregierungen, Nebenregierungen, unverantwortliche Militär-Kabinette, der ganze unkontrollierte politische Einfluß des Berufssoldatentums bedeutet, das hat sich vor und in diesem Kriege, hat sich durch die Tatsache dieses Krieges gezeigt. Furchtbar hat es sich an allen Völkern gerächt, daß die Staaten bis jetzt nur zweierlei kennen: Furchtsamkeit voreinander, Nichteinmischung im sogenannten Frieden; dann aber auf einmal alle Grenzen überschreitende, frech zudringliche und vor keinem Eingriff zurückschreckende Gewaltsamkeit durch den Krieg. Es muß ein Neues als Institution aufgebaut werden: Interessengemeinschaft im Frieden. Diese Gemeinschaft darf um des Interesses aller willen einzelne Verfassungen mit politischen Privilegien von Volksteilen, Geschlechtern (Dynastien) und Einzelnen fernerhin nicht mehr dulden.
Im sogenannten Frieden hat zwischen den Staaten Vorsicht, Rücksichtnahme, Zaghaftigkeit, ja sogar Verstellung und Unwahrheit geherrscht.
Im Kriege ist dann ein gerades Heraussagen der Meinung so leidenschaftlicher Art gekommen, daß diese plötzlich hervorstürzende Wahrheit sich in brutale Beschimpfung, leichtgläubige Verleumdung und also wiederum Unwahrheit verwandelt hat. Jetzt soll in wahrhaftem Frieden Wahrheit, Offenheit und Öffentlichkeit, Gegenseitigkeit geschaffen werden; dazu tut die Einsetzung der Institution des Kongresses not. All die Eigenschaften, die in längst überlebten Formen im Kriege wieder gespensterhaft auferstehen: Tapferkeit, Ritterlichkeit, Heldentum, Ausdauer, Kameradschaft, Treue und Aufopferung brauchen wir in lebendiger, stiller, sanfter, diskreter Gestalt, in einer Gestalt, die nicht von der Reminiszenz der Vergangenheit, sondern vom Rufe der Zukunft geschaffen wird, für den Verkehr der Völker untereinander in der Zeit wahren Friedens, für die wir von jetzt an arbeiten sollen.
Diese kurze Betrachtung lege ich Herrn Woodrow Wilson, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, mit der Bitte vor, sie zu erwägen und dabei im Sinne zu behalten, daß dieser Plan von einem Deutschen herrührt, der innig überzeugt ist, daß das deutsche Volk seine Schuld an die Menschheit leisten und die Gelübde einlösen wird, die die großen Repräsentanten deutschen Geistes in ihren Schöpfungen abgelegt haben, wenn man Vertrauen zu ihm hat und ihm in der Solidarität Beistand leistet, die aus den Stämmen und Völkern der Erde die werdende Menschheit macht.
Ich erlaube Herrn Wilson von dieser Arbeit jeden Gebrauch zu machen, den er für zweckmäßig hält.
Hermsdorf bei Berlin, Weihnachten ==1916==.
Gustav Landauer
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1918
Deutschland und seine Revolution
1
Wie ist das eigentlich zu deuten? Einerseits die gutmütigste und humanste Revolution, die es jemals gegeben hat, ganz abgesehen davon, daß sie völlig ohne Blutvergießen, besonders hier in Bayern, abging, diese Duldsamkeit gegen das Reden, gegen das Schreiben, und man hat ja auch den Eindruck, daß beinahe am Tage nach vollzogener Revolution die Parteien der alten Art sich wunderbar schnell erholt, man darf sagen, vielleicht vom Schrecken und der Überraschung erholt und in die neue Situation eingefügt haben. Ich weiß nicht, worüber man sich mehr wundern soll, über die bürgerlichen Parteien, die sich - ich meine es nicht bös, gestatten Sie schon das populäre Wort - mit einer wirklich affenartigen Geschwindigkeit umkostümiert haben, oder soll man sich mehr wundern über die Sozialdemokratie, über die Regierungssozialdemokratie früherer Regierungsart, die sich so benimmt, als ob überhaupt nichts geschehen wäre, die gar nicht das Bedürfnis fühlt, die Revolution als einen erschütternden Umschwung zu betrachten, die höchstens in manchen ihrer Glieder beinahe geärgert erscheint, daß da ein Zwischenfall gekommen ist, der im Programm und in der Taktik nicht vorgesehen war, der in die bisherigen, so sehr bewährten Parteiorganisationen und gewerkschaftlichen Organisationen, in dieses ganze Richtungsprogramm nicht hineinzupassen scheint.
Unangenehm berührt sind auch viele andere Richtungen, besonders wenn man von der Herkunft, von dem Ursprunge, von dem geistig-seelischen Ursprunge dieser Revolution, von der Bedeutung dieser Revolution spricht. Man kann nämlich von dem Ursprunge dieser Revolution nicht sprechen, ohne von diesem Krieg und dem Ursprunge dieses Krieges und von der Schuld an diesem Kriege zu sprechen. Vielleicht entsinnen Sie sich noch an den über die Maßen plumpen Vorstoß, den der längst verflossene Reichskanzler Herr Michaelis selig zusammen mit Herrn von Capelle gegen einige Mitglieder, eigentlich gegen die gesamte Unabhängige Sozialdemokratische Partei gemacht hat im Zusammenhange mit gewissen Aufruhrbewegungen in der Flotte. Damals wurde gesagt, die Partei der Unabhängigen sei des Landesverrats schuldig, sei dieser Umtriebe schuldig. Es lag aber noch nicht einmal ein gerichtliches Verfahren vor, es lag nicht einmal die Spur eines Beweises vor. Wenn wir aber jetzt, wo wir ja nicht mehr in dem alten Regime drin sind, wenn wir uns jetzt besinnen, müssen wir sagen: das waren für eine größere Öffentlichkeit die ersten Symptome, daß eine ernsthafte Aufruhrbewegung, eine ernsthafte revolutionäre Bewegung unter den Soldaten im Gange ist und daß diese revolutionäre Bewegung nicht bloß von irgendwelcher Unzufriedenheit mit Vorgesetzten oder sonst mit irgendwelchen lokalen Angelegenheiten kam, daß diese Unzufriedenheit auch keineswegs bloß daher kam, daß unsere Matrosen und Soldaten auf der Hochseeflotte so überaus viel Zeit hatten, sich mit geistigen, geschichtlichen und sonstigen Dingen zu beschäftigen, sondern daß diese Bewegung zusammenhing mit einer kleinen Gruppe von Menschen, die über den Ursprung dieses Krieges und über die Schuld Deutschlands ihre ganz besonderen Gedanken sich machten. Das war eine Gruppe, die keineswegs bloß parteimäßig formiert war; das waren Menschen, die einen gewissen Flügel, im Bunde Neues Vaterland z.B. bildeten, das waren solche, die wußten, was andere nicht wissen wollten, wohl aber wissen konnten.
Es ist hier gestern gesagt worden, das könnte nur in Deutschland vorkommen, daß man so - das Wort ist wohl nicht gewählt worden, aber gemeint war wohl so etwas Ähnliches sein eigenes Nest beschmutzt. Aber man muß wohl unterscheiden das deutsche Land, das deutsche Volk und eine verflossene, mit Schmach bedeckte deutsche Regierung und dieses Regierungssystem. Der Engländer sagt nicht: »Right or wrong, my government«, er sagt nicht: »Recht oder Unrecht, meine Regierung« ; der Engländer sagt: »Recht oder Unrecht, mein Land«.
Wer würde nicht zu seiner Heimat, zu seinem Lande, zu seinem eigenen Volke halten, auch wenn dieses eigene Volk durch Nichtwissen, durch Ducksamkeit, durch Fügsamkeit und durch knechtische Gesinnung, die ihm auferlegt und anerzogen wurde, schwere Schuld auf sich geladen hat ? Was bedeutet die passive Schuld des Duldens, des Gewährenlassens, des Nichtwissens, des Augenschließens, der Gedrücktheit auf seiten des deutschen Volkes gegenüber der Riesenschuld derer, die sehr wissend, sehr bewußt diesen Krieg gemacht haben, gemacht haben? Man kann es nicht anders ausdrücken.
Nun sagt man wohl: Na, na! Wir werden doch wohl nicht die einzig Schuldigen sein? Es ist doch im Laufe der Jahrzehnte dieser Krieg langsam heraufgekommen, man hat beobachtet, wie die Zustände in allen Ländern immer kriegerischer wurden, man hat den Präsidenten Poincaré, man hat die Verhältnisse politischer Art in Rußland gesehen usw., man hat das gesehen, was man Einkreisung Deutschlands nennt. Darüber habe ich meine eigenen Gedanken. Die Sache ist die: Man muß unterscheiden zwischen der Möglichkeit, ja, ich gebe sogar zu, Wahrscheinlichkeit, daß früher oder später hätte ein Krieg kommen müssen, und dem Ausbruche dieses Krieges. Es ist sehr wahr, die Verhältnisse hatten sich - auch durch die Hauptschuld Deutschlands - von 70/71 an allmählich so zugespitzt, daß wieder ein Krieg kommen mußte. Als dann die Bismarcksche Ära, die eine Gewaltära war, vorbei war, als dann die Anträge auf Abrüstung, auf internationale Verständigung überall, in allen Ländern bis in die Regierungen hinein großes Verständnis fanden, als dann die Haager Konferenzen kamen, da allerdings - wer die Haager Konferenzen wirklich studiert hat, muß mir das zugeben - kam es zu dem, was die freiwillige Isolierung Deutschlands war.
Wenn ein Land sich mit kriegerischen Gesten und mit geschwungenem Schwerte freiwillig abseits stellt, während die anderen ihre Bünde zum Frieden hin, zur Verständigung hin miteinander schließen, dann sieht es freilich für den naiven Deutschen, für den in seiner kriegerischen Art bedrohten Deutschen so aus wie eine Einkreisung. Aber die andern, die nicht diese mittelalterliche, ritterlich-kriegerisch drohende Haltung haben wollten, die dadurch, daß sie die Revolution durchgemacht haben, die Deutschland gefehlt hat, schon zu einem gewissen Liberalismus vorgedrungen waren, die sich dann verbündeten, um zu sagen, wir sind zwar nicht so, aber wenn es darauf ankommt, können wir auch so, haben sich zur Verteidigung gerüstet, weil sie wußten, daß Deutschland für sich allein auf Grund seiner militärischen Organisation, seiner militärischen Art, seiner ganzen militärischen Vorbereitung nahezu so mächtig war, wie die anderen Staaten alle zusammengenommen.
2
Das war die sogenannte Einkreisung Deutschlands, und nun gab es Männer - es waren auch ein paar Frauen dabei -, Menschen, wenige, die das anerkannt haben, was die ganze Welt außerhalb Deutschlands, Neutrale wie sogenannte Feinde, vom Juli 1914 an gewußt haben, daß dieser Krieg aufs Datum von Deutschland gemacht worden war. Ja, man kann behaupten und beweisen, daß, wenn der Erzherzog Franz Ferdinand von Este heute noch friedlich irgendwo als entthronter Thronfolger lebte, der Krieg im August 1914 trotzdem ausgebrochen wäre, daß man einen anderen Grund, einen anderen Anlaß, einen anderen Vorwand gefunden hätte. Vorwände zu diesem Kriege hat man mindestens von der Marokkokrise an hie und da von Deutschland aus gesucht. Es ist nicht immer geglückt. 1911 hätte er kommen sollen, 1913 im Frühling hätte er kommen sollen, da brach von außen her der Widerstand ein und man wartete noch ab. 1914 - wir haben dafür den Beweis, ein wichtiger wurde uns hier dankenswerterweise von der bayrischen revolutionären Regierung geliefert - 1914 schien es dem deutschen Militärregiment höchste Zeit, die Sache war reif, und der Krieg wurde gemacht.
Aber das Schauspiel, das sich nach vollzogenem ersten Akt der Revolution in Deutschland ergab, wäre meiner innersten Überzeugung nach in jedem anderen Lande unmöglich gewesen. Es kam nämlich das Schauspiel, daß die, die maßlos im großen und ganzen überrascht worden waren, die auch erschreckt waren, auf einmal sich wieder erholten und sich sagten, nicht bloß sich sagten, sondern sofort in die Welt schrieen: Es ist noch nichts geschehen, es ist gar nichts geschehen; erst müssen wir mitstimmen, erst muß die Nationalversammlung kommen, es ist noch gar nichts getan, erst muß auf Grund des Wahlrechts das Volk zusammentreten und muß beschließen; da muß natürlich die Frage vorgelegt werden: Ist die Revolution zu Recht vollzogen worden ? Erkennen wir sie an? Wollen wir die Republik, wie sie sich die Revolutionäre denken, oder wollen wir sie anders? Wollen wir das Haus Wittelsbach zurückrufen usw.? Das alles soll die Nationalversammlung erst noch einmal entscheiden.
Ich bin überzeugt, es gibt einige gutgläubige Professoren, die sich gar nichts Schlimmes dabei denken, sondern die meinen, es muß alles auf diesem Wege des Rechtes vollzogen werden. Revolution bricht Recht, Revolution schafft neues Recht, und das neue Recht ist nicht da, solange die Revolution da ist; das neue Recht wird gemacht, das neue Recht wird von schöpferischer Kraft gemacht. Da fragt kein Mensch mehr, ob es eine Mehrheit der Vergangenheit ist, die da zuständig ist, oder ob vielmehr die Gesamtheit der Zukunft es ist, die, wie sie in den vereinsamten Propheten Jahrzehnte und Jahrhunderte hindurch ganz alleiniglich gelebt hat, so jetzt vielleicht in einer kleinen Gruppe lebt. Es ist die Zukunft, es ist die Gesamtheit, die immer sich kristallisiert zeigt in der Revolution; und die, die jetzt die Mehrheit spielen wollen, das sind Vergangenheitsmächte, das sind solche, die in Wahrheit, obwohl sie sich noch lebendig stellen, genauso tot sind wie das alte System.
Die Revolution wird Parteien zeugen, das haben die bürgerlichen Parteien gemerkt und haben sich darum gleich am 9. und 10. November umkostümiert. So geht das nicht, daß man mit neuer Tracht eine neue Partei ist. Darauf fällt ein großer Teil des politisch unerzogenen deutschen Volkes vielleicht herein, vielleicht aber auch nicht. Nun, ich möchte, daß die Revolution so gut, so friedfertig und so kurz wie nur möglich geht; sollte es aber so kommen, daß die kommende Nationalversammlung z.B. oder der Landtag in Bayern eine Mehrheit des Alten, des gar nicht mehr Seienden präsentiert, so ist das bloß ein Zeichen, daß der Weg der Revolution schwieriger und länger sein wird.
Ich sage das nicht zur Warnung, ich sage das noch weniger zur Drohung, das liegt mir durchaus fern; ich sage es, weil ich Revolutionäre und Revolution kenne, weil ich weiß, die Revolution weicht nicht, das Weichende, das Schwankende, das liegt in all denen, soweit sie ehrlich sind, die von der Revolution noch nicht ganz und recht berührt sind; und die Hoffnung ist, ich sage das frei heraus, daß auch unter denen, die irgendwie von Parteien unter irgendwelcher Schlendrianparole gewählt sind, wenn sie unter die Einwirkung von Revolutionären kommen, gar manche innerlich erweicht, innerlich zart werden, daß sie dem Neuen, dem uralt Gerechten und Freiheitlichen zugänglich werden. Das wollen wir hoffen, um des Friedens willen, damit wir schnell zu den ruhigen, geordneten Zuständen der Zukunft kommen, die wir wünschen. Wenn es aber nicht möglich ist: das erste auf unserer Fahne ist nicht Ruhe und Ordnung, das erste auf unserer Fahne ist die neue Welt, der neue Geist, das neue Volk, der neue Zustand. Wir Deutschen sind die letzten in der Revolution, das legt uns die letzte Verpflichtung auf; wer zuletzt lacht, lacht am besten, wer zuletzt die politische Revolution macht, hat sie am gründlichsten und am besten zu machen. Was sich aus der Französischen Revolution ergeben hat, die westliche Demokratie, die Börsenrepublik, kann nicht unser Muster, nicht unser Ziel sein. Wir sehen anderes vor uns, die neue Demokratie ist vor uns.
1918
Die vereinigten Republiken Deutschlands und ihre Verfassung.
Seliger Pufendorf, ich habe Dir längst abgebeten, und ich bitte Dir nochmals ab. Etwa 15 Jahre mochte ich alt sein, da kaufte ich mir für 20 Pfennig aus Reclams Universalbibliothek deine Verfassung des Deutschen Reiches und war erstaunt und betrübt, damit eine Beschreibung zu erhalten, dazu noch eine Beschreibung des längst Vergangenen, statt der Verfassungsurkunde des von Bismarck gegründeten Reiches.
Inzwischen habe ich aber gelernt, daß eine Verfassung nicht ein Papier mit Paragraphen, sondern ein tatsächlicher Zustand ist.
Nun ist wieder ein deutsches Reich gestorben, das in der Geschichte als vorübergehende Schöpfung der Gewalttat leben wird; der kriegerisch roh zurechtgehauene und zugleich diplomatisch klug gesponnene Fürstenbund mit scheindemokratischem Einschlag, den der Realpolitiker Bismarck den 48er Ideen entgegensetzte, ist tot, ist von der Revolution zertrümmert worden. Das alte Deutsche Reich, 1871-l918, existiert nicht mehr; es ist in Schmach zusammengebrochen; Schmach tritt da zutage, wo eine Scheinmacht in Staub verweht, weil niemand da ist, der zu ihr steht und sie hält.
Jetzt gilt es, klar zu sehen, wollend zu sehen, was da ist und wird. Das Phantom zersplitterte an neuen Mächten, die ihre Lebenskraft wundervoll, keineswegs bloß stürzend, sondern im Umsturz bauend, mit Bauen einreißend, betätigten. Das waren die soldatisch-demokratischen, rebellisch-kommunalen Bewegungen, die an der Wasserkante und in Westdeutschland einsetzten, war die fegende Bewegung, mit der die Dynastien in ganz Deutschland entfernt wurden, war zumal die Gründung der Republiken in Österreich und in Bayern.
Diese Dinge sind im Werden, im Wachsen, neue Abtrennungen und Angliederungen und Verbündungen sind gekommen und werden weiter kommen; ein prachtvoller öffentlicher Geist - gelegentliche Dummheiten und Auswüchse sind, wie die süddeutsche Redensart sagt, gleichgültig wie ein Kropf - weht durch ganz Deutschland, mit einer einzigen Ausnahme aber, dünkt mich, wo es sich nur dann um Nebensächliches handelt, wenn wir unsere Schuldigkeit tun: nach Berlin und den Teilen Preußens, die zu ihm gehören, scheint der neue Geist noch nicht gedrungen; da waltet noch scheinlebendiger Tod; da wird der Versuch gemacht, der so lange gefährlich ist, wie wir ihn nicht dazu verdammen, bloß kurios zu sein, die Kontinuität zu wahren, die Kontinuität des alten Reiches und die Kontinuität seiner irgendwie preußisch-cäsarischen Zentralregierung und seines öden Parteiwesens. Da regnet es Verfügungen fürs ganze Reich, ausgeheckt von ein paar zufälligen Berlinern, deren Mutter die Revolution sein mag, die in väterlicher Linie aber ganz gewiß vom Prinzen Max und vom Kaiser und von Ludendorff abstammen, ohne daß man die neuen autonomen Republiken auch nur gefragt hätte, ob sie diese Erlasse brauchen und brauchen können. Wäre es nicht einstweilen besser, fühlt nicht jeder, wie die Natur es erfordert, daß die Brandenburg-Preußen mit einiger Bescheidung für jetzt lediglich so für sich selber sorgen, wie es die anderen Republiken in Deutschland und Österreich tun ? Fühlt nicht jeder, daß so und nur so das neue Reich herrlich und sicher zusammenwächst ? Ich sage: die Brandenburg-Preußen ; denn Preußen, das unorganisch zusammengestohlen ist, wird jetzt sofort wieder in seine natürlichen Bestandteile zerfallen. Schleswig geht; die Gebiete an der Wasserkante gehen; Hannover geht. Aus Rheinhessen, Kurhessen, Frankfurt, Nassau, der übrigen Rheinprovinz, Westfalen und Lippe-Detmold bildet sich eine westdeutsche Republik; sie ist unausbleiblich; diese Stämme taugen zusammen und taugen nie mit den übrigen Preußen anders zusammen, als all die deutschen Republiken untereinander einen Bund bilden werden. Widerstrebt aber Großpreußen, will es nicht ein Glied unter Gliedern sein, sondern ein Haupt mit Vormacht, will es das alte Reich fortsetzen, dann werden sich Nordwest- und West- und Süddeutschland und Österreich zunächst als selbständiger Bund zusammenschließen; das ist die organische Entwicklung und wird ein Gebilde schaffen, das unüberwindlich ist.
Gegen diese frohe, sichere Stimmung, die mit Klarheit sieht und akzeptiert und fordert, was da ist und wird, regen sich zwei Bedenken: die Furcht vor der Entente und ihrem Verlangen nach einer verhandlungsfähigen und aus der Demokratie hervorgegangenen Spitze, und die Furcht vor der Diktatur des Proletariats, welche Furcht nicht nur in weiten Teilen des deutschen Volkes, sondern eben auch wieder bei den regierenden Kreisen der Entente besteht. So gehören die beiden Bedenken eng zusammen.
W er zuletzt lacht, lacht am besten, und wer zuletzt die politische Revolution macht, darf und soll sich die beste Demokratie erlauben.
Demokratie, Selbstbestimmung des Volkes und der einzelnen Gliederungen im Volk, ist etwas ganz anderes als der verruchte Wahlunsinn, welcher Abdankung des Volks und Regierung durch eine Oligarchie ist.
Unsre Revolution hat schon angefangen, zu der echten Demokratie zurückzukehren, wie sie in den Gemeinde und Landesversammlungen der mittelalterlichen Verfassungen, Norwegens und der Schweiz, vor allem aber in den Tagungen der Sektionen in der Französischen Revolution vorgebildet ist.
Es soll keine atomisierten und abdankenden »Wähler« mehr geben; es soll Gemeinden und Korporationen und Verbände geben, die in Gesamtversammlungen und durch Delegierte ihr Schicksal bestimmen: Delegierte der beschließenden Korporationen, Delegierte, die dauernd in engem Einvernehmen mit ihren Auftraggebern stehen und jederzeit von ihnen abberufen und durch andere ersetzt werden können; imperatives Mandat, das sich nicht auf Regieren und Gesetzemachen überhaupt, sondern auf die bestimmten Vorlagen bezieht, die die Exekutive oder die Initiative von Körperschaften dem Volk vorlegt. Daß die organischen Gliederungen des Volks wirklich über ihr Schicksal selbst bestimmen, dazu taugt nicht das atomisierende, »direkte« und noch weniger das abscheuliche geheime Wahlverfahren; beide gehören einer Zeit der Entrechtung, der Vergewaltigung, der cäsaristisch-demagogischen Beschwindelung der Völker durch Privilegierte und ihre Parteien an; die Republik ist die öffentliche Sache, das gemeine Wesen; da erledigt das Volk in seinen Korporationen öffentlich, unter eigener Verantwortung und permanenter Überwachung seine eigenen Angelegenheiten; weh dem, der politisch oder wirtschaftlich einen Druck ausüben wollte! Die Schmachzeit des Wahlklosetts, des Stimmzettelumschlags und des Suppentopfes oder der Urne mit dem Schlitz muß für immer vorbei sein.
Es muß wieder werden, wie es einst war; da stellten die Männer das Werkzeug in die Ecke und nahmen die Waffen oder den Stock zur Hand und gingen zum Thing. Da berieten sie über bestimmte Dinge der Gemeinschaft, und all ihre überflüssige Arbeitslust strömte nun zusammen zu den öffentlichen Angelegenheiten. So traten die Dorfgemeinden und Stadtgemeinden zusammen, so gaben die Beauftragten Rechenschaft, so wurden neue Beauftragte ernannt, so gab es heiße Köpfe und Streit und Wut und Einigkeit und Beschluß, und das war eine freie öffentliche Sache, und jeder stand seinen Mann und stand bieder und ehrenfest in seinen Stiefeln und wirkte fürs gemeine Ganze.
Es muß Gleichheit und Freiheit, es muß Föderation werden - von unten nach oben muß die Gliederung gehen. Bunt und mannigfaltig muß die deutsche Freiheit zumal sein: was nur die Gemeinden angeht, ordnen die Gemeinden für sich, in Selbstverwaltung, der niemand hineinredet, und so weiter zum Bezirk, zum Kreis, zur Landschaft, zur Provinz, zur autonomen Republik, zum Bund deutscher Republiken und zum Völkerbund. Man wird nicht in romantischen Gelüsten altes ständisches Wesen nachahmen; es wird nicht alles in persönlichen Versammlungen geordnet werden müssen, wo der Funke der Mitteilung elektrisch von Ort zu Ort, von Land zu Land, über die Welt hin sprüht; man wird Vertrauen zu Mandataren haben und wird Genialität des Wirkens und Durchführens nicht beschränken; der Geist wird im Volk stehen und in ihm sein Recht und seine freie Bewegung finden. Aber das Volk in seinen Körperschaften wird bei seinem eigenen Schicksal dabei sein.
Daß diese Demokratie in unlöslicher Verbindung mit dem Sozialismus steht, erwähne ich hier nur; davon will ich besonders handeln. Eine Demokratie und ein Sozialismus wird es sein, wo jeder mit seinen Berufsgenossen und Gemeindekameraden beisammen ist, wo es Individuen als Isolierte, Losgelöste, Zersprengte gar nicht mehr gibt; wo aber Demokratie und Sozialismus mit ihrer korporativen und kommunalen Gliederung doch gerade bloß die Formen und Bedingungen sind, aus denen die in Geist und Beseelung ursprünglichen und selbständigen Individuen erwachsen.
Zu all dieser Entwicklung sind nun die Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte, wie sie die Revolution nach altrevolutionärem und neurussischem Muster sofort gebracht hat, der trefflichste Beginn. Wer ist denn kein Arbeiter? Die tüchtige Hausfrau ist eine Arbeiterin, der in seinem organisierenden Beruf tätige Kaufmann oder Fabrikant ist ein Arbeiter, der Maler, der Bildhauer, der Musiker, der Schriftsteller sind Arbeiter, die Beamten sind Arbeiter. Daß da später manches anders werden wird, zumal in dem gräßlichen Unfug und Unglück der rein geistigen Berufe, ändert fürs erste nichts an der Sache. Ungeistige Arbeit hat es, absolut betrachtet, gar nie gegeben; von nun an wird es so etwas ganz gewiß nicht geben. Der Aktionär, wenn er sonst nichts ist, der Kuponabschneider und dergleichen Leute sind keine Arbeiter, sondern Schmarotzer; wie ihre wirtschaftliche Lage späterhin sein wird, darüber rede ich in diesem Zusammenhang nicht, deute nur an, daß ich zu allen, die sich nicht mehr umstellen können, als zu Invaliden sehr menschlich empfinde und sie wie andere Hilfsbedürftige zu unterstützen vorschlage; - politisch kann keiner ein Recht haben, der nicht in den weiten Sinn des produktiven Wirkens ein Arbeiter oder ein Bauer oder ein Soldat ist und also einer Berufskorporation angehört oder von ihr als Gast aufgenommen ist.
Keineswegs aber wird es so sein, daß es Fabrikantenräte oder Ladeninhaberräte und dergleichen als politische Körperschaften geben wird; zur Vertretung ihrer Klasseninteressen mögen sie private Vereine bilden, so viele sie wollen, und ebenso etwa die Schriftsteller und Künstler.;aber für die Dinge des Gemeinwesens sitze der Fabrikant mit seinen technischen und kaufmännischen Gehilfen und seinen Arbeitern zusammen, ein Tätiger unter vielen; diese Gemeinschaft wird allen Teilen sehr gut tun; der Schriftsteller schließe sich an Verleger und Drucker und Buchhändler und Zeitungsverkäufer an; der Pfarrer an Ärzte und Totengräber; und wenn der Kunstmaler die Delegierten zu einem Arbeiterrat zusammen mit den Stubenmalern und Anstreichern, der Minister die seinigen mit den Kanalräumern und Straßenkehrern ernennt und überredet und informiert, so wird es für alle Teile und für den Geist unseres Volkes ein Segen .sein Für die Gesellschaft, die Jesus von Nazareth aufsuchte, werden auch unsre Intellektuellen nicht zu schade sein; der Geist, der ehrlich und Gemeingeist ist, übt seine Überlegenheit überall und setzt sich schließlich durch; nur ist es im Einzelfall keineswegs ausgemacht, ob das Herz des Arbeitsmannes nicht eine bessere und sichrere Entschließung trifft als das Hirn des Gelehrten oder die nach Reizen schweifende Phantasie des Dichters.
Wer sieht nun nicht, daß diese politische Gliederung der neuen, der echten Demokratie auf dem besten Wege ist, und daß sie auch auf organische Art von unten nach oben, zu der Spitze, zu dem Bundesrat führt, der Verhandlungen und Bünde mit dem Ausland nach dem gemeinsamen Willen des Volksganzen zustande bringt?
Und wer fürchtet jetzt noch eine Diktatur des Proletariats ? Ich würde sie auch, nein, nicht fürchten, sondern hassen und bekämpfen als Pest, wenn sie drohte; sie steht nicht bevor; bevorsteht, früher als irgend jemand ahnt, nicht die Diktatur, sondern die Abschaffung des Proletariats und die Erstehung der neuen Menschengesellschaft.
Und die Nationalversammlung? fragt vielleicht doch noch einer. Dem ginge es aber wie mir, dem Knaben, als ich im Pufendorf vergebens die Reichsverfassung suchte. Die Nationalversammlung habe ich mit alldem, was ich hier sagte, beschrieben. - Die Versammlungen aller in ihren Berufsgruppen eingegliederten arbeitenden Deutschen beiderlei Geschlechts haben in immer höher hin aufgehenden Stufen für die verantwortlichen Lenker ihrer Landesrepubliken gesorgt; diese treten durch ihre Delegierten - alles in voller geziemender Öffentlichkeit und unter Verantwortung - zum Bundesrat zusammen; soll nun etwa, wenn so das neue deutsche Reich sich in all seinen Gliedern zusammengefunden hat, noch einmal extra abgestimmt werden, ob es sein dürfe, was es ist, ob es werden dürfe, was es wird?!
Wir brauchen das organische Erwachsen von Tatsächlichem; es ist auf schönstem Wege; es muß nur weitergehen, im Geiste dieser Revolution.
Der Geist nämlich, meine Herren Intellektuellen, der Geist hat das alte Reich gestürzt und die Gliederungen des neuen, die im Werden sind, die schön sind, wie alles ist, was Jugend und Wachstum hat, ins Leben gerufen; der Geist, von dem ihr töricht und anmaßend genug vermeint, ihr müßtet ihn nun als nachhinkender Troß der Revolution erst nachträglich liefern. Der Geist hat es angebahnt und durchgeführt und wird's weiterführen, der unsern herrlichen, unsern gepeinigten, unsern nun befreiten und beglückten Soldaten, einer nicht allzu großen Schar Arbeiter und junger Leute und ihren Führern, unverwüstlichen Freiheitskämpfern unsterblicher Jugend, die ihr Utopisten gescholten habt, in die Hände und, wo es einen Augenblick not tat, in die Fäuste gefahren ist. Fürs Wesentliche aber waren Fäuste keineswegs nötig; es ging nach dem fürtrefflichen Rezept, das der jugendliche Präzeptor aller Revolutionäre, Etienne de la Boëtie, im 16. Jahrhundert gegen die Tyrannis verschrieben hat: Das Volk half den kleinen Schmarotzern nicht mehr gegen sich selbst; das Volk setzte seine Regierung ein und ignorierte die Anwesenheit der Privatpersonen, die sich für die Herrschenden hielten. Da des Volkes allzugroße Gnade nicht mehr bei ihnen war, hörte Gottes Gnade von selber auf. Was anderes soll denn diese humoristisch einfache Lösung eines Problems, das den Staats gelehrten und Politikern das schwerste Rätsel war, mit dem sie in jahrzehntelangem Kopfzerbrechen nicht fertig geworden wären, zustande gebracht haben, ihr Klugen, Witzlosen, Gebildeten und Professoren, als der Geist?
Die Revolution ist der sieghafte Geist, der endlich, endlich sich verwirklicht hat; und die Nachzügler, die so ungeduldig jetzt dabei sein möchten, wie sie vorher vom Schuß geblieben sind, die jetzt so eifrig nach der Nationalversammlung rufen, wie sie beflissen sind, ihren Parteien neue Firmenschilder aufzukleben, sollten bedenken, daß der Geist keine Lokalität ist, wo es am Platze ist, sich vorzudrängen, daß er eher magisch erfüllte Zeit ist: Stille, Demut, Besinnung; Warten auf sich selbst wird denen gut tun, die zurückgeblieben und also von der Revolution im wahren Sinne überrascht, überholt worden sind.
Das alte Reich ist tot, seine Dynastien sind nichts mehr, seine Regierungen sind zusammengestürzt, auch seine Parteien sind in Wahrheit tot. Als der Ruf erschütternd an die Gewissen ging, als es galt, Schuld zu bekennen und Reue zu üben, da haben sie sich totgestellt; jetzt, wo die Revolution gekommen ist, die ihnen niemals wie das alte System des Gewaltstaates Trog sein wird, möchten sie sich, um die Revolution zu erdrosseln und die Republik in scheindemokratische Herrschaft der Geriebenheit zu verwandeln, lebendig stellen.Sie appellieren an die Wählerei, an die Mehrheit derer, die noch nicht von der Revolution erfaßt sind, an das, was sie ihre Nationalversammlung nennen! Der Geist der Revolution aber vertritt immer die Gesamtheit: die Wirkungsmächtigen, die jetzt die Revolution durchgeführt haben und sie weiterführen sollen, vertreten genau das nämliche, was vorher die Propheten als ganz Vereinsamte vertreten haben; nicht eine zahlmäßige, zufällige Mehrheit der stets noch gegenwärtig scheinenden Vergangenheit, sondern das Kommende, das Werdende, das, was die Welt vorwärts bringt und beglückt, eine geschichtliche Gesamtheit und Gemeinschaft, die kommende Menschheit.
25. November ==1918==
Nachschrift vom 6. Dezember: Inzwischen hat der Schlendrian des Parteiwesens schnödeste Siege über die Revolution errungen, die sich auf ihren Lorbeeren verschnaufte; so wird also die weitergehende Revolution einen längeren und schwereren Weg haben.
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1919
Aufruf zum Sozialismus. Vorwort zur zweiten Auflage.
Die Revolution ist gekommen, die ich so nicht vorausgesehen habe. Der Krieg ist gekommen, den ich vorausgesehen habe; und in ihm habe ich dann frühzeitig schon Zusammenbruch und Revolution unaufhaltsam sich vorbereiten sehen.
Mit einer wahrhaft grenzenlosen Bitterkeit spreche ich aus: es zeigt sich, daß ich in allem Wesentlichen Recht hatte mit dem, was ich vor langer Zeit in diesem »Aufruf« und in den Aufsätzen meines »Sozialist« gesagt habe. Eine politische Revolution in Deutschland stand noch aus; nun ist sie gründlich vollbracht, und nur die Unfähigkeit der Revolutionäre beim Aufbau der neuen Wirtschaft vor allem und auch der neuen Freiheit und Selbstbestimmung könnte schuld sein, daß eine Reaktion käme und die Einnistung neuer Gewalten des Privilegs. Daß die marxistisch-sozialdemokratischen Parteien in ihren sämtlichen Tönungen unfähig zur politischen Praxis, zur Konstitution der Menschheit und ihrer Volkseinrichtungen, zur Begründung eines Reichs der Arbeit und des Friedens, und gleichermaßen unfähig zur theoretischen Erfassung der sozialen Tatsachen sind, haben sie überall aufs gräßlichste, im Krieg, vor ihm und nach ihm, von Deutschland bis Rußland, von der Kriegsbegeisterung bis zum geistlos unschöpferischen Schreckensregiment, zwischen welchen Wesensverwandtschaft ist und ja auch seltsamste Verbündung war, gezeigt. Wenn es aber wahr ist, wofür manche Nachricht und unsre nach Beseligung und Wunder zitternd verlangende Hoffnung spricht, daß russische Bolschewiki, in ähnlich schönem, aber noch sprengenderem Wachstum, wie es in Österreich Friedrich Adler, in Deutschland Kurt Eisner zeigen, über sich selbst, ihren theoretischen Doktrinarismus und die Ödigkeit ihrer Praxis emporgestiegen sind, daß in ihnen Föderation und Freiheit über Zentralismus und militärisch-proletarische Befehlsorganisation Herr geworden sind, daß sie schöpferisch geworden sind und der Industrieproletarier und Professor des Todes in ihnen vom Geist des russischen Muschik, vom Geist Tolstojs, vom ewig einen Geist besiegt worden ist, dann spricht das wahrlich nicht für den in ihnen überwundenen Marxismus, sondern für den himmlischen Geist der Revolution, der, unterm klammernden Griff und der schnellenden Schleuder der Notwendigkeit, in den Menschen, zumal den russischen Menschen, das Verschüttete freilegt und das heilig Verborgene zum Quellen und Rauschen bringt.
Der Kapitalismus ferner hat nicht die Entwicklungsfreundlichkeit geübt, sich langsam und brav in den Sozialismus umzuwandeln; er hat auch nicht das Wunder getan, in seinem platzenden Zusammenbruch den Sozialismus zu gebären. Wie sollte das Prinzip des Schlechten, des Drucks, der Beraubung und der Philisterroutine auch Wunder tun? Der Geist, der in diesen Zeiten, wo der Schlendrian bösartige Pest wird, Rebellion sein muß, der Geist tut Wunder; er hat sie getan, als er in einer Nacht die Verfassung des Deutschen Reiches änderte und aus einem unantastbar heiligen Staatsgebilde der deutschen Professoren eine Vergangenheitsepisode deutscher Kraut- und Schlotjunker machte. Der Zusammenbruch ist da; Rettung kann nur der Sozialismus bringen, der nun wahrlich nicht als Blüte des Kapitalismus erwachsen ist, sondern als Erbe und verstoßener Sohn vor der Türe steht, hinter der der Leichnam des unnatürlichen Vaters verwest; der Sozialismus, der nicht in einem Höhepunkt des Nationalreichtums und üppiger Wirtschaft als Feiertagsgewand über den schönen Leib der Gesellschaft gezogen werden kann, sondern im Chaos fast aus dem Nichts geschaffen werden muß. In Verzweiflung habe ich zum Sozialismus aufgerufen; aus der Verzweiflung habe ich die große Hoffnung und freudige Entschlossenheit geschöpft; die Verzweiflung, die ich und meinesgleichen im voraus in der Seele trugen, ist nun als Zustand da; möge denen, die jetzt sofort ans Werk des Bauens müssen, Hoffnung, Lust zum Werk, Erkenntnis und ausdauernde Schaffenskraft nicht fehlen.
Das alles, was hier vom Zusammenbruch gesagt wird, gilt in dem Maße für den Augenblick nur für Deutschland und die Völker, die, gern oder ungern, sein Schicksal geteilt haben. Nicht der Kapitalismus als solcher ist an seiner immanenten Unmöglichkeit, wie es hieß, in sich zusammengebrochen; sondern der mit Autokratie und Militarismus zusammengespannte Kapitalismus eines Ländergebiets ist von den liberaler verwalteten Kapitalismen eines andern, militärisch schwächeren, kapitalistisch stärkeren Gebiets in schließlichem Zusammenwirken mit dem vulkanisch losbrechenden Volkszorn im eignen Volk ruiniert worden. In welchen Formen der Zusammenbruch den andern, den klügeren Repräsentanten des Kapitalismus und Imperialismus kommt, und zu welchem Zeitpunkt, darüber möchte ich gar nichts voraussagen. Die sozialen Gründe, ohne die es nirgends eine Revolution gibt, sind überall da; das Bedürfnis nach politischer Befreiung aber, aus welchem heraus allein die Revolution sich einem Ziele zu bewegt und zu mehr wird als Aufruhr, ist in den einzelnen Ländern, die ihre demokratisch politischen Revolutionen gehabt haben, verschieden stark. So viel glaube ich zu sehen: je freier in einem Lande die politische Beweglichkeit, je größer die Anpassungsfähigkeit der Regierungseinrichtungen an die Demokratie ist, um so später und schwerer wird die Revolution kommen, um so entsetzlicher und unfruchtbarer wird aber auch das Ringen sein, wenn endlich soziale Not, Ungerechtigkeit und Würdelosigkeit das Phantom einer Revolution und in seinem Gefolge den allzu wirklichen Bürgerkrieg aus sich her austreiben, statt zum Aufbau des Sozialismus zu schreiten. Die Symptome, die sich vorerst in der Schweiz - in ekler Verfilzung freilich mit Krieg, Kriegsgeschäft, schweizerischem Kriegsersatz und nichtschweizerischer Kriegskorruption - gezeigt haben, sind deutlich genug für jeden, der schöpferisches Werk von hilflos grauenhaften Wildheiten und Zuckungen unterscheiden kann.
Denn Revolution kann es nur eine politische geben. Sie brächte es nicht zur Unterstützung durch geknechtete Massen, wenn aus ihnen nicht auch soziale Gedrücktheit und wirtschaftliche Not aufbegehrte; aber die Umwandlung der Gesellschaftseinrichtungen, der Eigentumsverhältnisse, der Wirtschaftsweise kann nicht auf dem Wege der Revolution kommen. Von unten kann da nur abgeschüttelt, zerstört, preisgegeben werden; von oben, auch von einer revolutionären Regierung kann nur aufgehoben und befohlen werden. Der Sozialismus muß gebaut, muß errichtet, muß aus neuem Geist heraus organisiert werden. Dieser neue Geist waltet mächtig und innig in der Revolution; Puppen werden zu Menschen; eingerostete Philister werden der Erschütterung fähig; alles, was feststeht, bis zu Gesinnungen und Leugnungen, kommt ins Wanken; aus dem sonst nur das Eigene bedenkenden Verstand wird das vernünftige Denken, und Tausende sitzen oder schreiten rastlos in ihren Stuben und hecken zum ersten Mal in ihrem Leben Pläne aus fürs Gemeinwohl; alles wird dem Guten zugänglich; das Unglaubliche, das Wunder, rückt in den Bereich des Möglichen; die in unsern Seelen, in den Gestalten und Rhythmen der Kunst, in den Glaubensgebilden der Religion, in Traum und Liebe, im Tanz der Glieder und Glanz der Blicke sonst verborgene Wirklichkeit drängt zur Verwirklichung. Aber die ungeheure Gefahr ist, daß Schlendrian und Nachahmung sich auch der Revolutionäre bemächtigen und sie zu Philistern des Radikalismus, des tönenden Worts und der Gewaltgebärde machen; daß sie nicht wissen und nicht wissen wollen: die Umwandlung der Gesellschaft kann nur in Liebe, in Arbeit, in Stille kommen.
Noch eines wissen sie nicht, trotz allen Erfahrungen vergangener Revolutionen. Die sind alle große Erneuerung, prickelnde Erfrischung, die hohe Zeit der Völker gewesen; aber was sie Bleibendes brachten, war gering; war schließlich nur eine Umwandlung in den Formen der politischen Entrechtung. Auch politische Freiheit, Mündigkeit, aufrechten Stolz, Selbstbestimmung und organisch-korporative Verbundenheit der Massen aus einigendem Geiste heraus, Bünde der Freiwilligkeit im öffentlichen Leben kann nur der große Ausgleich, kann nur die Gerechtigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft, kann erst der Sozialismus bringen. Wie sollte es in unsrer Ära, der vom christlichen Geiste her in den Gewissen die Gleichheit aller Menschenkinder nach Ursprung, Anspruch und Bestimmung feststeht, ein Gemeinwesen aus wahrhaften Gemeinden, wie sollte es ein freies, öffentliches Leben, durchwaltet von dem alles erfüllenden und bewegenden Geiste vorwärts befeuernder Männer und innig starker Frauen geben, wenn in irgendwelcher Form und Maskierung die Sklaverei, die Enterbung und Verstoßung aus der Gesellschaft besteht?
Die politische Revolution, in welcher der Geist an die Herrschaft, ans starke Gebot und entschiedene Durchsetzen kommt, kann dem Sozialismus, der Wandlung der Bedingungen aus erneuertem Geiste heraus, die Bahn freimachen. Aber durch Dekrete könnte man die Menschen höchstens als Staatsheloten in ein neues Wirtschaftsmilitär einreihen; der neue Geist der Gerechtigkeit muß selbst ans Werk gehn und muß sich seine Formen der Wirtschaft schaffen; die Idee muß die Erfordernisse des Augenblicks mit ihrem weiten Blick umspannen und mit ballender Hand gestalten; was bisher Ideal war, wird in der aus der Revolution geborenen Erneuerungsarbeit Verwirklichung.
Die Not zum Sozialismus ist da; der Kapitalismus bricht zusammen; er kann nicht mehr arbeiten; die Fiktion, daß das Kapital arbeite, zerplatzt zu Schaum; was den Kapitalisten einzig zu seiner Art Arbeit lockt, zum Risiko des Vermögens und zur Leitung und Verwaltung von Unternehmungen, der Profit winkt ihm nicht mehr. Die Zeit der Rentabilität des Kapitals, die Zeit des Zinses und Wuchers ist vorbei; die tollen Kriegsgewinne waren sein Totentanz; sollen wir nicht zugrunde gehn in unserm Deutschland, wirklich und wortwörtlich zugrunde gehn, kann Rettung nur bringen die Arbeit, wahrhafte, von gierlosem, arbeitsbrüderlicbem Geist erfüllte, geführte, organisierte Arbeit, Arbeit in neuen Formen und befreit von dem ans Kapital zu leistenden Tribut, rastlos Werte schaffende, neue Wirklichkeiten schaffende Arbeit, welche die Erzeugnisse der Natur dem menschlichen Bedarf gewinnt und verwandelt. Das Zeitalter der Produktivität der Arbeit hebt an; oder wir sind am Ende. Uralt bekannte und neu entdeckte Naturkräfte hat die Technik in den Dienst der Menschheit gestellt; je mehr Menschen die Erde bestellen und ihre Produkte umformen, um so mehr gibt sie her; die Menschheit kann würdig und sorgenlos leben, keiner braucht Sklave der andern, keiner verstoßen, keiner enterbt zu sein; keinem braucht das Mittel zum Leben, die Arbeit, zur Mühsal und Plage zu werden; alle können dem Geiste, der Seele, dem Spiel und dem Gotte leben. Die Revolutionen und ihre peinlich lange, drückende Vorgeschichte lehren uns, daß nur die äußerste Not, nur das Gefühl des letzten Augenblicks die Massen der Menschen zur Vernunft bringt, zu der Vernunft, welche Weisen und Kindern allezeit Natur ist; auf welche Schrecknisse, auf welche Ruinen, auf welche Nöte, Landplagen, Seuchen, Feuersbrünste und Greuel der Wildheit sollen wir warten, wenn nicht in dieser Schicksalsstunde den Menschen die Vernunft, der Sozialismus, Führung des Geistes und Fügung in den Geist kommt?
Das Kapital, das bisher der schmarotzende Genießer und der Herr war, muß der Diener werden; der Arbeit Dienst leisten kann nur ein Kapital, das Gemeinschaft, Gegenseitigkeit, Gleichheit des Tausches ist. Steht ihr immer noch hilflos vor dem Selbstverständlichen und Kinderleichten, leidende Menschen? Auch in dieser Stunde der Not, die euch im Politischen eine Stunde der Tat war? Bleibt ihr immer noch die durch die Gabe der Vernunft dumm gewordenen, instinktverlassenen Tiere, die ihr so lange waret? Seht ihr immer noch nicht den Fehler, der einzig in eurer zum Himmel schreienden Großprahlerei und Herzensträgheit liegt? Was zu tun ist, ist klar und einfach; jedes Kind versteht es; die Mittel sind da ; wer um sich siebt, weiß es. Das Gebot des Geistes, der die Führung in der Revolution hat, kann durch große Maßnahmen und Unternehmungen helfen; fügt euch dem Geiste, kleine Interessen dürfen nicht hindern. Aber dem Durchsetzen ins Große und Ganze hinein stehen die Schuttberge im Wege, die von der Niedertracht des Bisher auf die Zustände und zumal auf die Seelen der Massen getürmt worden sind; ein Weg ist frei, freier als je, Revolution und Einsturz helfen: im Kleinen und in Freiwilligkeit zu beginnen, sofort, allenthalben, du bist gerufen, du mit den Deinen!
Sonst ist das Ende da: dem Kapital wird die Rente genommen, von den wirtschaftlichen Zuständen, von den Staatserfordernissen, von den internationalen Verpflichtungen; Schuld eines Volks an den Völkern und an sich selbst äußert sich finanzpolitisch immer in Schulden. Das Frankreich der großen Revolution hat sich von den Schulden des alten Regimes und den eigenen Finanzwirren wunderbar erholt durch den großen Ausgleich, der mit der Verteilung der Ländereien eintrat, und durch die Arbeits- und Unternehmungslust, wie sie die Befreiung aus den Fesseln gebracht hat. Unsre Revolution kann und soll Ländereien in großem Maße verteilen; sie kann und soll ein neues und erneuertes Bauerntum schaffen; aber sie kann dem Kapital gewiß keine Arbeits- und Unternehmungslust bringen; für die Kapitalisten ist die Revolution nur das Ende des Kriegs: Zusammenbruch und Ruin. Ihnen, ihren Industriellen und Händlern, fehlt nicht nur die Rente; es fehlen ihnen und werden ihnen fehlen die Rohstoffe und der Weltmarkt. Und überdies ist der negative Bestandteil des Sozialismus da und kann durch nichts mehr aus der Welt geschafft werden: die völlige, von Stunde zu Stunde wachsende Abneigung der Arbeiter, ja ihre seelische Unfähigkeit, ferner sich unter den Bedingungen des Kapitalismus zu verdingen.
Der Sozialismus also muß gebaut werden; mitten im Zusammenbruch, aus den Bedingungen der Not, der Krise, der Augenblicksvorkehrungen heraus muß er ins Werk gesetzt werden. In den Tag und in die Stunde hinein werde ich jetzt sagen, wie aus der größten Not die größte Tugend, wie aus dem Einsturz des Kapitalismus und aus der Notdurft lebendiger Menschenmassen die neuen Arbeitskörperschaften errichtet werden müssen; ich werde nicht verfehlen, denen, die sich heute mehr als je für die einzigen Arbeiter halten, den Proletariern der Industrie, ihre Beschränktheit, die wilde Stockung, Unwegsamkeit und Unfeinheit ihres Geistes und Gefühlslebens, ihre Verantwortungslosigkeit und Unfähigkeit zur positiv wirtschaftlichen Organisation und zur Leitung von Unternehmungen vorzuhalten; denn damit, daß man die Menschen von Schuld freispricht und als Geschöpfe der sozialen Bedingungen erklärt, macht man diese Produkte der Gesellschaft nicht anders als sie sind; nicht mit den Ursachen der Menschen soll die neue Welt aufgebaut werden, sondern mit ihnen selbst. Ich werde nicht versäumen, die Beamten des Staats, der Gemeinden, der Genossenschaften und großen Werke, technische und kaufmännische Angestellte und Leiter, die Ehrenhaften und nach Erneuerung Begehrenden unter den vielen jetzt in diesen Rollen überflüssig gewordenen Unternehmern, Juristen, Offizieren zur bescheidenen, sachgetreuen, eifrigen, vom Geist der Gemeinschaft wie der persönlichen Originalität getriebenen Mithilfe aufzurufen. [1] Ich werde mich aufs schärfste gegen die papierene Falschmünzerei des Staats wenden, die jetzt Geldwesen heißt, und zumal gegen die von diesem sogenannten Geld besorgte Entlohnung der Arbeitslosigkeit, wo doch jeder Gesunde, gleichviel welchen Beruf er bisher ausgeübt hat, sich am Aufbau der neuen Wirtschaft, an der Rettung in größter Gefahr beteiligen muß, wo gebaut und gepflanzt werden muß, so viel und so gut nur irgend geschehen kann; ich werde die Benutzung der jetzt leer laufenden Militärbürokratie empfehlen, damit die Arbeitslosen des Kapitalismus an die Stellen geführt werden, wo die Notwirtschaft, welche eine Heilswirtschaft werden muß, sie braucht; nach der stärksten revolutionären Energie rufe ich, welche die Rettung und den Sozialismus der Wirklichkeit anbahnen soll. An dieser Stelle sei nur im vorhinein zusammengefaßt: was ich in dem Aufruf, der hier folgt, und in den Aufsätzen meines »Sozialist«, die zur Ergänzung dazu gehören (1909-1915), immer wieder gesagt habe: daß der Sozialismus in jeder Form der Wirtschaft und Technik möglich und geboten ist; daß er nicht an Weltmarktgroßindustrie gebunden ist, daß er die industrielle und kaufmännische Technik des Kapitalismus so wenig brauchen kann wie die Gesinnung, aus der diese Mißform sich gebildet hat; daß er, weil er anfangen muß und die Verwirklichung des Geistes und der Tugend nie massenhaft und normal, sondern nur als Aufopferung der wenigen und Aufbruch der Pioniere kommt, aus kleinen Verhältnissen, aus Armut und Arbeitsfreude heraus sich von der Verworfenheit loslösen muß; daß wir um seinetwillen, um unsrer Rettung und um des Erlernens der Gerechtigkeit und Gemeinschaft willen zur Ländlichkeit zurückkehren müssen und zu einer Vereinigung von Industrie, Handwerk und Landwirtschaft; was Peter Kropotkin uns von den Methoden der intensiven Bodenbestellung und der Arbeitsvereinigung, auch der Vereinigung geistiger Arbeit mit Handarbeit in seinem jetzt eminent wichtigen Buche »Das Feld, die Fabrik und die Werkstatt« gelehrt hat; die neue Gestalt der Genossenschaft und des Kredits und des Geldes: all das muß jetzt in dringendester Not, kann jetzt in zeugender Lust bewährt werden; die Not erfordert, in Freiwilligkeit, aber unter der Drohung des Hungers, den Aufbruch und Aufbau, ohne den wir verloren sind.
Ein letztes Wort noch, das ernsteste. Wie wir aus der größten Not die größte Tugend, aus der Notstandsarbeit der Krise und des Provisoriums den anhebenden Sozialismus zu machen haben, so soll uns auch unsre Schmach zur Ehre gereichen. Fern bleibe uns die Frage, wie unsre sozialistische Republik, die aus Niederlage und Zusammenbruch ersteht, unter den siegreichen Völkern, unter den Reichen, die zur Stunde noch dem Kapitalismus verschrieben sind, den Reichen der Reichen dastehen wird. Betteln wir nicht, fürchten wir nichts, schielen wir nicht; halten wir uns wie ein Hiob unter den Völkern, der in Leiden zur Tat käme; von Gott und der Welt verlassen, um Gott und der Welt zu dienen. Bauen wir unsre Wirtschaft und die Einrichtungen unsrer Gesellschaft so, daß wir uns unsrer harten Arbeit und unsres würdigen Lebens freuen; eins ist gewiß: wenn's uns in Armut gut geht, wenn unsre Seelen froh sind, werden die Armen und die Ehrenhaften in allen andern Völkern, in allen, unserem Beispiel folgen. Nichts, nichts in der Welt hat so unwiderstehliche Gewalt der Eroberung wie das Gute. Wir waren im Politischen zurückgeblieben, waren die anmaßendsten und herausforderndsten Knechte; das Unheil, das sich daraus für uns mit Schicksalsnotwendigkeit ergab, hat uns in Empörung gegen unsre Herren getrieben, hat uns in die Revolution versetzt. So sind wir mit einem Schlage, mit dem Schlag, der uns traf, zur Führung gekommen. Zum Sozialismus sollen wir führen; wie anders könnten wir führen als durch unser Beispiel? Das Chaos ist da; neue Regsamkeit und Erschütterung zeigt sich an; die Geister erwachen; die Seelen heben sich zur Verantwortung, die Hände zur Tat; möge aus der Revolution die Wiedergeburt kommen; mögen, da wir nichts so sehr brauchen als neue, reine Menschen, die aus dem Unbekannten, dem Dunkel, der Tiefe aufsteigen, mögen diese Erneuerer, Reiniger, Retter unserm Volke nicht fehlen; möge die Revolution lange leben und wachsen und sich in schweren, in wundervollen Jahren zu neuen Stufen steigern; möge den Völkern aus ihrer Aufgabe, aus den neuen Bedingungen, aus dem urtief Ewigen und Unbedingten der neue, der schaffende Geist zuströmen, der erst recht neue Verhältnisse erzeugt; möge uns aus der Revolution Religion kommen, Religion des Tuns, des Lebens, der Liebe, die beseligt, die erlöst, die überwindet. Was liegt am Leben? Wir sterben bald, wir sterben alle, wir leben gar nicht. Nichts lebt, als was wir aus uns machen, was wir mit uns beginnen; die Schöpfung lebt; das Geschöpf nicht, nur der Schöpfer. Nichts lebt als die Tat ehrlicher Hände und das Walten reinen wahrhaften Geistes.
1919
[1] Diese Worte seien nachträglich dem Andenken des Bergwerkdirektors Jokisch gewidmet, der, von dem Geist der Revolution erfaßt, frei in den Tod gegangen ist. Er mag ein Konservativer gewesen sein, er mag geglaubt haben, mit seinem Tod gegen den »Sozialismus« zu wirken; was er tat, war Revolutionswerk in dem Sinne, daß die Revolution das beste und verborgenste Urindividuelle weckt und dem ganz Allgemeinen frei und heroisch hingibt. Warum er sein Leben aufgab, hat dieser Mann klar denkend und innig entschlossen in dem folgenden Vermächtnis kundgetan:
"An die oberschlesischen Berg- und Hüttenleute! Nachdem wir uns vergeblich bemüht haben, Euch durch Worte zu belehren, habe ich mich entschlossen, es durch eine Tat zu versuchen. Ich will sterben, um Euch zu beweisen, daß die Sorgen, die Ihr über unser beneidetes Dasein verhängt, schlimmer sind als der Tod. Wohlgemerkt also: Ich opfere mein Leben, um Euch darüber zu belehren, daß Ihr Unmögliches fordert. Die Lehren, die ich Euch aus dem Grabe zurufe, lauten: Mißhandelt und vertreibt Euere Beamten nicht. Ihr braucht sie und findet keine anderen, die bereit sein werden, mit Wahnsinnigen zu arbeiten. Ihr braucht sie, weil Ihr den Betrieb ohne Leiter nicht führen könnt. Fehlen die Leiter, dann erliegt der Betrieb, und Ihr müßt verhungern. Mit Euch Euere Frauen, Euere Kinder und Hunderttausende unschuldiger Bürger. Die eindringliche Mahnung, die ich an Euch richte, ruft Euch zu eifriger Arbeit. Nur, wenn Ihr mehr arbeitet als vor dem Krieg und Euere Ansprüche bescheidener werden, könnt Ihr auf Zufluß von Lebensmitteln und auf erträgliche Preise rechnen. Da ich für Euch in den Tod gegangen bin, schützt meine Frau und meine lieben Kinder und helfet ihnen, wenn sie durch Euere Torheiten in Not geraten.
Borsigwerk, 11. Januar 1919. Jokisch«.
Rede über die Sicherung der Revolution.
Nach der Ermordung Kurt Eisners am 21. Februar war in München eine Reihe von Geiseln aus den Kreisen festgesetzt worden, die wir mit Grund glaubten der gegenrevolutionären Bewegung zurechnen zu können. Die Leute wurden in einem der ersten Münchener Hotels untergebracht, genossen großes Entgegenkommen und wurden mit äußerster Rücksicht behandelt. Trotzdem stellten die Sozialdemokraten im Rätekongreß schon am 6. März den Antrag, die verhafteten Geiseln bedingungslos freizulassen. Dieser Dringlichkeitsantrag Dr. Süßheim wurde auch gegen unseren heftigen Widerspruch angenommen. Hier folgt, unter Auslassung völlig bedeutungsloser Zwischenbemerkungen, Landauers Rede gegen den Antrag.
[...] Erstens: Die Festnahme von Geiseln in kritischen Lagen der Gesellschaft ist schon immer vorgekommen. Zweitens wäre es doch lächerlich zu sagen, daß wir in einer geordneten Gesellschaft leben. Wer hindert uns daran ? Wir sind noch sehr unter der Gefahr der Gegenrevolution. Ich wehre mich dagegen Ich bin dafür, daß man sich dagegen wehrt, solange die Gefahr besteht, solange es nötig ist. [...] Man könnte vorschlagen, der Zentralrat solle über die Festnahme der Geiseln, über die Personen, die in Betracht kommen, und über den ganzen Stand der Sache Bericht erstatten. [...] Uns muß der Zentralrat zunächst einmal sagen, ob nicht Gefahr in Verzug ist, wenn wir die Geiseln jetzt entlassen. (Sehr richtig!) Ich weiß davon nichts, ich will darüber Bericht erstattet haben. So viel weiß ich aber, daß das Wort, das der frühere Kriegsminister Hellingrath zu einem gesagt hat, der in Schutzhaft genommen wurde: »Jetzt geht es hart gegen hart«, höchstwahrscheinlich in dem Kampfe gegen die Gegenrevolution auch für uns noch gelten muß. Eisners Ermordung ist nicht gesühnt. Wir wissen aber, daß Herr Graf Arco aller Wahrscheinlichkeit nach Bundesgenossen in den Kreisen der Aristokratie, des Studententums und Offiziertums gehabt hat, daß es sich um ein Komplott, eine Verschwörung handelte. Wir wissen noch nicht einmal, ob es zu einer richtigen Vernehmung dieses jungen Mannes gekommen ist, wir wissen über seine Aussagen gar nichts in diesem Moment. Ohne etwas zu wissen, an unser Mitleid zu appellieren: »Laßt die Geiseln frei«, halte ich nicht für richtig. Wir müssen erst wissen, wie wir dran sind, und dann können wir es uns reiflich überlegen. Soviel muß man mit dem proletarischen Empfinden mitzuempfinden vermögen, um sein Mitleid nicht an diese Kreise Kreß von Kressenstein usw. zu verschwenden. Wenn irgend einmal der Zeitpunkt käme, der kann wohl kommen, daß durch die Verhältnisse arme Bourgeois, die bisher reiche Bürger waren, genötigt wären, die Straße zu kehren, Kanäle zu räumen, ich sage: durch die Verhältnisse genötigt, dann wäre es wohl möglich, daß jemand, der gar nicht mehr imstande ist, mit Proletariern mitzuempfinden, zunächst sein Mitleid dahin ergießt. Ich würde sagen, ich habe schon immer Mitleid gehabt mit den Proletariern, die dazu genötigt waren, Jahre und Jahrzehnte hindurch, und ich habe Mitleid mit den Opfern der Gesellschaft, seien sie Diebe, Betrüger, Gauner irgendwelcher Art, mit den Opfern unserer sozialen Zustände, die in Gefängnissen schmachten, die Gewohnheitsverbrecher wurden, und wenn ich dann noch ein Tröpfchen Mitleid übrigbehalte, was ich jetzt noch nicht weiß, kann ich auch Mitleid haben mit Kreß von Kressenstein, Buttmann und dem Verlagsbuchhändler Lehmann, die jetzt als Geiseln genommen wurden. Vorläufig habe ich zu diesem Mitleid noch nicht Platz in meinem sonst ziemlich geräumigen Herzen, weil mir das Herz bricht vor Mitleid über das Elend der Proletarier, über das Elend der Erwerbslosen. (Stürmischer Beifall und Händeklatschen)
Solange wir nicht wissen, daß wir nicht mehr bedroht sind, solange wir noch immer Kampf zu führen haben gegen eine unbekannte und unbenannte Sippe von Aristokraten, Bourgeois und Verschwörern, können wir dem Zentralrat nicht in den Arm fallen, sondern müssen ihm sagen: Wenn du etwas zu sagen hast über den Stand der Untersuchung, so sage es uns! Aber wir dürfen nicht einfach aus Entrüstung, weil es nicht bourgeoismäßig zugeht, weil es nicht üblich ist, sagen, das wird nicht mehr geduldet, jetzt kommt der Landtag, der geordnete Zustand. Wir können jetzt in keinem geordneten Zustande sein, wir sind von Mord, Totschlag, Heimtücke durchaus bedroht. Solange die Leute im Bayerischen Hof waren - jetzt sollen sie nach Stadelheim gekommen sein, ich weiß es nicht sicher -, haben sie es wahrhaftig nicht schlecht gehabt. Man hat sogar behauptet, der Hotelier, der Besitzer des Bayerischen Hofs, hätte den Soldaten, die ihm diese Gäste ins Haus brachten, Provision versprochen, wenn sie nur recht viele bringen. (Heiterkeit.) Dies Geschichtchen ist jedenfalls ein Beweis, daß die Leute dort ein sehr reichliches und keineswegs ärmliches Leben führten. Wenn die jetzt einmal an Stelle von soundsovielen unschuldigen Proletariern Stadelheim kennenlernen, das Eisner, Unterleitner und seine Genossen Monate und Monate hindurch kennenlernten, auch als Unschuldige, so sage ich wahrhaftig nicht: Das ist Rache. Mir ist Rachetrieb fern. Ich sage, es kann so sein, daß der freie Volksstaat Bayern jetzt noch in der Notlage ist, bestimmte Personen zu behalten, weil die eigentlichen Verschworenen uns noch unbekannt sind, sich im Hintergrunde halten. Soll doch einer von diesen Aristokraten kommen und sagen: Ich stelle mich als einer, der sich gegen den Bestand des freien Volksstaates Bayern verschworen hat, gebt dafür den, der mit der Sache nichts zu tun hat, frei! (Rufe: Sehr richtig!) Bisher ist noch keiner gekommen, bisher hat sich noch kein einziger gemeldet von den vielen Hunderten, die in Garmisch-Partenkirchen, die allüberall an den schönsten Seen, in den schönsten Gegenden Bayerns sich verschworen, die da ihre Komplotte geschmiedet haben. Wir werden noch dahinterkommen und die Richtigen fassen; dann werden die, die unschuldig leiden, ohne Zweifel freigelassen werden. Jetzt, wo wir noch in der Krise, im Übergange sind, wo noch gar nichts entschieden ist, einfach zu sagen, ohne daß wir irgend etwas wissen: Zunächst müssen einmal die Geiseln frei werden, so wie zunächst einmal die Pressefreiheit wiederhergestellt werden muß, Pressefreiheit im alten bürgerlichen Sinne, ist unerhört. (Zurufe.) Worüber ich mich errege, ist, daß ich weiß, daß es sich bei diesem Antrage Süßheim um eine Abmachung mit dem bürgerlichen Landtage in Bamberg handelt. (Hört, hört! und Zurufe.) Ich weiß, daß in Bamberg von den bürgerlichen Parteien gefordert wurde, erstens, die Geiseln müssen wieder frei werden, zweitens, das alte kapitalistische Pressemonopol - so hat man sich natürlich nicht ausgedrückt, man hat natürlich gesagt: Pressefreiheit - muß wiederhergestellt werden. (Hört, hört!)
Das ist der erste Antrag Süßheim, der hier als Vertreter des bürgerlichen Bamberger Parlamentes auftritt. (Beifall und Händeklatschen.) (Widerspruch des Dr. Süßheim.) (Zurufe.) [...] Vorhin war ich gereizt, obwohl ich persönlich nicht angegriffen war. Ich lasse mich durch die Sache reizen. Ich erkläre, mein Eindruck ist der, daß das der erste dieser Anträge ist. Hintennach kommt dann die Wiederherstellung der bürgerlichen Pressefreiheit; denn diese ist auch den bürgerlichen Parteien versprochen worden, noch ehe man die Unabhängigen zur Verhandlung gerufen hat. (Rufe: Hört, hört!) Man hat vorher mit de n Bürgerlichen verhandelt, so war die Sache, und in diesen Zusammenhang hinein gehört der Antrag, jetzt gleich vor allen Dingen wieder einmal für ein geordnetes Staatswesen zu sorgen und die Geiseln freizulassen. Für ein geordnetes Staatswesen sollen die sorgen, die uns Unordnung in unseren freien Volksstaat, in die Entwicklung unserer Republik hineintragen. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.)
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Willkommen
Hier wird versucht ein ganzheitliches Verständnis des Lebens und Werkes Gustav Landauers (1870 - 1919) zugewinnen. Literatur und Philosophie, politische Betrachtungen und Aktionen bei Gustav Landauer sollen unter dem Aspekt der Befreiung von einer ekelerregend empfundenen Gegenwart interpretiert werden. Die gesellschaftlichen und politischen Zustände des deutschen Kaiserreiches, sowie sich dagegen auflehnende sozialistische Perspektiven wurden von Landauer stets unter diesen Aspekt berücksichtigt. Bereits in seiner frühen "Utopie", die wir im Roman "Der Todesprediger" (1893) finden, wird die bürgerliche Ordnung im Zusammenhang der "socialen Frage" literarisch behandelt. Landauers frühe politische Aktivität - bis zum ersten Gefängnisaufenthalt - berücksichtigte die "sociale Frage" aber nicht nur literarisch. Auch nationalökonomische, philosophische und religiöse Thematiken wurden unter Berücksichtigung dieser Frage behandelt. Diese komplexen Zusammenhänge sollen hier herausgearbeitet und unter dem Begriff des Kulturoptimismus zusammengefaßt werden. Dabei wurde die Entstehung der anarchistischen Zeitung "Der Sozialist" ebenso berücksichtigt, wie die dort von Landauer veröffentlichen Artikel. Aber auch die Zeitschriftenaufsätze, die Landauer bis zum Erscheinen des sogenannten ersten Sozialist schrieb - u. a. der wichtige Artikel "Religiöse Erziehung" - wurden herangezogen.
Gustav Landauers früher Befreiungsversuch konkretisierte sich mit den eben angesprochenen Umständen. In seiner politisch aktiven Berliner Zeit kristalisierte sich ihm eine antipolitische Sichtweise heraus. Der antipolitische Befreiungsversuch, welcher von der Sozialdemokratie nicht mehr angestrebt werden konnte, versetzte Landauer in die Situation libertäre Gedanken auszuformulieren. So konnte er beispielsweise für genossenschaftliche Produktionsstätten eintreten, die, am technischen Fortschritt!, den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Menschen orientiert, wirtschaften. Die "sociale Frage" wurde libertär, und deswegen nicht bürgerlich - sozialdemokratisch, verstanden. Da sich der deutsche Arbeiter aber weitgehend an der marxistischen Sozialdemokratie orientierte, war er nicht an freiheitlichen Entwürfen interessiert. Unter diesen Bedingungen versuchte Landauer die Hindernisse aufzeigen, welche seinem Versuch der Arbeiterschaft libertäre Ideen zuvermitteln, entgegenstanden. In welchen Ketten befanden sich die vom bürgerlichen Staat und der Sozialdemokratischen Partei vereinnahmten Arbeiter? Gustav Landauer fand diese allgemeinen Irrtümer im Parlametarismus und der materialistischen Geschichtsschreibung. Die marxistische Geschichtsschreibung wird in dieser Abhandlung als Ausdruck dogmatischen Denkens verstanden, welche der anarchistischen Denkweise und der damit zuverwirklichenden libertären Gesellschaft entgegensteht. Dasselbe gilt für den Parlamentarismus. Dogmatisches und Anarchistisches Denken bei Gustav Landauer werden hier ebenfalls mit den Artikeln des "Sozialist", und den zuvor veröffentlichten Aufsätzen aufgezeigt. Damit findet der oben benannte Zusammenhang von Literatur, Philosophie und Politik eine notwendige Vertiefung.
Diesen Zusammenhang herauszuarbeiten, scheint mir wichtig. Der erste Teil dieser Untersuchung, der Leben und Werk Landauers bis zu seinem zweiten Gefängnisaufenthalt berücksichtigt, möchte die Grundlagen für ein vertieftes Verständnis der nach der Jahrhundertwende erschienen Artikel und Schriften, und den späten politischen Aktivitäten, legen. Der rote Faden der durch sein gesamtes Werk geht, ist, so meine ich, der Befreiungswille von einer menschenunwürdig empfundenen Gesellschaftsform, sowie Landauers humanistischer Anspruch die Verwirklichung der libertären Gesellschaftsordnung ernstzunehmen. Landauer gewichtete die Befreiung und die gesellschaftliche Utopie in seinen vielfaltigen Leben unterschiedlich. Ob er aber nun das antipolitische, das künstlerische, oder später das Mystische (als notwendiges Resultat seiner vorhergehenden Lebenserfahrung) in den Vordergrund stellt: Immer sind die, in dieser Abhandlung aufzuzeigenden und mit dem Kulturoptimismus bezeichneten Zusammenhänge, vorhanden. Dieses macht sein Werk, vor allem im Zeitalter der Spezialwissenschaften, wo das Ganzheitliche oft schwerzlich vermißt (und in verfehlten Perspektiven gesucht wird) so spannend. Vielleicht kann dieser Text dem geneigten Leser von dieser revolutionären Utopie etwas vermitteln?
Bildrechte: T. Ruprecht
1. 1885 - 1892 Studenten Zeit und frühe Literaten Zeit in Berlin 2. 1892 - 1894 Frühe politische Aktivität und erste Gefängnisbesinnung 3. 1895 - 1899
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